Staat, Macht und Gewalt in Südkurdistan

Der Titel des Artikels ist angelegt an das wegweisende Werk des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan, “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt”, in dem das politische Modell des Demokratischen Konföderalismus ausgeführt wird, welches die kurdische Bewegung u.a. in Rojava zu verwirklichen versucht. Die Kurdische Autonomieregion (Nordirak/Südkurdistan) jedoch, in der wir uns zwei Wochen aufhielten, stellt zwar den ersten kurdischen “Staat” da, ist aber unseres Erachtens geprägt von wirtschaftlicher Abhängigkeit, politischer Korruption und staatlicher Unterdrückung. Der zweite Artikel unserer Kurdistan Reihe.

Die Autonome Region Kurdistan im Norden des Irak erlebt seit der Entmachtung Saddam Husseins im Jahr 2003 einen rasanten Aufschwung. Die damals neu verhandelte irakische Verfassung räumt der Region zahlreiche Selbstverwaltungsrechte ein und ihr Präsident Masud Barzani regiert nun quasi einen eigenen kurdischen Staat. Die irakische Zentralregierung in Bagdad hat im Norden nur noch wenig zu sagen. Südkurdistan hat eine eigene Armee (die Peshmerga), eine eigene Polizei, eine Nationalhymne, ein eigenes Parlament und seit der Irak durch den Einmarsch des “Islamischen Staates” (IS) stark geschwächt ist, auch eine eigene Außenpolitik. Der Haushalt Südkurdistans wird zwar immer noch von der irakischen Regierung finanziert, doch kommt dieses Geld wiederum aus den vielen Ölquellen im kurdischen Gebiet. Bagdad hat zwar die Pipelines nach außen gesperrt, doch Barzani lässt das Öl einfach mithilfe von Tanklastern direkt an und über die türkische Regierung verkaufen.

Öl & Konsum

Demonstration von Studierenden zugunsten des Regierungspräsidenten Masud Barzani
Demonstration von Studierenden zugunsten des Regierungspräsidenten Masud Barzani

Der sichtbare Wohlstand und das geschäftige Treiben in Südkurdistan basieren gänzlich auf jenem schwarzen Gold. Die weiterverarbeitende Wirtschaft ist nur schwach ausgeprägt, es werden Rohstoffe exportiert und Konsumgüter importiert. Etwa ein Viertel der Menschen ist arbeitslos, genaue Zahlen sind allerdings schwer zu ermitteln. Reisende werden feststellen: Der Döner im Restaurant ist nicht sehr viel günstiger als in Berlin, dafür ist Kleidung spottbillig. Für die zahreichen Hotels gibt es anscheinend weniger Gäste als vorgesehen, daher halten sich die Kosten für eine Übernachtung in Grenzen. Zum Bezahlen tauscht man Geld (Irakische Dinar) am Straßenrand ein, Geldautomaten dagegen sind rar. Steuern erhebt die Regierung übrigens nicht.
Auch wenn man sich in Erbil gerne souverän und unabhängig gibt, die Wirtschaft hängt vor allem von türkischen Investments ab, wie z.B. die zahlreichen Neubauten. Die USA erhalten vertraglich festgelegt etwa 20% der Öleinnahmen über Joint Ventures. Quasi als Sold für den Sieg über Saddam Hussein.

Südkurdistan scheint zu einer reinen Konsumgesellschaft mutiert, wie uns auch die GenossInnen vor Ort bestätigen. Mit dem Öl versiegen auch die Einnahmen und das ganze Konstrukt bricht zusammen. Etwa 700.000 Menschen sind bei der Regierung angestellt (Soldatinnen, Polizisten, Beamtinnen), bei etwa fünf Millionen EinwohnerInnen (plus zwei Millionen Flüchtende). Trotz der hohen Erwerbslosigkeit sind überall Arbeitskräfte aus Asien zu sehen, die die “Drecksarbeit” verrichten, wie z.B. Müllabfuhr oder Gebäudereinigung. Um ihre Arbeitsrechte ist es selbstverständlich schlecht gestellt. Der Rest der Menschen erfreut sich des Konsumrausches, nicht zuletzt durch die hohen Gehälter der Staatsangestellten ermöglicht, von denen ganze Familien abhängen. Clanstrukturen und Vetternwirtschaft sind auch hier noch stark ausgeprägt – zum Vorteil für jene, die einer der beiden großen kurdischen Parteien angehören (der wirtschaftsliberalen Regierungspartei PDK oder der sozialdemoratischen PUK). Doch vor allem wer sich offen gegen Barzani stellt, muss mit Nachteilen rechnen, die bis zur Repression reichen. Demonstrationen gegen ihn werden mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst, andere Parteien müssen mit Verfolgung rechnen. So wurden die parlamentarischen Ableger der PKK vor einem halben Jahr von der Regierung verboten, PolitikerInnen verhaftet und Büros geschlossen. Die türkisch-kurdische linke Partei der Völker (HDP) hat beschlossen, sich aufgrund der Repressionen nur noch der Diplomatie wegen im Land zu betätigen. Auch die Gewerkschaften im Land haben wenig bis gar keinen Einfluss. Zum einen ist die Mobilisierung der GastarbeiterInnen ein schweres Unterfangen, zum anderen gibt es kaum IndustriearbeiterInnen, da keine nennenswerte Industrie im Land existiert. Und es versteht sich von selbst, dass die Staatsangestellten nicht streiken werden. So kommt Südkurdistan auf weniger als zwei Streiktage im Jahr.

