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„Judenhass Underground“ #1: Thesen ohne Theorie

Im beliebten Berliner Szeneclub about.blank wurde am 1. September das Buch „Judenhass Underground“ gelaunched. Der Sammelband erschien beim Verlag Hentrich&Hentrich und wurde vom Journalisten Nicholas Potter von der Amadeu Antonio Stiftung und vom Belltower.News-Redakteur Stefan Lauer herausgegebenen. Das Buch, in dem Beiträge vieler namhafter Autor*innen zu finden sind, beschäftigt sich mit „Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen“, so heißt es auf dem Cover. In einer mehrteiligen Reihe setzt sich unser Autor Dan Weissmann kritisch mit „Judenhass Underground“ auseinander und untersucht, inwiefern das Buch seinen eigenen Ansprüchen genügt (Freiheitsliebe-Redaktion). Teil 1:

Im ersten Kapitel des Theorieteils von „Judenhass Underground” schreiben der Autor Nikolas Lelle und der politische Referent Tom Uhlig über „Israelhass und Antisemitismus”. Dass ausgerechnet Israel das erste Kapitel dieses Buchs ausmacht, verrät viel über die Priorität der Herausgeber und gibt einen Vorgeschmack auf den eigentlichen Fokus und die Motivation dieses Buchs.

Wer sich auf eine tiefe und detailreiche Diskussion zur Theorie des „Israelbezogenen Antisemitismus” freut, wird hier leider enttäuscht. Lelle und Uhlig weigern sich, diese Theorie vor ihren Leser*innen auszubreiten und ihnen verständlich und nachvollziehbar zu erklären, wieso „Israelhass”, wie Kritik an Israel hier genannt wird, das Gleiche sein soll wie Antisemitismus oder Judenhass. Stattdessen vertrauen sie auf das Gewicht und die Prominenz ihrer Zeugen. Anstatt Theorie zu diskutieren und kritisch zu durchleuchten, werden Halbsätze von Adorno, Horkheimer und Co. als faktische Tatsache dargelegt, ohne zu besprechen, warum dem denn so sei. Kritik an Israel ist eine Form des Judenhasses, weil Monika Schwarz-Friesel es als „Chamäleon Antisemitismus” beschreibt, „[d]essen Kern […] immer gleich [bleibt], doch seine Erscheinungsform ändert sich und passt sich historisch an die jeweilige Umwelt an”. Das ist keine theoretische Erklärung oder Analyse, sondern ein Kommentar, verkleidet als Tatsache. Wenn Antisemitismus laut Schwarz-Friesel immer gleich bleibt, ist dann dessen Bekämpfung nicht sinnlos? Solche kritischen Auseinandersetzungen findet man hier vergebens. Stattdessen verlässt man sich auf die üblichen pro-israelischen Talkingpoints.

Wieso eine intellektuell herausfordernde Analyse eines Phänomens besprechen, wenn man stattdessen 20 Jahre alte Parolen der Israel-Lobby von sich geben kann; wie zum Beispiel, dass Israel so oft wie kein anderes Land vom UN-Menschenrechtsrat gerügt wurde, mehr als Syrien und Nordkorea zusammen, wie Lelle und Uhlig konstatieren. Ein einleuchtender Grund dafür könnte sein, dass Syrien, Nordkorea und auch Iran mit schwersten Sanktionen belegt werden, Israel jedoch nicht. Wer immer wieder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, für diese aber nicht sanktioniert wird, findet sich wahrscheinlich eher ganz oben auf der Liste der Staaten, die von der UN am meisten gerügt werden. Dies ist nur ein Beispiel für die intellektuelle Trägheit von Lelle und Uhlig. Hätte man ein kleines bisschen unter der Oberfläche dieses Arguments gekratzt, wäre der mögliche Grund schnell offensichtlich geworden. Stattdessen kommt man zu dem Ergebnis, dass „[d]iese bizarre Verzerrung […] ohne Verweis auf Antisemitismus kaum zu erklären [ist]”.

Von wissenschaftlichen Arbeiten, Definitionen und Studien scheint man in diesem Kapitel generell nicht viel zu halten. Zwar werden solche als Beweis für die eigene These zwar zitiert, bei genauerem Hinsehen stellen sie sich jedoch als alles andere als Beweise dar. Auf die Kritik, dass die deutsche Presse sich verhalten kritisch über Israel äußere, verweisen Lelle und Uhlig auf den Sammelband Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte von Robert Beyer und Monika Schwarz-Friesel, um zu beweisen, dass „die Tageszeitungen voll von Israelfeindlichen Artikeln” sind. Schaut man jedoch in dem Sammelband, schreibt Robert Beyer, „dass sich die deutsche Presse insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ moderat israelkritisch äußert”.

