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Antisemitismus: Das provinzielle Argument des Felix Klein

In einem Interview behauptet der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein, „Israel Apartheid zu unterstellen“, sei ein „antisemitisches Narrativ“. Mit der Pauschalität dieser Aussage denunziert Klein unzählige Personen und Organisationen weltweit, die sich für einen gerechten Frieden in Israel-Palästina einsetzen. Er verwässert den Begriff des Antisemitismus bis zur Unkenntlichkeit und erweist unserem täglichen Kampf gegen den tatsächlichen Antisemitismus einen Bärendienst.

Anfang August gab der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein dem Springer-Medium Welt am Sonntag ein Interview. Die beiden Interviewer kamen recht schnell zum Thema Israel und zitieren aus einem Artikel von Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), in dem es heißt, „Prima facie begeht Israel in den besetzten Gebieten das Verbrechen der Apartheid, das als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft ist.“, um dann zu fragen: „Warum müssen wir das finanzieren?“ Kleins Antwort: „Israel Apartheid zu unterstellen, delegitimiert den jüdischen Staat und ist daher ein antisemitisches Narrativ, an dessen Verwendung Kritik geübt werden kann und soll.“

Klein begründet seine keineswegs schlüssige Behauptung, „Israel Apartheid zu unterstellen“, würde „den jüdischen Staat“ delegitimieren, nicht. Das Verbrechen der Apartheid, wie es erstmals in der „Rassendiskriminierungskonvention“ von 1965 verurteilt wurde, ist ein völkerrechtlicher Straftatbestand. Wie der Vorwurf an einen Staat, eine Straftat zu begehen, diesen Staat als solches delegitimieren würde, ist nicht ersichtlich, und Klein hält es nicht für nötig, seine Äußerung zu erläutern. Kleins Schlussfolgerung aus dieser sonderlichen Argumentation entbehrt dann auch jeder Grundlage: Der Apartheid-Vorwurf sei im Israel-Kontext ein „antisemitisches Narrativ“.

Überall Antisemiten

Die kanadische Friedensorganisation CJPME führt „eine aktualisierte (doch nicht vollständige) Liste namhafter Organisationen und Persönlichkeiten“, die sich in Bezug auf Israel den Apartheid-Begriff zu eigen machen. Die Liste beginnt mit einer UN-Kommission und verschiedenen UN-Sonderberichterstatter*innen. Es folgen Hunderte palästinensische Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften und NGOs sowie Dutzende israelische Gruppen, die zum Urteil Apartheid gelangen. Dem folgen namibische und südafrikanische Regierungsorgane und Persönlichkeiten, die in ihren Ländern selbst unter Apartheid litten, Tausende international renommierte Akademiker*innen, Hunderte israelische Juraprofessor*innen, Ban Ki-moon, die Presbyterianische Kirche in den USA, die Church of Sweden, die UK Labor Party conference sowie eine Vielzahl kanadischer Personen, Kirchen und Organisationen wie Black Lives Matter Canada und viele weitere israelische und internationale Gruppen und bekannte Persönlichkeiten.

Jüdinnen und Juden in den USA bilden mit rund 7,6 Millionen die mit Abstand größte jüdische Community außerhalb Israels. In der CJPME-Liste wird auch eine landesweite Umfrage unter jüdischen Wähler*innen in den USA von 2021 aufgeführt. Diese ergab, dass ein Viertel (25 Prozent) der Befragten der Aussage zustimmten, „Israel ist ein Apartheidstaat.“. Bei den unter 40-Jährigen sind es deutlich über ein Drittel (38 Prozent). Eine in Israel und Palästina durchgeführte Umfrage ebenfalls von 2021 ergab, dass 25 Prozent der befragten jüdischen Israelis den Begriff „Apartheid“ für zutreffend halten. Unter den Palästinenser*innen sind es demnach 75 Prozent und in Israel-Palästina als Gesamtpopulation sind es 45 Prozent.

Jüngst machte der offene Brief „The Elephant in the Room“ Schlagzeilen, in dem bis heute 1.903 zum Großteil jüdische Akademiker*innen, Geistliche und Personen des öffentlichen Lebens Israel das Verbrechen der Apartheid vorwerfen. Die Unterzeichnenden finden sich quer über das politische Spektrum wieder, reichen von selbsternannten „Zionisten“ auf der politischen Rechten wie dem Historiker Benny Morris bis zum Soziologen Moshe Zuckermann linksaußen.

