Der Abschluss bei der Deutschen Bahn – Tarifpolitik in Zeiten von Krise und Krieg

Die Freiheitsliebe im Gespräch mit Andreas Müller zur laufenden Tarifauseinandersetzung und der aktuellen Schlichtungsempfehlung bei der Deutschen Bahn. Andreas ist Tarifsekretär bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und hat die Tarifrunde in den letzten Monaten eng begleitet.

Die Freiheitsliebe: Andreas, Mitte Juli hat der Bahnvorstand vorgeschlagen, in die Schlichtung zu gehen, vermutlich auch um einen erneuten Bahnstreik abzuwehren. Mittlerweile liegt eine Schlichtungsempfehlung vor. Was sind die Kernbestandteile dieser Empfehlung?

Andreas Müller: Ja, in der Tat, die Schlichtung hatte eine disziplinierende Wirkung. Leider waren unsere Streikplanungen durchgesickert. Und nachdem der Streik in der Presse stand, konnten wir nicht sagen, wir wollen lieber streiken, statt in die Schlichtung zu gehen. Der Kompromissvorschlag der Schlichter sieht unter anderem eine stufenweise Lohnerhöhung um 410 Euro monatlich vor. Die Laufzeit liegt bei 25 Monaten. Zudem soll im Oktober eine steuerfreie Inflationsausgleichsprämie von 2.850 Euro ausbezahlt werden.

Die Freiheitsliebe: Damit liegt der Abschluss ungefähr auf dem Niveau anderer Tarifabschlüsse in diesem Jahr. Wie beurteilst du persönlich den Abschluss?

Andreas Müller: Für mich hat der Abschluss Licht und Schatten. Es wäre einerseits der teuerste Tarifabschluss, den die Bahn je abgeschlossen hat. Besonders bemerkenswert: Auch wenn es die Arbeitgeberseite gern anders gehabt hätte, aber wir haben verhindert, dass eine hohe Einmalzahlung auf Kosten von dauerhaft tabellenwirksamen Lohnerhöhungen zustandekommt. Stattdessen ist es uns gelungen, beides durchzusetzen: eine hohe Tabellenerhöhung von 410 Euro und eine hohe Inflationsausgleichsprämie im vierstelligen Bereich.

Licht und Schatten

Die Freiheitsliebe: Und wo siehst du die Schattenseite des Tarifvertrages?

Andreas Müller: Die Zugeständnisse des Arbeitgebers gingen zu Lasten der Laufzeit. Zwar bewegen wir uns auch damit im Rahmen dessen, was der öffentliche Dienst oder die Post in diesem Jahr vereinbart hatten. Aber natürlich wissen wir nicht, was in den nächsten 25 Monaten passiert, wie sich beispielsweise die Inflation entwickeln wird. Lange Laufzeiten sind nie im Interesse der Kolleginnen und Kollegen, sie erhöhen einzig die Planbarkeit für die Arbeitgeberseite.

Die Freiheitsliebe: Wenn man sich allerdings die Forderungen der Arbeitgeberseite anschaut, dann gewinnt man leicht den Eindruck, der Abschluss bewegt sich hinsichtlich Volumen und Laufzeit deutlich näher an den Forderungen des Bahnvorstandes als an denen der EVG?

Andreas Müller: Das ist nur zum Teil richtig. Ja, die Arbeitgeber hatten zuletzt eine Lohnerhöhung von 400 Euro bei einer Laufzeit von 27 Monaten angeboten. In vorherigen Angeboten wollten sie uns noch für die oberen Entgeltgruppen eine Erhöhung um acht, für die mittleren um zehn und für die unteren um zwölf Prozent zugestehen. Aber das wäre angesichts der Inflation viel zu niedrig gewesen. Wir haben dagegen eine Lohnerhöhung von zwölf Prozent und einen Mindestbetrag  von 650 Euro im Monat gefordert – alles bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Ich verstehe, dass man bei dieser Betrachtung zu dem Schluss kommt, dass der Abschluss nicht ganz in der Mitte dessen liegt, was beide Seiten eingangs gefordert hatten.

