Ein Virus wirft uns gerade alle aus der Bahn. Oder sollte ich eher schreiben aus dem Boot? Denn spätestens jetzt müsste uns allen aufgefallen sein, dass wir in diesem Boot alle gemeinsam sitzen! Und plötzlich merken wir alle, wie bedeutend Seenotrettung ist. Alle illusorischen Gerüste fallen nach und nach zusammen, klären uns urplötzlich die Sicht auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben. In unserem Leben wohlgemerkt, dem Leben der Menschen, aller Menschen.
Den Vögeln, die derweil freudig feuchtfröhliche Frühlings-Willkommens-Partys feiern, ist der Virus im wahrsten Sinne schnurz- und vor allem piepegal. Wie gerne würden wir jetzt doch mit ihnen tauschen! In uns aber steigt dieser Tage die Angst ins Unermessliche, da wohl niemand mit einer Herausforderung, einem Gegner dieser Größenordnung gerechnet hat – so winzig klein und doch so bitter böse und gefährlich. Warum nur? Warum musste das passieren? Musste es das? Es ist, man kann es wohl nicht anders sagen, unbegreiflich und vor allem unbegreiflich absurd!
Der wunderbare Schriftsteller, Journalist, Philosoph, radikale Humanist und freiheitliche Denker Albert Camus würde uns hierbei sicherlich zustimmen. Schließlich ist er ja auch als der Philosoph des Absurden in die Geschichte eingegangen. Ja, in welche Geschichte eigentlich? Ach ja, die unsere, die einzige Geschichte, die wir haben – die Geschichte der Menschheit. Camus durchlebte viele schöne Episoden in seinem recht kurzen Leben, aber eben auch etliche tragische, schwere und unheilvolle Ereignisse und Krankheiten. Und doch schaffte er es, ähnlich und zeitweise auch gemeinsam mit seinen Freundinnen der Existenzialistinnen, Bohemiens und Anarchistinnen, immer wieder gegen das Absurde und Bösartige im eigenen Leben und in der kollektiven Welt Stellung zu beziehen, immer wieder Mut zu schöpfen gegen die gemeinsamen Feinde des freien Menschen und der freien Welt. Es waren die Ignoranz der Abstinenten, die tiefe Destruktivität der Faschistinnen und Faschisten und die Bösartigkeit der Gewalttätigen und Kriegstreiberinnen und Kriegstreiber, die ihn Zeit seines Lebens in rebellischen Widerstand versetzten. Dieser zeichnete sich aus durch den Glauben an das Gute im Menschen und die Überzeugung, das Leben, die Liebe und die Freiheit des Menschen immer und immer wieder zu verteidigen, ja selbst wenn es sich um einen scheinbar aussichtslosen Kampf handeln sollte. Der Tod hingegen ist und bleibt sinnlos. Ein großes leeres Nichts.
Seine persönlichen Schriften, seine Artikel, Essays, Dramen und Romane zeugen von diesem radikalen Humanismus und sind es immer wieder wert, gelesen zu werden. „Die Pest“ nun, oft als eine Analogie zur Résistance gegen den Faschismus gedeutet, eine Lesart, die völlig verständlich ist, da sich ein Symbol wohl nicht besser in ein biologisches Bild fassen lässt. Denn auch der Faschismus ist ein den Menschen bedrohender, fieser, ekelerregender Virus, der sich langsam in die Köpfe der Menschen schleicht und von dort aus, aus ihnen blutrünstige Verbrecherinnen und Verbrecher macht, deren größter Feind, wir sollten es mittlerweile wissen, das Leben selbst und die Gesellschaft freier, selbstbestimmter Menschen ist. Da dachten wir nun, wir hätten mit den reaktionären Geschichtsverdrehern, Klimawandelleugnerinnen, Terroristen und Faschistinnen weltweit schon genug um die Ohren. Aber nein, als wäre das nicht schon schlimm genug – nun kommt auch noch dieses verdammte Virus daher und bedroht unsere Welt und unsere Körper.
Und auch wenn es vielleicht etwas makaber anmuten mag, jetzt auch noch ein altes, staubiges Buch aus den 1940ern in die Hand zu nehmen, was noch dazu den Namen „Die Pest“ trägt und eben auch von einer solchen handelt – es lohnt sich! Die Parallelen zu unserer jetzigen Situation sind unfassbar zahlreich, auch wenn es sich in der Geschichte Camus‘ um eine einzelne Stadt handelt (das algerische Oran) und wir es im Gegensatz dazu gerade mit einer weltumfassenden Pandemie zu tun haben. Das Szenario des Romans: Ein aufopferungsvoller Arzt, der mit wahrem Mut, aber auch gesunder Skepsis und Rationalität an die Ausnahmesituation herangeht und einen kühlen Kopf bewahrt. Eine Person, die sich der Gefahren bewusst ist und dennoch, oder eben gerade deshalb, ihr Herz nicht stillhalten lässt, weil sie eben fühlt und dort aktiv wird und hilft, wo sie es eben kann – auch wenn es sich in den traurigsten Fällen auch nur darum handelt, bittere Auskunft zu erteilen.
Vielleicht mag diese Lektüre zu dieser schweren Zeit auch Überwindung kosten, da die beschriebenen Ereignisse zu große Parallelen zur derzeitigen, apokalyptischen Nachrichtenflut aufweisen. Vielleicht vermag aber die Beschäftigung mit diesem wertvollen Buch dieses radikalen Schriftstellers uns mehr als nur guten Glauben und ins Leere laufende Hoffnung verleihen. Was wir aus der Pest von Camus mitnehmen können, kann ein zutiefst radikaler humanistischer Geist sein, der uns Mut und Kraft gibt, mit dieser harten und tatsächlich auch absurden Realität umzugehen, der wir uns jetzt alle stellen müssen. Der Sturm ist noch längst nicht vorüber. Der Kampf hat gerade erst begonnen. Aber wenn wir ihn so solidarisch und so menschlich wie nur möglich bestreiten, können wir es vielleicht schaffen, unnötige Opfer zu vermeiden. Helfen wir dort, wo wir können, auch wenn das für viele gerade nur heißt, sich für andere auch mal zurückzunehmen und sich zu besinnen. Andere, viele, Tausende kämpfen jetzt schon an ganz anderer Front und müssen dem Tod ins Auge sehen. Geben wir ihnen Kraft und Mut mit auf den Weg. Auf dass wir uns alle bald wieder in Freiheit, auf den wunderbaren Straßen dieser Welt voller Liebe, Freundschaft und Respekt und ohne Angst in die Arme fallen können. Camus wäre dafür…
Von Benjamin Kreuzberg – Das Buch von Camus kann man unter anderem hier bestellen.
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Eine Antwort
Da ich den Text vor gut 2 Wochen geschrieben habe, sollte ich die Metapher mit dem Boot aktualisieren. Es ist nun mehr als ersichtlich, dass aus den gravierenden Klassenunterschieden in dieser Welt und den offensichtlich unterschiedlichsten Verletzlichkeitssituationen (Vulnerabilitäten) von Menschen leider ein ganz anderes Bild entsteht und wir doch ganz unterschiedlich betroffen sind. In der Meeresmetaphorik gesprochen, sitzen wohl die Einen im privilegierten Luxusdampfer oder einem sicheren Fährschiff, Andere jedoch im wackligen Schlauchboot oder müssen gar selbst schwimmen. Auf dass wir ALLE da heil wieder rauskommen! Radikaler Humanismus muss irgendwie praktisch werden ☆☆☆ #leavenoonebehind