Dieser Roman, der bereits 1983 vom Afrikaans ins Englische übersetzt wurde, erschien erst in diesem Jahr auf Deutsch. Die Autorin, Wilma Stockenström, geboren 1933 in Südafrika, ist in Deutschland kaum bekannt.
Die Ich-Erzählerin, eine entlaufene Sklavin, hat sich nach ihrer Flucht und einer langen Reise ins Innere eines riesigen Baobabs zurückgezogen. Dort lebt sie von dem, was ihr die Natur bietet und was ihr die „kleinen Menschen“, es handelt sich wohl um Mitglieder des südafrikanischen Volkes der San, bringen. Diese meiden jedoch jeglichen direkten Kontakt, so dass ihr menschliche Ansprache fehlt. Sie verbringt ihre Zeit mit Schlafen und Träumen.
In ihren Träumen und Berichten lässt sie ihr Leben Revue passieren. Als sehr junges Mädchen wurde sie gefangen genommen und versklavt. Ihr erster Besitzer hat nur das Ziel, sie, die nicht beschnitten ist, zu entjungfern, wie zuvor und danach viele andere. Sie wird weiterverkauft an einen zweiten, dritten und schließlich vierten Besitzer. Der letzte Besitzer, ein reicher Kaufmann, verliebt sich in sie und sie lebt als seine Geliebte bei ihm. Dadurch bleibt ihr während dieser Zeit viel vom Elend des Sklavendaseins, das sie zuvor selbst erlebte, erspart. Sie gebiert Kinder, die ihr weggenommen werden, um wiederum als Sklaven verkauft zu werden. Nach dem Tod des letzten Herrn flieht sie mit dem „Fremden“, begibt sich mit ihm auf eine Reise durch das Innere Afrikas, aber gleichzeitig auch in ihr eigenes Inneres, eine Reise zu sich selbst, die im Baobab-Baum ihr Ende findet. Dort sind es die „kleinen Menschen“, die sie versorgen und somit über ihr Wohlergehen entscheiden. Dennoch ist sie einsam, da diese „kleinen Menschen“ keinen direkten Kontakt mit ihr aufnehmen. „Eine unermesslich Entfernung zwischen mir und ihnen, die Perlen und Tonscherben hinterlassen haben, uneinholbare Zeit, unüberbrückbare Entfremdung, meine Einsamkeit unwiderruflich und durch diesen winzigen Fund noch verstärkt, die Dauer der Einsamkeit endlos,….“
Die chronologische Zeit wird in der Erzählung aufgehoben, spiralförmig wie ein Schneckenhaus angeordnet, erscheint das Erzählte sich gleichzeitig abzuspielen. Reale und imaginäre Wirklichkeit verschwimmen und scheinen ineinanderzufließen: „Ganz am Anfang hatte es keine Zeit gegeben, weil für eine Zeiteinteilung keine Zeit war, und es hatte keine Kategorien gegeben, weil das Herumscharren zum Überleben alle Unterscheidungen auslöscht.“
So steht denn auch die Ich-Erzählerin ebenso wie die anderen Personen des Romans gleichsam sinnbildlich für die afrikanische Realität. Keine der Personen hat einen Namen, der sie identifizierbar machen könnte. Sie stehen vielmehr symbolisch für Kategorien von Menschen; der reiche Kaufmann, der älteste Sohn, der Wohltäter, der Fremde, die Freundin. Alle sind sie konkret und bleiben dennoch schattenhaft. Auch die Umgebung ist nur in Kategorien benannt, die große Stadt, der Fluss, das Feld. Scheinbar konkret, jedoch gleichzeitig nicht wirklich zu verorten.
Dieser poetische, lesenswerte Roman, der sich in der Erzählweise an die Mythologie der San anlehnt, entführt den Leser in eine unbekannte, magische Welt, in der reale und imaginäre Wirklichkeit verschwimmen.
Wilma Stockenström, Der siebte Sinn ist der Schlaf. Aus der englischen Fassung von J. M. Coetzee übertragen von Renate Stendhal., Wagenbach Verlag, Berlin, 2020.
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