Die Freiheitsliebe: Aber?

Andreas Müller: Das war eine komplexe Tarifrunde mit vielen unterschiedlichen Berufsgruppen in unterschiedlichen DB-Gesellschaften. Vergleicht man die Jahreseinkommen 2022 und 2023, so ist es uns gelungen, im Kernbereich der DB übers Jahr gerechnet die Einkommen um 11,2 Prozent zu erhöhen. Bei der DB Sicherheit liegt der Anstieg bei 15,2 Prozent durchschnittlich, in der Spitze sogar bei 31 Prozent. Für die dauerhafte Sicherung kommt dann die zweite Stufe der Erhöhung im Jahr 2024 hinzu. Zusätzlich werden die Zuschläge etwa für Schichtarbeit um acht Prozent angehoben. Dieser Abschluss wird wesentlich dazu beitragen, dass die Gehälter der Kolleginnen und Kollegen real wachsen. Auch wenn es uns nicht gelungen ist, den Inflationsausgleich auch für die Jahre 2021/2022 im Tarifabschluss abzubilden, also einen Abschluss zu machen, der nicht nur den Kaufkraftverlust für die Inflationsjahre 2023 und 2024 ausgleicht, sondern auch für die beiden Jahre zuvor, in denen wir ebenfalls eine hohe Inflation hatten. Aber das ist bisher auch den anderen Gewerkschaften noch nicht gelungen.

Die Freiheitsliebe: Das heißt, die Schwierigkeit bestand darin, dass ihr Tarifverhandlungen nicht nur für eine Berufsgruppe geführt habt, sondern den gesamten Konzern im Blick hattet und der sehr unterschiedlich ist?

Andreas Müller: So ist es. Die EVG versteht sich ganz bewusst nicht als Spartengewerkschaft. Stattdessen stehen wir für das DGB-Prinzip „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“. Nur wenn die Lokführer gemeinsam mit den Reinigungskräften, dem Personal in den Bordrestaurants und den Beschäftigten im Sicherheitsbereich zusammen kämpfen, haben wir eine Chance, dem DB-Konzern Zugeständnisse abzuringen, von denen unterm Strich alle profitieren. In einem aufgesplitterten Konzern wie der DB AG ist die Solidarität unter den vielfältigen Berufsgruppen keine Selbstverständlichkeit. Sie muss organisiert werden. Das ist mühselig, aber die Alternative dazu sind Spartengewerkschaften und eine Erhöhung der innerbetrieblichen Konkurrenz unter den Kolleginnen und Kollegen. Das lehnen wir ab.

Die Freiheitsliebe: Wenn ich es richtig verstanden habe, dann habt ihr auch die regionalen Unterschiede, die sich bisher in der Entgeltstruktur widergespiegelt haben, abgeschafft und die Gehälter angepasst.

Andreas Müller: Das ist richtig und das war uns auch ein besonderes Anliegen. Im Kernkonzern sind unterschiedliche regionale Entgelte schon lange Geschichte, aber bei einigen Unternehmenstarifverträgen gibt es noch regionale Entgelttabellen. Ein Beispiel zu Erläuterung: Bei der DB Sicherheit gibt es jetzt statt der bisherigen acht Regionen nur noch eine, in der jeder und jede in der entsprechenden Eingruppierung das gleiche bekommt. Dadurch ist die tarifliche Entgelterhöhung im Norden und Osten der Republik nun aber deutlich höher als im Süden und Westen, weil hier bei gleicher Eingruppierung das Entgelt bisher deutlich niedriger war. Im Schnitt beträgt dadurch die Erhöhung bei der DB Sicherheit 763,83 Euro mehr pro Monat. Das sind 26,7 Prozent. Im Norden und im Osten sind das in den niedrigen Entgeltgruppen Erhöhungen von bis zu 58 Prozent monatlich.

