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EVG-Urabstimmung: Grenzen der Solidarität in der Krise?

Bei der jüngsten Urabstimmung der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) haben 52,3 Prozent der Abstimmenden die Schlichtungsvereinbarung im Tarifkonflikt mit der Deutschen Bahn (DB) angenommen – und sich damit zunächst gegen weitere Arbeitskämpfe entschieden. Obwohl weitere Streiks somit vorerst abgewendet sind, stehen Verhandlungen mit der Lokführergewerkschaft GdL noch aus.

Über das knappe Ergebnis bei der Urabstimmung, die Gründe dafür und was all das für die Kämpfe der Arbeiter*innen bedeutet, unterhielten wir uns mit Andreas Müller. Andreas ist Tarifsekretär der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft und hat die Tarifrunde eng begleitet.

Die Urabstimmung unter den EVG-Mitgliedern über die Annahme der Schlichterempfehlung in der aktuellen Tarifauseinandersetzung bei der Deutschen Bahn ist beendet. Nur 52,3 Prozent haben dafür gestimmt. Wie beurteilst du das recht knappe Ergebnis?

Das Ergebnis ist ehrlich und zeigt die Zerrissenheit. Mein Tipp nach vielen Gesprächen und Veranstaltungen war 50:50, also nochmal knapper. Positiv ist die relativ hohe Wahlbeteiligung von 65 Prozent.

Welche Gründe siehst du für das knappe Ergebnis?

Die Frage drängt sich auf, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Schlichter den Abschluss als den besten und teuersten in der Geschichte der Deutschen Bahn bezeichnet haben. Aus meiner Sicht gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Die müssen wir auch im Hinblick auf die nächsten Tarifrunden intern aufarbeiten und besprechen. Meiner Meinung nach zählt zu den Hauptursachen, dass die Erwartungen der Kollegen aufgrund der Inflation sehr hoch waren. Das natürlich völlig zu Recht, denn die Inflation frisst die Reallöhne auf. Und für viele Kolleginnen und Kollegen wird der Abschluss dem Erwartungsdruck offenbar nicht gerecht. So fiel beispielsweise in einer Diskussion der Satz: „Ihr habt nur 65 Prozent erreicht, das ist zu wenig!“ Daran zeigt sich, dass nicht der gesamte Abschluss bewertet wird, sondern viele Kollegen nur auf die Zahlen schauen. Das wird aber dem komplexen Abschluss nicht gerecht, der das „Gemeinsam geht mehr“ in den Mittelpunkt stellt.

Kannst du das erklären?

Über die zentralen gemeinsamen Forderungen hinaus wurden noch unternehmensspezifische Forderungen in den einzelnen Unternehmen beschlossen. Bei der DB AG betrug die Liste 25 Punkte mit einem Gesamtvolumen von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Nach Arbeitgeberzählung waren es sogar 57 Forderungen, was Personalvorstand Seiler dazu veranlasst hatte, öffentlich zu erklären, dass die EVG Maß und Mitte verloren habe. Neben dem Mindestlohn war für uns die Angleichung der unterschiedlichen Entgelttabellen in den sogenannten Funktionsgruppentarifverträgen wichtig, um die ungleiche Bezahlung zu beenden. Weitere Punkte waren die Verlängerung der besonderen Teilzeit im Alter, die Abschaffung der noch vorhandenen regionalen Entgeltstrukturen bei verschiedenen Dienstleistungsunternehmen und noch einiges mehr.

Die EVG hat ja die Tarifverhandlungen nicht nur mit der DB AG geführt, sondern auch mit den Privatbahnen. Gab es diese unternehmensspezifischen Forderungen auch dort?

Ja. Hier forderten wir beispielsweise die Ausweitung des Nachtzeitraumes zur Zahlung der Nachtschichtzulage sowie Entgeltstrukturfragen. Insgesamt hatte sich die Tarifkommissionen mit dem detaillierten Forderungskatalog viel Arbeit gemacht. Bei den gemeinsamen Warnstreiks standen aber natürlich die gemeinsamen Forderungen im Vordergrund. Zu einer der Fragen, die wir nun aufarbeiten müssen, gehört, warum die vielen Forderungen schlicht nicht bekannt waren. Und auch warum ein im Vergleich zu anderen Branchen wirklich guter Abschluss einen Shitstorm ausgelöst hat und eine Riesenunzufriedenheit vorhanden ist.