In ihrem Versuch zu beweisen, dass „Israelhass” kategorisch Judenhass ist, verweisen Lelle und Uhlig auf eine vom American Jewish Committee bei IfD-Allensbach in Auftrag gegebene repräsentative Studie zu „Antisemitismus in Deutschland”. Die Studie soll laut Lelle und Uhlig beweisen, dass „Israelhass” und Judenhass in emanzipatorischen Gruppen nicht zu unterscheiden seien, denn um diese geht es in ihrem Buch letztendlich. Das Problem ist nur, dass die Studie nicht emanzipatorische Gruppen befragt hat, sondern die Allgemeinheit. Lelle und Uhlig versuchen hier, von einer repräsentativen Studie auf die Meinungen und Glaubenssysteme von gesellschaftlichen Gruppierungen zu schließen, die nicht befragt wurden und auch in der Studie nicht als eigenständige Kategorie gelistet sind. Lelle und Uhlig theoretisieren:

„Wer schlecht über Israel denkt, stimmt auch eher offen antisemitischen Einstellungen zu. Dass Juden reicher als Deutsche seien, glaubt im Durchschnitt jede*r Dritte. Unter denjenigen aber, die schlecht über Israel denken, glauben es die Hälfte.”

Zunächst fällt auf, dass die beiden Autoren einen Gegensatz zwischen „Juden” und „Deutschen” herstellen, als wären dies zwei sich ausschließende Kategorien. Was im obigen Zitat als jene Personen, „die schlecht über Israel denken”, kategorisiert wird, sind in der IfD-Allensbacher Studie Muslime in Deutschland. Die Studie macht einen Vergleich zwischen der repräsentativen Allgemeinheit und Muslimen im Speziellen. Es sind 49 Prozent der Muslime, die ein „schlechtes Bild” von Israel haben, die glauben „Juden sind reicher als der Durchschnitt der Deutschen”. Was von Lelle und Uhlig jedoch verschwiegen wird, ist, dass Muslime, die ein „gutes Bild” von Israel haben, zu 57 Prozent glauben, „Juden sind reicher als der Durchschnitt der Deutschen”. Was beweist das also in Bezug auf Israel und Antisemitismus? Es zeigt nur, dass Stereotype über reiche Juden in der muslimischen Community existieren, mit negativen Meinungen über Israel korrelieren diese aber nicht – eher im Gegenteil. In der Bevölkerung insgesamt glauben 38 Prozent derer, die ein schlechtes Bild von Israel haben, dass Juden reicher sind als der Durchschnitt, während es bei denen, die ein gutes Bild von Israel haben, 24 Prozent sind. Warum Lelle und Uhlig sich Statistiken zurechtlegen, Werte herauspicken und Kategorien umbenennen und dann ihren Fokus nur auf Muslime richten, ohne das offen zu benennen, ist verwunderlich.

Lelle und Uhlig scheint es zudem schwer zu fallen, Definitionen korrekt zu zitieren oder wiederzugeben. Die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) wird im Text wie folgt wiedergegeben:

„Neben einer allgemeinen Definition von Antisemitismus als ‘Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann’, sich aber auch gegen nichtjüdische Menschen sowie Organisationen und vor allem auf Israel richten kann […]”

Die vollständige Definition der IHRA, die man auf deren Homepage finden kann, sieht hingegen so aus:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.”

Wie man sieht, benennt die IHRA-Definition Israel mit keinem Wort. Warum Lelle und Uhlig suggerieren, dass dem so sei, ist unklar. Zwar haben sie recht, wenn sie auf die Beispiele der IHRA-Definition verweisen, diese sind aber nicht Teil der Definition, sondern, wie der Name schon sagt, begleitende Beispiele. Sieben der elf IHRA-Beispiele drehen sich um Israel. Eine fragwürdige Gewichtung und Priorität in einer Definition von Antisemitismus und ein berechtigter Kritikpunkt vieler, die in der IHRA-Definition eine Politisierung des Kampfs gegen Antisemitismus sehen – wie auch der Autor der Definition selbst.

Lelle und Uhlig präsentieren auch die Alternative zur IHRA-Definition, die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA). Auch hier fällt es ihnen schwer, die Definition und dazugehörigen Leitlinien akkurat wiederzugeben. Sie beklagen an der JDA-Definition: „Der Kern der Definition bestimmt Antisemitismus als ‘Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit und Gewalt’ gegen Jüdinnen*Juden und fällt damit hinter den Forschungsstand zurück.” Jedoch ist die JDA-Definition substantiell nicht sehr unterschiedlich von der IHRA-Definition:

„Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).”