Die Freiheitsliebe: Das klingt nach einem deutlichen Gehaltssprung gerade für die unteren Entgeltgruppen bestimmter Regionen. Bevor ihr die Urabstimmung eingeleitet habt, hat der Bundesvorstand der EVG aber trotzdem ausführlich darüber beraten. Was hat er den 180.000 Beschäftigten bei der Deutschen Bahn empfohlen?

Andreas Müller: Es liegt je keine Einigung in der Schlichtung vor. Dafür waren wir zu weit auseinander. Die Schlichter haben deshalb eine Einigungempfehlung abgegeben. Mit der muss man nun umgehen. Der Vorstand hat es sich nicht leicht gemacht. Die Kollegen haben insgesamt acht Stunden getagt und um eine gemeinsame Bewertung gerungen. Am Ende haben sie sich dazu durchgerungen, das Schlichtungsergebnis zur Annahme zu empfehlen. Mein alter Chef sagte immer: Die Galle kann das Hirn nicht ersetzen. Zum Glück hat sich in unserem Falle das Gehirn durchgesetzt, so meine erste Bewertung.

Die Freiheitsliebe: Warum hatte der EVG-Vorstand Bedenken, wenn der Abschluss unterm Strich doch eigentlich ganz gut ist?

Andreas Müller: Dafür gibt es eine Reihe Gründe. Der wichtigste: Die Erwartungen der Kolleginnen und Kollegen sind sehr hoch und das völlig zu Recht, denn die Inflation hat in den letzten drei Jahren erhebliche Reallohnbestandteile aufgefressen. Die Kolleginnen und Kollegen schauen vor allem auf die Zahlen und die liegen unter der Forderung der Tarifkommission. Die Komplexität des Tarifabschlusses wird nicht gesehen.

Die Freiheitsliebe: Das heißt, der Abschluss ist zu komplex, um ihn zu verstehen?

Andreas Müller: Ja und nein. Der Abschluss, wenn er auf Grundlage der Schlichtungsempfehlung zustande käme, wäre deutlich besser als der im öffentlichen Dienst. Und auch im Vergleich zu den Abschlüssen der anderen Gewerkschaften könnte sich das Ergebnis sehen lassen. Richtig ist aber auch, dass die erheblichen Kaufkraftverluste aus 2022 in der Größenordnung von ungefähr sieben Prozent und 2021 von drei Prozent durch den Tarifabschluss zwar nachträglich ausgeglichen werden, aber die Inflation in 2023 und wahrscheinlich auch 2024 nicht. Oder umgekehrt: Für 2023 und 2024 konnte  ein Reallohngewinn vereinbart, aber die Verluste aus 2021 und 2022 konnten nicht ausgelichen werden. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass das auch in den Tarifrunden des öffentlichen Dienstes oder der Post nicht gelang. Wir dürfen nicht vergessen, dass die letzten drei Jahre durch einen Anstieg der Lebenshaltungskosten erst infolge der Corona-Pandemie und dann durch Inflation und Energiekrise geprägt waren. Das lässt sich tarifpolitisch nicht vollständig auffangen. Das war ja auch der Grund, weshalb sich die Gewerkschaften 2022 für staatliche Entlastungsmaßnahmen stark gemacht haben.

Der Warnstreik war schon geplant

Die Freiheitsliebe: Wäre mehr herauszuholen gewesen, wenn die EVG vor der Schlichtung zum Streik gerufen hätte?

Andreas Müller: Das wollten wir. Wir hatten sogar vor der Urabstimmung noch einen Warnstreik in der Planung. Der ist leider durchgesickert und stand in der Presse. Wenn man dann zur Schlichtung „eingeladen“ wird, kann man schlecht sagen, dass einem die Lust auf Streik wichtiger ist. Ohne den Rückhalt in der Öffentlichkeit ist ein Streik kaum durchzuhalten. Diese „Einladung“ war also nicht abzulehnen.