Angesichts der Pauschalität von Kleins im Welt-Interview getätigterAussage ist es folgerichtig anzunehmen, der Antisemitismus-Beauftragte sei der Auffassung, all diese Personen und Gruppen auf der CJPME-Liste und dem offenen Brief, selbst die Millionen jüdischen Menschen in Israel-Palästina und den USA, würden „antisemitischen Narrativen“ anhängen oder diese verbreiten. Um Klein die Möglichkeit zu geben, seine Aussage zu konkretisieren, fragte ich ihn per Mail, ob er tatsächlich der Ansicht sei, die Unterzeichnenden des Elephant-in-the-Room-Briefes sowie sämtliche Personen und Organisationen der CJPME-Liste würden „antisemitische Narrative“ vertreten. „Herr Dr. Klein hat sich in seinem jüngsten Interview, auf das Sie in Ihrer Anfrage Bezug nehmen, umfassend geäußert“, so eine Mitarbeiterin aus seinem Büro. „Diesen Äußerungen ist aktuell nichts hinzuzufügen.“ Da Klein im Interview an keiner anderen Stelle auf den Apartheid-Vorwurf Bezug nimmt, muss daher tatsächlich die pauschale Gültigkeit seiner Aussage angenommen werden.

Auch die israelische Tageszeitung Haaretz zeigt sich einmal mehr verwundert über Klein und titelte kurz nach Erscheinen des Interviews: „Deutscher Antisemitismus-Zar sagt, Israel ‚Apartheid‘ zu nennen ist antisemitisch“. Auch Haaretz fragte im Büro von Klein nach und die weltweit Impact-stärkste israelische Zeitung erhielt dieselbe Antwort: Klein habe sich „ausführlich geäußert und seinen Standpunkt sehr deutlich gemacht, daher gibt es dem, was er bereits gesagt hat, nichts mehr hinzuzufügen“.

Provinzielle Argumentation

Kleins Berufsbezeichnung trägt den Begriff „Antisemitismus“ im Namen, weshalb es fair ist anzunehmen, er verfüge über eine Expertise auf diesem Feld und sei sich über Forschungsstand und internationale Debatte zum Thema im Klaren. Mit seiner pauschalen Behauptung, der Apartheid-Vorwurf sei ein „antisemitisches Narrativ“, zeigt Klein hier jedoch, wie typisch deutsch und provinziell seine Argumentation ist. Außerhalb eines sehr eng gesetzten deutschen Diskurses und darüber hinaus bei Personen, die sich bedingungslos vor die israelische Regierung stellen, werden derartige Behauptungen kaum noch vertreten. Bei zum Thema kompetenten Personen stellen sich eher Unverständnis und Kopfschütteln ein.

Auf Jewish Currents, ein erstmals 1946 in den USA herausgebrachtes linkes jüdisches Magazin, erschien unter dem Titel „Die seltsame Logik der deutschen Antisemitismus-Bürokraten“ jüngst ein lesenswertes 7.000-Wort-Essay über Klein und das „Heer von Antisemitismus-Beauftragten“ im Land. Deren „Verpflichtung auf die Verteidigung Israels“, schreibt Autor Peter Kuras, erfordere „sowohl die Disziplinierung jüdischer Kritiker*innen des [israelischen] Staates als auch die Unterdrückung palästinensischer Stimmen“. Dies habe „Beobachter zu der Ansicht veranlasst, dass das System der Antisemitismus-Beauftragten weniger dazu dient, die Sicherheit von Jüd*innen zu gewährleisten, als vielmehr, die Schuldgefühle der Deutschen im Zusammenhang mit dem Holocaust zu besänftigen“. Das System der Antisemitismus-Beauftragten sei zwar „etwas historisch Einzigartiges“, zitiert Kuras die jüdisch-amerikanische Philosophin Susan Neiman, die die Grundidee des Systems zwar würdigt, doch sei das System „in den letzten drei Jahren aus dem Ruder gelaufen [und] komplett in die falsche Richtung gegangen“, so Neiman weiter. Kuras schließt: „Das System der Antisemitismus-Beauftragten ist Teil einer größeren Anstrengung der Regierung, Kritik an Israel einzuschränken.“

