Seenotrettung gilt als eines der meistdiskutierten politischen Themen der vergangenen Jahre. Claus-Peter Reisch, Kapitän der Lifeline, macht in seinem Buch „Das Meer der Tränen“ deutlich, dass die Diskussion sich nicht um Seenotrettung, sondern um das Versagen der Politik, die Bekämpfung der Fluchtursachen und die Kriminalisierung der Seenotrettung drehen sollte.
„Das Meer der Tränen“ ist kein klassisches politisches Buch, es ist keine Aneinanderreihung von Zahlen und Fakten, kein emotionsloses Werk, das einfach Wissen vermitteln soll – es ist ein Exkurs durch das Leben von Claus-Peter Reisch. Der Leser wird mitgenommen auf eine Reise, die von der Kindheit des Kapitäns bis zum Sommer des letzten Jahres führt. Diese Reise zeigt, wie aus einem wenig aktivistischen Geschäftsmann ein Mann geworden ist, der vor Gerichten Proteste mitinitiiert und heute einer der lautesten Kritiker des deutschen und europäischen Versagens auf dem Mittelmeer ist.
230 Leben gerettet – Anklage auf Malta
Im Zentrum des Buches – in dem Sänger Udo Lindenberg dem Autor ein Vorwort gewidmet hat – steht die Rettung von 230 Menschen im Juni des Jahres 2018. Eine Rettung, die dazu führte, dass die Lifeline 2 auf Malta festgesetzt wurde und Reisch sich wegen verschiedener Vorwürfe vor einem maltesischen Gericht verantworten musste. Vorwürfe, die bis auf die falsche Anmeldung des Schiffs (inzwischen ebenfalls gerichtlich als falsch beschieden) vor Gericht abgelehnt wurden. Die Folgen der Klage allerdings sind die Festsetzung eines Schiffs, das in wenigen Tagen hunderte Menschen rettete, für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr, während in der gleichen Zeit Tausende auf dem Mittelmeer ertrinken, auch weil die Regierungen Europas noch immer nichts tun, um gegen das Sterben auf dem Mittelmeer vorzugehen.
Reisch beschreibt, wie der Prozess ihm und der Crew einerseits zwar Anfeindung einbringt, andererseits jedoch auch die Möglichkeit, einer breiteren Öffentlichkeit die Wichtigkeit der Seenotrettung zu erläutern. In diesem Kontext spielen Gespräche mit Politikern ebenso eine Rolle wie Berichte über die Schicksale der Geflüchteten, die Reisch persönlich nahegehen und ihn von Freunden reden lassen, mit denen er immer noch Kontakt pflegt. Er beschreibt aber auch bildlich, wie die Flüchtenden von libyschen Schleppern über den Tisch gezogen werden und in Booten aufs Meer gehen, die die Fahrt wohl niemals aushalten werden: „Eigentlich ist das Wort ‚Boot‘ für das, worin die Flüchtlinge sitzen müssen, ein beschönigender Ausdruck. Spanplatten mit einer durch Autoabgase aufgepusteten LKW-Plane als Gummirand beschreibt es besser. Der Boden besteht aus wasserabweisendem Sperrholz. In einem deutschen Baumarkt erhält man für ähnliche Qualität mit ein bisschen Glück den Quadratmeter für 10 Euro.“
Flüchtlingsbekämpfung als Geschäft
Immer wieder kommt in dem Buch die Sprache auf die libysche Küstenwache – ein Haufen Banditen, die Geld von der EU dafür bekommen, dass Menschen nicht nach Europa flüchten. Eigentlich mit dem Auftrag, sie auch vor dem Ertrinken zu retten, doch dafür sind sie meist nicht ausgerüstet und haben auch wenig Interesse daran. Im Gegenteil: Sie bekämpfen die Seenotretterinnen und Seenotretter, die die Flüchtenden vor dem Tod retten. So müssen Reisch und seine Crew mitanhören, wie ein Mitglied der libyschen Küstenwache mehrmals sagt, dass er sie umbringen will.
Das Versagen der europäischen Politik
Ein anderes, ebenfalls unvermeidbares Thema, wenn es um Seenotrettung geht, ist die Politik, zumindest seit Teile der Politik der Meinung sind, dass es ein Verbrechen ist, Menschen vor dem Tod zu retten. Reisch sieht den Ausgang dabei schon in den 80er Jahren und der Cap Anamur, dem wohl ersten deutschen Flüchtlingsrettungsboot. Und auch damals wurden die Crewmitglieder schon als Schleuser und ähnliches diffamiert.
Reisch macht dies aber auch an der Ausbeutung Afrikas durch europäische Konzerne deutlich. Gespickt mit persönlichen Erfahrung verdeutlicht er, wie die europäische Wirtschafts- und Handelspolitik immer mehr Menschen zur Flucht treibt. Auch die zunehmende Rolle des Klimawandels findet ihre Erwähnung, noch stärker allerdings die Unterstützung von Diktatoren und Mördern durch die europäischen Staaten.
Neben all den persönlichen Einschätzungen, den Berichten, die einem die Dringlichkeit der Seenotrettung noch einmal vor Augen führen und deutlich machen, dass es Irrsinn ist, auch nur darüber nachzudenken, ob es irgendwie falsch sein könnte, Menschen zu retten, bleibt das Wissen, dass dieses Versagen kein Naturphänomen ist, sondern Folge der Politik. Eine im Buch zitierte Gedenktafel für auf dem Meer gestorbene Geflüchtete verdeutlicht dies: „An der Schwelle zur Ewigkeit wiegt alle Menschlichkeit ebengleich. Hier liegen 24 jener vielen Menschen, weil sie durch unsere Gleichgültigkeit ihr Leben grausam an das Meer verlieren mussten. Mögen sie als unsere Mütter, Väter, Brüder, Schwestern und Kinder in Erinnerung bleiben.“
Dieses Buch ist nicht nur eine eindrucksvolle Beschreibung des Alltags eines Menschen, der Leben rettet, es ist auch eine implizite Aufforderung, niemals zu schweigen, wenn das Recht auf Leben in Frage gestellt wird, und deutlich zu fordern, dass niemand mehr auf dem Mittelmeer ertrinken muss, sondern sichere Wege geschaffen werden.
Das Buch ist allen ans Herz gelegt, die wissen wollen, wie der Alltag auf einem Rettungsschiff und die Arbeit für die Seenotrettung aussieht. Noch mehr ist aber jenen ans Herz gelegt, die anzweifeln, dass man Menschen retten sollte.
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