Die Freiheitsliebe: Und bezogen auf dien Kräfteverhältnisse? Hätte ein Streik einen Unterschied für das Verhandlungsergebnis gemacht?

Andreas Müller: Eigentlich bin ich ja immer für einen guten Streik zu haben, aber hier bin ich überzeugt, dass ein weiterer Streik den Abschluss schöner, aber nicht besser, sondern in der Langzeitwirkung sogar schlechter gemacht hätte. Was heißt das? Nach einem Streik, egal ob vor oder jetzt nach der Schlichtung, würden  alle nur auf die eine Zahl schauen. Bei unseren Kolleginnen und Kollegen wäre vielleicht noch über die Laufzeit diskutiert worden. In der öffentlichen Diskussion spielt die aber schon keine Rolle mehr. Vielleicht wäre es uns gelungen, im Arbeitskampf statt 410 Euro 450 Euro durchzusetzen. Aber all die anderen Bestandteile des Abschlusses, die ich jetzt genannt habe, wären vermutlich hinten runtergefallen.

Die Freiheitsliebe: Könntest du anhand eines Beispiels erläutern, was genau du damit meinst?

Andreas Müller: Ja, natürlich. Nehmen wir die besondere Teilzeit im Alter. Die kostet jährlich 25 Millionen Euro. Tarifpolitisch entspricht das zehn Euro monatlich für alle. Der Arbeitgeber will sie seit langem abschaffen. Wir haben sie trotzdem verteidigt, weil sie den Kollegen im Alter gute Übergänge in die Rente ermöglicht. Das ging zu Lasten des quantitativen Forderungsvolumens, aber im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen haben wir diese qualitative Errungenschaft erhalten. Auch die erwähnten Strukturveränderungen sorgen unterm Strich für eine gerechtere Entgeltstruktur und beenden die ungerechten regionalen Unterschiede. Auch wurde von Anfang an versucht, die Busgesellschaften, DB Cargo und die sogenannten Dienstleister aus der Tarifrunde rauszulösen und extra zu verhandeln. Das haben wir mit der gewählten Strategie verhindert. Ich bleibe deshalb dabei: Der Abschluss wäre vielleicht schöner, aber definitiv schlechter.

Die Freiheitsliebe: Abschließend vielleicht noch eine Frage zum Ausblick: Die EVG wurde mit einer heftigen Diskussion über die Einschränkung des Streikrechtes konfrontiert. War diese Diskussion ein Vorgeschmack darauf, dass die Auseinandersetzung um das Streikrecht in der Zukunft schärfer geführt werden könnte?

Andreas Müller: Davon bin ich fest überzeugt. Bereits nach dem ersten Warnstreik wurde verschiedentlich eine Einschränkung des Streikrechtes in der Daseinsvorsorge gefordert. Sie erreichte einen Höhepunkt nach dem Warnstreiktag, den wir gemeinsam mit ver.di organisiert hatten. Vor allem im Dienstleistungsbereich müssen wir darauf vorbereitet sein, dass wir künftig stärker mit der  sogenannten „Rührei“-Strategie konfrontiert werden. Dabei suchen arbeitnehmerfeindliche Anwälte nach faulen Eiern unter den Tarifforderungen. Sobald sie auf eine Teilrechtswidrigkeit unter den Streikzielen stoßen – etwa wenn diese als politisch eingestuft werden, was in Auseinandersetzungen um eine bessere Daseinsvorsorge schnell passieren kann – dann kann der Streik für unzulässig erklärt werden. Wenn diese Strategie Schule macht, kann das zur Arbeitskampfdisziplinierung der Gewerkschaften führen. Das müssen wir diskutieren.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

Das Gespräch führte Ulrike Eifler. Sie ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft der Partei DIE LINKE und Redakteurin der Freiheitsliebe.

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