Gegen Kleins Diffamierungen und Cancel Culture formieren sich zunehmend international Widerstände und entsprechende Boykotte deutscher Formate und Institutionen. Im offenen Brief „Pledge Opposing Ideological or Political Interference and Litmus Tests in Germany“ wenden sich Hunderte weltweit renommierte Autor*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Gelehrte explizit gegen die politische Einflussnahme Kleins und deutscher Behörden auf den Wissenschafts- und Kulturbetrieb. Denn die jeweils vorgebrachten Vorwürfe „dienen dazu, den Diskussionsrahmen zu verengen [und] die Aufmerksamkeit von einer kritischen Fokussierung auf die Behandlung der Palästinenser*innen in Israel-Palästina abzulenken und diese zum Schweigen bringen“. Zu den 426 Unterzeichnenden gehören etwa Judith Butler, Noam Chomsky, Achille Mbembe oder Molly Crabapple. Sie alle verpflichten sich, nicht länger in Deutschland an Preisverleihungen sowie wissenschaftlichen, künstlerischen oder sonstigen Job- oder Auftragsvergaben zu partizipieren, solange es „überzeugende Anhaltspunkte“ gibt, dass die entsprechenden Entscheidungsprozesse „Gegenstand ideologischer oder politischer Einflussnahme oder Lackmustests“ sind. Die Cancel Culture von Klein und anderen „verstößt gegen die Freiheit der Wissenschaft und die Rechte auf freie Meinungsäußerung“, so der Brief weiter.

Im Mai 2020 forderten 700 afrikanische Intellektuelle von der Bundesregierung wegen dessen Rolle im Canceln des kamerunischen Wissenschaftlers Achille Mbembe als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale Kleins Entlassung; sie verurteilten „die falschen Vorwürfe des Antisemitismus“. Bereits im April 2020 forderten Dutzende renommierte jüdische Professor*innen und Künstler*innen den damaligen Innenminister Seehofer (CSU) auf, Klein seines Amtes zu entheben, da dieser „unqualifiziert und ungeeignet“ sei. Demnach spiele Klein „eine führende Rolle bei der missbräuchlichen Verwendung des Antisemitismus-Begriffs als ‚Waffe‘ (‚weaponization‘) gegen Kritiker*innen der israelischen Regierung“. Auch untergrabe Klein „die Ausübung von Grundfreiheiten“ wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit und trage in „führender“ Rolle zur „Marginalisierung von nicht-weißen Stimmen und Minderheiten in Deutschland bei“. Kurz darauf richten sich dieselben jüdischen Professor*innen und Künstler*innen direkt an Klein und forderten ihn zum Rücktritt auf, denn: „Sie vermögen nicht, zwischen legitimer Kritik und echtem Antisemitismus zu unterscheiden.“

Klein nutzte wiederholt die Autorität seines Amtes, das den fundamental wichtigen Kampf gegen Antisemitismus zur Aufgabe hat, um sich schützend vor die Politik der israelischen Regierung zu stellen. Doch durch den inflationären Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs verwässert er den Begriff bis hin zur Unkenntlichkeit. Er schwächt damit unseren täglichen Kampf gegen den tatsächlichen Antisemitismus in Deutschland und der Welt. Während sich selbst als „Faschisten“ bezeichnende Minister in Netanyahus Kabinett wiederfinden und in Zeiten, in denen die Menschenrechte von Millionen Palästinenser*innen derart unter Beschuss stehen wie seit Jahrzehnten nicht, während die mit Abstand rechteste Regierung seit Bestehen Israels sich daranmacht, die Gewaltenteilung abzuschaffen und das Land, wie es in einem Brief von rund 1.000 israelischen Gelehrten und Kulturschaffenden heißt, in eine „theokratische Diktatur“ zu verwandeln, während sie den illegalen Siedlungsbau wie niemand vor ihr vorantreibt und die Annexion des Westjordanlands anvisiert – versucht Klein, diese Regierung vor Kritik zu immunisieren. Wie dies dem ihm beauftragten Kampf gegen Antisemitismus dienen soll, ist nicht erkennbar.

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3 Antworten

  1. Danke für den sehr informativen Beitrag. Jakob Reimann weißt zu recht darauf hin, dass der Apartheidvorwurf, gerichtet gegen Israel, den israelischen Staat nicht in dem Sinne delegitimiert, dass er dessen Existenzrecht in Frage stellt. So meint bzw. insinuiert dies Felix Klein. Der Vorwurf verweist auf ein Legitimationsproblem des Staates Israel unter demokratischen und menschenrechtlichen Maßstäben. Die IHRA-Definition geht noch weiter mit der Formulierung „Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.“ Hier wird von der Behauptung der Staat Israel habe rassistischen Charakter auf die Aberkennung des Rechts auf Selbstbestimmung des Staatsvolks geschlossen. Das ist Unsinn. Niemand hat den Südafrikanern das Rechts auf Selbstbestimmung abgesprochen durch die Behauptung sie lebten in einem Apartheidstaat. In der EUMC-Vorgängerversion dieses zitierten Beispielsatzes der IHRA-Definition ist von Rassismus überhaupt nicht die Rede. Es handelt sich hier um das vielleicht beste Beispiel dafür, wie die IHRA-Definition zugerüstet wurde i.S. ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit. Das ging auf Kosten der Sinnhaftigkeit der Aussage.

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