Tito der ewige Partisan

War es Absicht oder Corona geschuldet, dass die Tito Biographie von Marie-Janine Calic nicht Anfang Mai- als sich Titos Tod zum 40sten Mal jährte, sondern erst ein paar Monate später herauskam? Egal, eine Biographie, wie sie Frau Calic vorgelegt hat, kommt  nie zu spät.

Ihr „Tito –Der ewige Partisan“ ist ein sehr gut lesbares Buch. Es ist weit mehr als eine Schilderung des Lebens einer Person. Es beschreibt die Zeitumstände, mit denen sich Tito herumschlagen musste und die er im Lauf seines Lebens nachhaltig beeinflusste. Es gibt uns einen Einblick in die für Menschen in unserem Breitengrad weitgehend unbekannten gesellschaftlichen Entwicklungen im Jugoslawien der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis zum Tod Titos 1980. Wir erfahren einiges über die Zustände im ländlichen Kroatien während der K.u.K. Zeit, über die Odyssee Titos quer durch das revolutionäre Russland von Kazan nach St. Petersburg und zurück nach Omsk, über die brutale Verfolgung der Kommunisten während der Königsdiktatur nach 1929.

In den 1930er Jahren rückt Tito in die Führungsriege der jugoslawischen KP auf. 1937 wird er deren Generalsekretär. Zur Zeit der Moskauer Prozesse ist Tito in Moskau und muss miterleben, wie seine damalige Frau Opfer der Säuberungen Stalins wird. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Jugoslawien am 10. April organisiert Tito mit großer Umsicht den Widerstand. Die zwei Kapitel, in denen Calic den Widerstand der Tito Partisanen gegen die Nazibesatzer und ihre jugoslawischen Kollaborateure behandelt, bestechen durch ihre kompakte, anschauliche Darstellung. Wir erfahren von den anfänglichen nadelstichartigen Aktionen der Partisanen und von den Massakern, mit denen das Oberkommando der Wehrmacht darauf reagiert. Calic liefert weit mehr als eine chronologische Darstellung der Ereignisse. Sie stellt dar, wie in der komplexen Gemengelage die Partisanen im Kampf gegen einen militärisch übermächtigen Gegner immer stärker werden konnten, wie trotz der von den Besatzern systemisch angeheizten Feindseligkeiten zwischen den Nationalitäten mit ihrer Strategie „Brüderlichkeit und Einheit“ in allen ethnischen Gruppen Anhänger finden und schließlich das militärische Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten entscheiden konnten. Das Kapitel „Der stalinistische Autokrat“, das von der Festigung der Macht der KP in den unmittelbaren Nachkriegsjahren handelt, zeigt, dass die KP mit ihren Gegnern nicht gerade zimperlich umsprang. Es erzählt vom Terror des Geheimpolizei OZNA und von zum Teil grausamen Racheaktionen an den besiegten Konterrevolutionären. Auch wenn die von Calic angeführten Fakten wohl zutreffend sind, so schimmert in diesem Kapitel ein Hauch von Totalitarismusdenken durch. Immerhin stellt Calic auch fest: „Bereits in dieser Zeit gab es allerdings auch Unterschiede zum bolschewistischen System. Die Jugoslawen setzen stärker auf Überzeugung, um den Sozialismus aufzubauen..“ „Millionen Freiwillige packten mit aufrichtigem Enthusiasmus an, um Eisenbahnen, Industriebetriebe, Straßen und Wohnhäuser wiederaufzubauen.“

Erhellend sind die Kapitel über die Umstände von Titos Bruch mit der UdSSR Stalins 1948 und die innere Entwicklung Jugoslawiens von der zunächst noch stark von der KP geprägten Arbeiterinnenselbstverwaltung hin zum stark westlich geprägten Coca-Cola Sozialismus der 1960er Jahre. Zwischen 1957 und 1961 wuchs die Wirtschaft um etwa zwölf Prozent jährlich. Das waren die höchsten Wachstumsraten der Welt. Der »reife Titoismus« wurde in den 1950er und 1960er Jahren zum weltweiten anerkannten Erfolgsmodell. Ende der 1960er Jahre, wuchsen die wirtschaftlichen Probleme und damit die  Nationalismen in den Teilrepubliken. Calic schildert die vielfältigen Formen, in denen nationalistische Aufwallungen ausbrachen. In den späten 1960er Jahren tritt an die Stelle des Machtmonopols der KP eine Polyarchie der Machteliten der verschiedenen Teilrepubliken. Der Bund der Kommunisten hört auf, eine geschlossen handelnde Kraft zu sein und für die Entwicklung des Landes Impulse zu geben. Der Zustand der Lähmung verschärft die wirtschaftlichen Probleme, was die nationalistisch motivierten Verteilungskämpfe um den kleiner werdenden Kuchen zusätzlich anheizt und sozusagen das Feld bestellt für die späteren Exzesse.

Calic hat eine sehr gute Darstellung der Entwicklung Jugoslawiens von Gründung der Volksrepublik Jugoslawiens bis zu Titos Tod 1980 vorgelegt. Das Buch ist erfreulicherweise durchgängig sehr sachlich und bis auf wenige Passagen frei von antikommunistischen Stereotypen. Es  ist ein idealer Einstieg für alle, die sich für die bemerkenswerte Entwicklung einer ungewöhnlichen Gesellschaftsform in einer Region Europa interessieren, die in den 1950 er und 1960 er Jahren Schlagzeilen machte, heute aber der Vergessenheit anheimgefallen ist. Eines allerdings ist die Tito-Biographie von Calic nicht: Eine linke Analyse dessen, warum die jugoslawische Arbeiterinnenselbstverwaltung nach hoffnungsvollen Anfänge in nationalen Raserei und grausamen Schlächtereien endete. Die wartet noch darauf, geschrieben zu werden.

Ein Besprechung von Paul Michel, Herausgeber und Mitautor des Buches „Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung – Licht und Schatten, Neuer ISP Verlag 2020

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