Claudia Roth

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Berlinale: Brief von Shelly Steinberg an Claudia Roth

Im Zuge der Berlinale ist in Deutschland eine Debatte entbrannt, in der unhaltbare Vorwürfe gegen mehrere Personen vorgebracht wurden, die auf der Bühne ihre Solidarität mit den Palästinenserinnen und Palästinensern zum Ausdruck brachten – insbesondere gegen den palästinensischen Filmemacher Basel Adra und seinen Co-Regisseur Israeli Yuval Abraham, die für ihren Film „No Other Land“ ausgezeichnet wurden. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Brief von Shelly Steinberg von der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München an die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Freiheitsliebe-Redaktion).

Sehr geehrte Frau Roth,

ich wende mich an Sie, da ich sprach- und fassungslos bin angesichts der Reaktionen auf die Reden auf der Berlinale 2024.

Ich selbst bin in Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen. Ich habe Judaistik, Jüdische Geschichte und Kultur sowie Kultursoziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert. 2010 habe ich im Rahmen des IPS (International Parliamentary Scholarship) für den Bundestag ein Praktikum in der Knesset in Jerusalem absolviert.

Seit Jahren ist hier in Deutschland ein äußerst bedenkliches, repressives Vorgehen der Politik gegenüber israelkritischen Stimmen zu sehen. Um eine pro-israelische Agenda durchzusetzen, missbrauchen Politiker und weitere öffentliche Institutionen den Begriff Antisemitismus. Diese Diffamierung macht auch vor jüdischen beziehungsweise israelischen Kritikern keinen Halt. Es ist zu beobachten, wie deutsche Politiker sich zu Handlangern der Israellobby machen und dabei geltendes Recht missachten.

Meinungsfreiheit ist eines der höchsten demokratischen Güter – doch sobald es um Israel geht, wirft die deutsche Politik rechtsstaatliche Prinzipien über Bord. Zugunsten der Politik Israels wird Menschen das in der Verfassung verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit entzogen. Meinungsfreiheit bedeutet aber nicht nur das Recht des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung, sondern auch das Recht, sich freiheitlich eine Meinung bilden zu können; mit den permanenten Zensuren missachtet der Staat somit das Recht der Gesellschaft, Zugang zu unterschiedlichen Informationen zu bekommen. Und genau dieses Spektrum an Informationen zu gewährleisten, wäre die Aufgabe der politischen Ebene und nicht – so wie sie es jetzt tut – eine bestimmte Meinung und Direktive vorzugeben und mit verfassungswidrigen Repressionen durchzusetzen.

Antisemitismus ist ganz klar als Hass/Anfeindung gegen Juden aufgrund ihrer bloßen Existenz als Juden definiert. Beim Antisemitismus geht es wie bei jeder Form des Rassismus nicht darum, was gemacht wird, sondern vom wem etwas gemacht wird – nicht das Was, sondern das Wer ist hier entscheidend. Und daher ist der Antisemitismusvorwurf gegen Kritiker der israelischen Politik absurd. Den Palästinensern und ihren Unterstützern ist es egal, dass die Besatzer und Unterdrücker Juden sind – wären die Besatzer Buddhisten, würden sich die Palästinenser genauso wehren. Es sind doch eher die Deutschen, die mit einer regelrechten Obsession alles verteidigen, was Israel macht, weil es sich dabei um Juden handelt. Es sind die Deutschen, für die das Wer die entscheidende Rolle spielt – und das entspricht ganz klar der Definition von Antisemitismus.

Das Wort „Jude“ ist kein einziges Mal auf der Berlinale gefallen. Dennoch wird hier Antisemitismus herbeifantasiert. Wenn man den Begriff „Genozid“ in Bezug auf Israels Vorgehen in Gaza nicht verwenden darf, weil das antisemitisch sei, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass Genozid etwas Jüdisches sei. Es ist eine schiere Unverschämtheit, welches Bild des Judentums von deutschen Politikern hier gezeichnet wird. Es ist nichts Jüdisches, Kinder, Männer und Frauen zu entrechten, zu entwürdigen und umzubringen. Es ist nichts Jüdisches, Land eines anderen Volkes zu rauben und die dortige Bevölkerung zu unterdrücken und auszubeuten. Daher KANN die Kritik an solchen Zuständen gar nicht antisemitisch sein. Wer jedoch angesichts dieser Verbrechen von Antisemitismus spricht, missbraucht diesen Begriff und zeichnet ein widerliches Bild vom Judentum. Gegen eine solche Darstellung des Judentums verwehre ich mich vehement!