Könnte es daran liegen, dass der Forderungskatalog mit zu vielen qualitativen Forderungen überfrachtet war?

Ich denke, es ist wichtig zu erwähnen, dass die EVG mit dieser Tarifrunde nicht erst im März 2023 gestartet ist, sondern eigentlich schon 2016. Seit jenem Jahr haben wir systematisch versucht, die Laufzeiten der Tarifverträge bei der DB AG und bei den Privatbahnen zu synchronisieren, also aneinander anzupassen. Unser Ziel war eine gemeinsame Tarifrunde 2020. Doch dann kam Corona. Wir mussten unsere Strategie in das Jahr 2023 verschieben.

Ich gehen davon aus, dass ihr die Zeit für eine intensive Vorbereitung genutzt habt?

So ist es. Bereits Ende 2021 haben wir damit begonnen, die Forderungen intern zu diskutieren, beispielsweise in gemeinsamen Zukunftswerkstätten. Darauf folgte die Entwicklung gemeinsamer zentraler Forderungen sowie spezifischer Unternehmensforderungen bis Februar 2023. Am Ende verständigten wir uns in einer gemeinsamen Tarifkommissionssitzung auf zwölf Prozent und einen Mindestbetrag von 650 Euro – hinzu kamen die unternehmensspezifischen Forderungen.

Ich würde gern nochmal zurück zur Urabstimmung kommen. Du hast von einem berechtigten, sehr hohen Erwartungsdruck der Beschäftigten gesprochen. Gerade jetzt, wo alles teurer wird, haben sich offenbar viele Kollegen ein besseres quantitatives Ergebnis gewünscht, oder?

Offensichtlich. Allerdings erleben wir bei jeder Tarifrunde, dass sich der ein oder andere einen höheren quantitativen Abschluss gewünscht hätte. Das ist immer so, weil Tarifabschlüsse natürlich Kompromisse sind und sich der tatsächliche Abschluss von der ursprünglichen Forderung unterscheidet. Allerdings ist es diesmal anders. Ich habe nach dem Einigungsvorschlag der Schlichter mit einem Kollegen des WSI telefoniert, der mich fragte, was bei uns los sei. Er hatte gesehen, dass unter dem Facebook-Beitrag der EVG zur Einigungsempfehlung von 250 Kommentaren 249 negativ waren. Er wunderte sich, weil auch er den Schlichtungsvorschlag eigentlich gar nicht so schlecht fand.

Lässt sich aus den Reaktionen auf einen Facebook-Beitrag wirklich eine grundsätzliche Unzufriedenheit unter den Mitgliedern ableiten?

Es ist nicht bei diesem einen Stimmungsbild geblieben, sondern setzte sich fort. Unter jeder unserer Veröffentlichungen finden sich häufig weit über 500 negative Kommentare. Als wir das Ergebnis der Urabstimmung bekannt gaben, ernteten wir über 1.700 meist negative Kommentare.

Wie erklärst du dir das?

Eine abschließende Erklärung habe ich noch nicht. Einerseits gab es durch die gemeinsame Runde eine große Solidarität und ein großes Gemeinsamkeitsgefühl, vor allem nach dem gemeinsamen Warnstreik mit ver.di. Andererseits hat aber gerade diese Gemeinschaft dazu geführt, dass über 50 Tarifrunden gleichzeitig liefen. Das hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen und die Erwartungen vieler Kollegen eher gesteigert als gesenkt – und vielleicht am Ende zu großem Frust geführt.

Was genau meinst du damit?

Die Verhandlungsstrategie der Deutschen Bahn war von Anfang an sehr konfrontativ. Die Arbeitgeber haben auf Zeit gespielt und immer wieder darauf gedrängt, nur im kleinen Kreis zu verhandeln. Mehrfach haben sie die Tarifkommission brüskiert und uns durch Tricksereien versucht, mürbe zu machen.

Kannst du uns ein Beispiel geben?