Ein fahrender Verkäufer mit Flaggen, Schals und weiterem Fanmaterial in den Farben Kurdistans und der Regierungspartei PDK
Ein fahrender Verkäufer mit Flaggen, Schals und weiterem Fanmaterial in den Farben Kurdistans und der Regierungspartei PDK

Geschichte & Nationalismus

Auch im Irak ist die kurdische Geschichte geprägt von tödlicher Verfolgung und Unterdrückung. Saddam Hussein hatte sich die vollständige Vernichtung der kurdischen Bevölkerung vorgenommen – zwischen 1988 und 1989 wurden laut UNESCO 180.000 KurdInnen durch Giftgasangriffe ermordet. Traurige Bekanntheit erlangte die kurdische Stadt Halabdscha, in der 1988 bei einem einzigen Angriff 5.000 Menschen starben. Europäische, auch zahlreiche deutsche Firmen verdienten damals Millionen im Geschäft mit der Saddam Husseins Kriegsindustrie.

Doch kein Nationalstolz ohne die Ausgrenzung Anderer. Im Nordirak trifft es Menschen arabischer Herkunft, denen das Leben oft unnötig schwer gemacht wird. Irakische StaatsbügerInnen etwa benötigen ein spezielles Visum für die Autonomieregion und werden an jeden Checkpoint besonders genau überprüft.Auf die Frage nach der Zukunft Kurdistans antworteten uns Menschen auf der Straße, sie wünschten sich die Eingliederung des von Peshmerga eroberten Kirkuk und des noch unter IS-Kontrolle stehenden Mossul in kurdisches Gebiet und die Vertreibung aller Araber aus jenen Städten. Die Verfolgung von KurdInnen durch Saddam Hussein und den “Islamischen Staat” wird somit pauschal allen Menschen arabischer Herkunft angelastet.Mehr als verständlich ist daher die Identifizierung der südkurdischen Bevölkerung mit den Peshmerga, die damals Widerstand gegen die irakische Armee leisteten und heute gegen den Terror des IS kämpfen. Auch die Führer der beiden großen Parteien hatten sich an den Aufständen beteiligt und genießen daher heute noch großes Ansehen bei ihren AnhängerInnen (allerdings nicht untereinander).
Der Stolz auf die erkämpfte Unabhängigkeit zeigt sich immer wieder, z.B. durch die wirklich überall präsente Flagge Südkurdistans oder durch Kinder, die in Peshmerga-Uniform zur Schule gehen.

Das Schicksal der EzidInnen

Auf der Flucht vor dem IS in Shengal fanden die viele ezidischen Familien in Refugee Camps der südkurdischen Regierung Zuflucht. Unmittelbar nach den Angriffen war die humanitäre Lage katastrophal, seitdem ist das Leben in den Camps erträglicher geworden, dennoch mangelt es an wesentlichen Dingen. Demonstrationen gegen diese Zustände wurden von Sicherheitskräften und Peshmerga aufgehalten – eine Familie berichtete uns sogar vom Gebrauch scharfer Munition, bei der ein Demonstrant getötet wurde. Auch Kundgebungen gegen die Verhaftung ezidischer Geflüchteter richteten, wurden mit Wasserwerfern, Gasgranaten und Gummigeschossen angegriffen. Darufhin setze eine Repressionswelle gegen ezidische JournalistInnen, einfache BürgerInnen (die nicht der PDK treu waren) ein.Auch die ezidischen Selbstverteidigungskräfte Shengals (HPŞ) gerieten ins Visier der südkurdischen Regierung. So wurde deren Kommandeur Heydar Shesho verhaftet und die Auflösung der Milizen verlangt. Mittlerweile ist er wieder frei, doch viele betrachten die Vorgänge als den zweiten Verrat Barzanis an den EzidInnen. Der erste Verrat war der Rückzug der Peschmerga aus Shengal, unmittelbar vor dem Angriff des IS. Nur das entschlossene Eingreifen der PKK ermöglichte damals die Rettung tausender Familien vor dem Terror des IS. Dementsprechend berechtigt sind das Bestehen der HPŞ und Forderungen nach einem selbstverwalteten ezidischen Kanton. Diesen wird es aber nicht mit Einwilligung der südkurdischen Regierung geben.