Inwiefern die IHRA den Forschungsstand wiedergibt, die JDA jedoch nicht, wird nicht weiter erläutert. Zudem wird fälschlicherweise behauptet, dass die JDA „viel Platz darauf verwendet, was alles ‘nicht per se’ antisemitisch sein soll” und die Leser im Dunkeln lasse, was genau antisemitisch ist. Der JDA-Leitfaden, welcher doppelt so lang ist wie die Beispiele der IHRA-Definition, bespricht in seinen ersten zehn Punkten sehr wohl, wie sich Antisemitismus manifestiert und was antisemitisch ist und sein kann. Die ersten fünf Punkte im Allgemeinen, die weiteren fünf Punkte im Speziellen über Israel und Palästina. Die letzten fünf Punkte handeln von Beispielen zum Thema Israel und Palästina, die per se nicht antisemitisch sind, darunter der Apartheidvorwurf und BDS als „gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten”. Wie man auf die letzten fünf Punkte eines Leitfadens verweisen kann und dann behauptet, die vorherigen zehn Punkte existieren nicht, ist eine Frage, die Lelle und Uhlig beantworten müssen.

Im letzten Viertel dieses Kapitels widmen sich Lelle und Uhlig zum ersten Mal den eigentlichen Opfern von Antisemitismus, Juden und Jüdinnen. Hier wird auf die Gefahr von „israelbezogene[m] Antisemitismus” hingewiesen, wie zum Beispiel das Nötigen von Juden und Jüdinnen, sich zu Israel äußern zu müssen. Eine Form des Antisemitismus, die die JDA auch als solchen benennt. Natürlich sind die Vorfälle, wie der Ruf „Tod den Juden” von einem Teilnehmer einer pro-palästinensischen Demo 2023, oder „Scheiß Juden” vor einer Synagoge krakeelen zu verurteilen. Jedoch sollten sich die Autoren fragen, wieso es solche Vorfälle so selten gibt, wenn laut ihrer These alle Teilnehmer*innen dieser Demos aus antisemitischen Motiven an ihnen teilnehmen. Hier zeigt sich das Loch in der These vom „israelbezogenen Antisemitismus”, das Lelle und Uhlig dadurch zu stopfen versuchen, indem sie nicht-emanzipatorische Gruppen einfügen, wo emanzipatorische Gruppen ihnen den Beweis für ihre These nicht liefern. Wieso muss man sonst am Anfang dieses Kapitels auf „Jürgen Elsässer, Herausgeber des rechtsextremen Magazins Compact” und die NPD verweisen? Wieso fügt man ein, dass „auch der Attentäter von Halle […] die deutsche Regierung von Zionisten besetzt [wähnte], und der Attentäter von Hanau […] von der Vernichtung Israels [träumte]” ohne diese als rechtsextrem zu identifizieren und somit suggeriert, dass sie emanzipatorischen und pro-palästinensischen Gruppen nahestanden?

Zudem werden jüdische Kritiker*innen Israels in diesem Kapitel überhaupt nicht berücksichtigt oder besprochen. Der Verweis auf Judith Coffeys und Vivian Laumanns These der Gojnormativität zeigt, dass Lelle und Uhlig Kritik an Israel als eine exklusiv gojische, also nicht-jüdische Position verstehen und ignorieren somit jüdische Stimmen und Traditionen, die es seit dem Beginn der zionistischen Bewegung gab, immer noch gibt und die starken Zuwachs finden.

Lelle und Uhlig sind korrekt, wenn sie darauf beharren, dass Israels Kritiker Jüdinnen und Juden nicht für Israels Politik verantwortlich machen sollen. Die sehr große Mehrheit in emanzipatorischen Gruppen tut das auch nicht. Dennoch klingt ihr Appell hohl, wenn die Autoren es selbst nicht schaffen, diesen Unterschied zu erkennen, indem sie Solidarität mit Israel einfordern, um so Solidarität mit Jüdinnen und Juden zu zeigen. Wer glaubt, die Linke „verabschiedet sich vom Universalismus”, weil sie kritisch gegenüber Israel ist, versteht nicht, dass Universalismus für Menschen gilt, und zwar für alle, nicht aber für Staaten. Das ändert sich auch dann nicht, wenn man in philosemitischer und ahistorischer Manier darauf beharrt, dass Israel „[d]er Staat der Shoah-Überlebenden, der Davongekommenen” ist.

Von Dan Weissmann. Dies ist Teil #1 einer Rezensionsreihe zu „Judenhass Underground“ (2023, Hentrich&Hentrich). Die nächsten Teile dann in Kürze.

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2 Antworten

  1. Die Kameradschaften der Israel-Lobby finden im „about:blank“ ihr ideologisch gefestigtes Stammtischpublikum.
    Der Club am Ostkreuz kann meinetwegen ruhig der A100 weichen.
    Und von der unsäglichen Amadeu Antonio-Stiftung dürften wir mit dem Rückzug der Soros-Foundation auch bald erlöst werden. BDS als Nachmieter wäre nett. :-D

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