Das DB-Management hatte bei einem Verhandlungstermin gefordert, solange zu verhandeln, bis weißer Rauch aufsteigt. Daraufhin verlängerten wir den Aufenthalt für die Verhandlungsgruppe und organisierten zusätzliche Hotelkapazitäten für die Tarifkommission. Am nächsten Morgen verließen die Arbeitgeber die Verhandlungen, um mit einer anderen Organisation zu verhandeln. Die perplexe Tarifkommission erfuhr von dem Vorgehen der Arbeitgeberseite erst durch einen Facebook-Beitrag. Aus meiner Sicht spiegelt diese zugespitzte Konfrontationsstrategie eine fehlende Wertschätzung des „Sozialpartners“ wider. Das waren wir bisher so nicht gewohnt. Gleichzeitig steigerte diese Verhandlungsstrategie bei vielen Kolleginnen und Kollegen unerfüllbare Erwartungen an die Gewerkschaftsverhandlungskommission. Uns fehlt die Erfolgsgeschichte, die wir erzählen können und die sich an Zahlen ablesen lässt. Zusätzlich spiegelt sich in dem Ergebnis der Urabstimmung aber auch eine generelle große Unzufriedenheit mit dem Arbeitgeber wider.

Drückt sich darin auch aus, dass eine relevante Anzahl von Kollegen für einen unbefristeten Streik bereitgestanden hätte?

Ja und Nein. Sicher gibt es einen Teil von Kolleginnen und Kollegen, die für einen Streik bereit gewesen wären. Aber es gibt auch einen großen Teil von Kolleginnen und Kollegen, die mit der Schlichterempfehlung nicht zufrieden sind, diese in der Urabstimmung abgelehnt haben, aber von der EVG trotzdem eine Stellvertreterpolitik erwarten.

Was meinst du mit Stellvertreterpolitik?

Ich will das mal an einem Beispiel deutlich machen. Auf einer der Veranstaltungen, in denen wir das Ergebnis gemeinsam berieten, erklärte mir ein Kollege verärgert, dass man das Ergebnis nur ablehnen könne. Auf die Frage, ob er denn auch bereit sei, für ein anderes Ergebnis länger zu streiken, antwortet er: „Nein, Streik kann ich mir nicht leisten“. Er argumentierte, dass er arbeiten müsse, weil er vom Streikgeld nicht leben könne. Es gab viele Kollegen, die sich so äußerten. Sarkastisch gesagt hätten ein Zelt vor dem Bahn-Tower und ein Hungerstreik der Tarifabteilung kein besseres Ergebnis gebracht. Im Ernst: Es war gar nicht so klar zu bemessen, wie groß die Kampfbereitschaft wirklich war.

Hätte ein Streik vor der Schlichtung das Ergebnis verändert? Die EVG ist ja recht schnell in die Schlichtung gegangen?

Viele haben nicht wahrgenommen, dass wir sogar vor der Urabstimmung noch einen Warnstreik in der Planung hatten. Der 4. Juli ist leider durchgesickert und stand in der Presse. Wenn man dann zur Schlichtung „eingeladen“ wird, kann man schlecht sagen, dass einem die Lust auf Streik wichtiger ist. Ohne den Rückhalt in der Öffentlichkeit ist ein Streik kaum durchzuhalten. Diese „Einladung“ war also nicht abzulehnen.

Aber am Ende ist man nicht gezwungen, dem Vorschlag der Schlichter zu folgen. Es handelt sich ja allenfalls um eine Empfehlung. Hätte die EVG das Ergebnis der Schlichter auch ablehnen und einen Streik organisieren können?

Auch da ist meine persönliche Einschätzung: Ein Streik macht den Abschluss schöner, aber nicht besser, sondern schlechter!

Was heißt das?

Der Abschluss kann nur besser werden, wenn insgesamt mehr Geld zur Verfügung steht. Das heißt, mit dem unbefristeten Streik hätte auch zusätzliches Geld durch die Bundesregierung durchgesetzt werden müssen. Und das in einer Zeit, in der sich die Koalition in einem peinlichen Haushaltsstreit befindet. Bundesverkehrsminister Wissing lehnt zusätzliche Zuschüsse für das 49 Euroticket ab und steckt viel zu wenig Geld in die Finanzierung der Bahn-Infrastruktur. Ich bin sicher, dass die nötigen Euros nicht lockerer gesessen hätten, nur weil Lindner und Wissing so großes Verständnis für die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner haben.

Ist es wirklich Aufgabe der Gewerkschaft, sich vor einem Streik Gedanken zu machen, wo die Arbeitgeberseite das Geld für einen guten Abschluss hernimmt? Immerhin hat sich Bahnchef Richard Lutz noch vor einem halben Jahr durch Boni das Gehalt mehr als verdoppelt.