Statt in den eigenen Reihen wahren Antisemitismus zu bekämpfen, wird hier gegen jeden Israelkritiker geschossen. Ein solches Vorgehen wirkt sich nicht sonderlich förderlich für die demokratische Ordnung in diesem Land aus.

Es wäre schön, wenn auch einmal andere jüdische Stimmen als die des Zentralrats der Juden Gehör finden würden – denn der Zentralrat vertritt nur die absolute Minderheit der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Der Zentralrat ist kein von den Bürgern gewähltes politisches Organ, daher herrscht bei den Bürgern Unverständnis über die enorme Einflussnahme des Zentralrats auf bestimmte politische Themen. Es ist nicht Aufgabe der deutschen Politiker, sich in Israelbelangen Vorgaben durch den Zentralrat geben zu lassen und diese dann unkritisch umzusetzen.

Ich stehe gerne jederzeit für einen weiteren Austausch zur Verfügung

Mit freundlichen Grüßen,

Shelly Steinberg
Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München

Wir bedanken uns bei Shelly Steinberg für ihre Genehmigung, diesen Brief zu veröffentlichen.

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15 Antworten

  1. Ein Brief mit Brisanz.
    Er hält der deutschen ( nicht nur ) Israelpolitik den Spiegel vor.
    Jetzt braucht es nur noch Leute in der Regierung, die diesen Inhalt auch verstehen und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.

    1. Leider sind unsere derzeitigen Politiker nicht in der Lage das reale Bild darzustellen und auch damit öffentlich zu argumentieren alle die ein andere meinung haben werden beschimpft diskriminiert sie sollten alle vor ihrer eigenen Tür kehren und diesen Brief mit diesem wahrlich ehrlichen Worten lesen das sie es endlich mal verstehen

      1. Ich finde diesen Brief auch sehr gut und bin vollkommen ihrer Meinung, fühle mich glücklich
        , dass es noch mehr normale Positiv
        denkende Menschen gibt 👍

  2. Deutschland geht in allen belangen den Bach runter. Danke für diesen Bericht, diese Seite merke ich mir. Für mich ist Deutschland gestorben und ich wandere im September aus in die Türkei. Diese Ungerechtigkeit ist nicht mehr zu ertragen.

  3. Nein Frau Shelly Steinberg, in ihrem Brief haben sie “ die Antisemitismus “ Debatte in Deutschland verurteilt. Zunächst einmal der Angriff ging von der palästinensischen Hamas aus. Ja es gibt einen Stereotypen Aufschrei “ Antisemitismus darf es nicht geben“ sicherlich ist nicht alles von der“ s.g. Meinungsfreiheit “ gedeckt.

    Aber nochmals das Abschlachten welches einzig die palästinensische Hamas zu verantworten hat, und sie
    Diese mit keinem Wort in ihrem Brief erwähnen, zeigt IHRE Einseitigkeit dieses Massakers. Ob unsere nicht immer „bravorös“ handelnden Politiker sich vom Zentralrat der Juden instrumentalisieren lassen könnte durchaus sein aber das ist wiederum ihre Meinung „s. Meinungsfreiheit “ und dennoch sie versuchen hier eine Täter/Opfer verdrehung. Ich teile durchaus einiges in ihrem Brief aber NICHT dass wir gegen Antisemitismus von welcher Seite auch immer aufstehen sollten auch wenn Ihnen das nicht passt. Margret

  4. Solchen Stuss wie den von Euch habe ich lange nicht gelesen.
    Wären die palästinensischen Massaker und Geiselnahmen – Kinder, Frauen, Alte darunter – vom 7.10.23 nicht gewesen, hätte Israel den Gazastreifen nicht angegriffen. Erst haben viele Palästinenser über die Massaker gejubelt, jetzt jammern sie.