Nein, das ist nicht die Aufgabe der Gewerkschaft. Darum geht es mir auch nicht. Mir geht es vielmehr darum, bei der Abwägung eines Streiks die Kräfteverhältnisse in den Blick zu nehmen. Schon ohne einen Streik ordnen Medienberichte den Tarifabschluss als Maßlosigkeit der Beschäftigten ein. Die Welt titelte beispielsweise am 29. August: „Wer gegen mehr als 14 Prozent Lohnerhöhung stimmt, lebt in einer Parallelwelt“. Den öffentlichen Druck im Falle eines Streiks hätten wir vielleicht aushalten können. Aber ein hoher Abschluss führt nicht automatisch dazu, dass die Bundesregierung mehr Geld gibt. Ohne zusätzliches Geld kann man aber nur innerhalb des Volumens umverteilen. Das bedeutet, dass wir die qualitativen Elemente unseres Forderungskataloges zugunsten von quantitativen Elementen hätten aufgeben müssen. Vielleicht wäre es gelungen, statt 410 Euro 450 Euro durchzusetzen. Viele andere Punkte aber, etwa die volle Teilnahme der Busse oder Dienstleister, die Leistungen des „Fonds soziale Sicherung“ oder gar das Überstundensystem der Bahn hätten geopfert werden müssen. Der Abschluss wäre schöner, aber schlechter.

Wie geht der Vorstand jetzt mit dem Ergebnis um?

In der Bundesvorstandssitzung nach dem Ergebnis der Urabstimmung hat die Diskussion begonnen. Die Härte der Kritik hat uns überrascht. Wir wollen die Reaktionen auf den Abschluss wissenschaftlich aufarbeiten lassen, weil uns hier auch ein neutraler Blick von außen wichtig ist. Außerdem müssen sich die Rechtsabteilung und die Kommunikationsabteilung besser aufstellen. Ich für mich kann nur sagen, dass ich erschrocken war über eine ganze Reihe unkollegialer Beiträge. War ich in der Tarifrunde noch stolz auf die Solidarität gerade mit denen, die weniger verdienen, hat sich dies leider inzwischen fast umgekehrt. Es stellt sich die Frage, wann die Grenzen der Solidarität erreicht sind und wie man in Zukunft damit umgeht.

Was meinst du mit Grenzen der Solidarität?

Wir hatten uns bewusst für eine soziale Komponente entschieden, nun gibt es massive Kritik, dass wir die oberen Entgeltgruppen vergessen hätten. Wir hatten uns bewusst für eine Abschaffung der regionalen Entgeltstrukturen bei einigen Dienstleistern entschieden, nun gibt es Kritik, dass der Osten und Norden mehr bekommen als der Westen und Süden. Wir hatten uns entschieden, den gesetzlichen Mindestlohn nach vorne zu stellen. Nun wird behauptet, dass wir für den gesetzlichen Mindestlohn gestreikt hätten, die Kolleginnen und Kollegen in anderen Bereichen das aber nicht wussten. Wir hatten auch beschlossen, dass wir zur Überarbeitung des Entgeltsystems als ersten Schritt Verwerfungen aus der Vergangenheit glattziehen, um auf dieser Grundlage zu einem späteren Zeitpunkt die notwendigen Strukturanpassungen durchzusetzen. Dass nun einige mehr bekommen als andere, wird als Spaltung diskutiert. Dabei wurde die Spaltung in der Lohnstruktur durch den Abschluss ja gerade beseitigt.

Was heißt das für die Zukunft?

Dass wir genau an diesen Fragen diskutieren müssen, wie heute Kommunikation stattfindet und wie wir dies in den nächsten Runden besser machen. Gleichzeitig muss die jetzige Einigung weiter erklärt werden, weil sich in den über 350 Veranstaltungen nach der Einigungsempfehlung und während der Urabstimmung gezeigt hat, dass die persönliche Information und das persönliche Gespräch über Facebook und Co. triumphieren können. Insgesamt muss der Umgang mit den sozialen Medien neu diskutiert werden.

Das Gespräch führte Ulrike Eifler. Sie ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft in der Partei DIE LINKE und Redakteurin der Freiheitsliebe.

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