    1. du weißt schon das die palästinenser seit den 70ern von israelischer seite angegriffen werden. desshalb auch seit über 50 Jahren dort misarable verhältnisse herschen. Nur weil das jetzt in den Nachrichten gezeigt wird heißt es noch lange nicht das es das nicht gab. Und das sag ich als Jude der lange in Israel gelebt hat
      Erst informieren dann schreiben

  5. Vielen Dank für diese offenen und wahren Worte. Leider werden sie in der immer zu 100% einseitigen deutschen Medienlandschaft untergehen oder nur eine Randnotiz bleiben. Doch diesmal verstummen die Stimmen nicht wie sonst nach ein paar Wochen des Mordens. Ich hoffe inständig, dass sich Israel diesmal mit seiner unverschämten, überheblichen Art schwer verkalkuliert hat und sich immer mehr Menschen gegen dieses rechtsradikale Regime positionieren werden.

  6. Jedes Wort ist richtig in diesem Brief. Danke dafür. Erich Fried hat das schon vor 50 Jahren gesagt:

    Höre, Israel

    Als wir verfolgt wurden,
    war ich einer von euch.
    Wie kann ich das bleiben,
    wenn ihr Verfolger werdet?

    Eure Sehnsucht war,
    wie die anderen Völker zu werden
    die euch mordeten.
    Nun seid ihr geworden wie sie.

    Ihr habt überlebt
    die zu euch grausam waren.
    Lebt ihre Grausamkeit
    in euch jetzt weiter?

    Den Geschlagenen habt ihr befohlen:
    „Zieht eure Schuhe aus“.
    Wie den Sündenbock habt ihr sie
    in die Wüste getrieben

    in die große Moschee des Todes
    deren Sandalen Sand sind
    doch sie nahmen die Sünde nicht an
    die ihr ihnen auflegen wolltet.

    Der Eindruck der nackten Füße
    im Wüstensand
    überdauert die Spuren
    eurer Bomben und Panzer.

    Erich Fried 1974

  7. Es ist grundsätzlich zur modernen Form der Auseinandersetzung mit kritischen Meinungen in diesem Land geworden, anstatt sich ernsthaft damit zu beschäftigen, werden diese rücksichtslos bekämpft und deren Vertreter gnadenlos denunziert.
    Als ehemaliger DDR Bürger kann ich versichern, dass diese Vorgehensweise stark an die Politik der SED erinnert!
    Ist das die propagierte Zeitenwende? Nein Danke, diese Zeitenwende habe ich nicht gewählt.
    Frau Roth, schämen Sie sich! Sie schaffen mit solcher Politik, die Basis für Radikalismus und Demokratiefeindlichkeit!

  8. Ich empfehle allen, die nur die Schuld der Palästinenser sehen das Buch: Der Sohn des Generals von Mika Peled. Sohn eines hochdekorierten israelischen Generals. Vielleicht erahnen sie dann .Was der UN Generalsekretär meinte mit das Massaker geschah nicht im luftleeren Raum.
    Nicht so verstehen, als dass ich Massaker von wem auch immer gutheiße.

  9. Der große frühzionistische jüdische Gelehrte Martin Buber hat seit 1920 ein faires friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern in Palästina bis zu seinem Lebensende gefordert und darunter gelitten, daß seine Mahnungen umsonst blieben. Die böse zionistische Saat, nämlich begonnen mit der Vertreibung von rd. 750 000 Arabern im Jahr der Staatsgründung 1948 ,ist seitdem aufgegangen und hat, gedüngt durch Vertreibung von weiteren 300 000 Arabern im Jahr 1967 dem 07. 10. 2023 eine todbringende giftige Ernte hervorgebracht. Das Verbrechen der Hamas ist abscheulich, aber wie UN – Guiterres richtig festgestellt hat, nicht in luftleerem Raum entstanden. Gewarnt haben seit den 80-er Jahren die israelischen Historiker Simha Flapan, Tom Segev; Ilan Pappé und Avi Shlaim, vergeblich.

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