Rojava: Reaktion & Repression

Barzani macht sich in diesen Tagen wahrlich wenig Freunde. Neben den Minderheiten im eigenen Land, darf auch die Opposition kein Verständnis erwarten. Im syrischen Teil Kurdistans, in

Basar in Duhok
Basar in Duhok

Rojava, hat die Bevölkerung die Gunst der Stunde genutz, um das Modell des Demokratischen Konföderalismus umzusetzen. Dieses Projekt könnte eine friedliche Zukunft für den Nahen Osten bedeuten und steht für Basisdemokratie, Menschenrechte und eine solidarisch-ökologische Wirtschaft. Noch ist das Vorhaben durch die anhaltenden Angriffe des IS stark eingeschränkt, doch der politische Erfolg Rojavas stellt auch eine Bedrohung für die Herrschaft der PDK dar. Eine Alternative zu wirtschaftlicher Abhängigkeit, politischer Korruption und staatlicher Unterdrückung in Südkurdistan ist nicht erwünscht.

Daher ist Rojava nicht nur innerhalb Syriens durch Regierungstruppen und IS isoliert, sondern auch durch die türkische und die südkurdische Regierung. Unsere Erfahrungen an der innerkurdischen Grenze ließen nichts von der stets proklamierten kurdischen Einheit erahnen, die entgegen aller politischer Differenzen existieren soll.

Personen und Organisationen, die der PKK nahe stehen oder mit Rojava solidarisch sind, werden kurzerhand verboten oder mit Hausdurchsuchungen konfrontiert. Auch Journalistinnen und Hilfsarbeiter werden daran gehindert, über die Grenze zu gelangen. Natürlich nicht offiziell – sie werden lediglich von Behörde zu Behörde geschickt, mit Lügen und Drohungen konfrontiert, bis sie die Lust verlieren oder den illegalen Grenzübertritt wagen. Dieser kann jedoch leicht im Gefängnis, beim IS oder vor dem Gewehr eines schießfreudigen Peshmerga enden.

Auch das Kandil-Gebirge, welches von der PKK kontrolliert wird, ist Blockaden von Seiten der Barzani-Regierung ausgesetzt – dies trifft vor allem die Zivilbevölkerung, welche auf den Import von Lebensmitteln und Baumaterial angewiesen ist. Mittlerweile ist die PKK aber eine starke und anerkannte Kraft und weitere Blockaden können durch diplomatischen Druck verhindert werden. Das ist Barzani ein weiterer Dorn im Auge: Wenn Rojava stärker wird, wächst auch der Einfluss der PKK und die PDK verliert an Boden. Auch das Bündnis mit der Türkei wird auf lange Sicht nicht weiterhelfen, denn immer mehr SoldatInnen der Peschmerga weigern sich, wie früher gegen ihre Brüder und Schwestern der PKK in den Kampf ziehen. Der gemeinsame Kampf gegen den IS hat eine Bande geschaffen, die auch die einflussreiche PDK nicht so einfach durchtrennen kann.

Waffen vom Westen

Nichtsdestotrotz bleiben Waffenlieferungen von Deutschland, Frankreich, USA, England und anderen westlichen Staaten an die Peschmerga gefährlich. Denn der nächste Konflikt im Nahen Osten . Das Verhältnis zur Zentralregierung in Bagdad ist bereits gespannt und wird auf eine harte Probe gestellt, wenn Barzani beschließt, Kirkuk und Mossul in sein Gebiet einzugliedern. Beide Städte liegen auf ölreichem Gebiet und sind für den Haushalt beider Regierungen extrem wichtig. Die kurdische Seite hat bereits angedeutet, dass sie Kirkuk nicht freiwillig aufgeben wird, während Bagdad Shiitische Milizen vor der Stadt als Drohkulisse aufmarschieren lässt.

Wie man vor einem Jahr in Shengal gesehen hat, liegt es auch nicht im Interesse der südkurdischen Regierung, den IS bis über die Grenzen Südkurdistans hinaus zu bekämpfen. Sollte sich der IS dann wieder mit seiner vollen Stärke gegen Rojava wenden, wäre auch die PKK geschwächt und das Kandil-Gebirge sowie andere von der PKK kontrollierten Zonen leicht angreifbar. Zwar sind einige Peschmerga-Einheiten auch in Kobane stationiert, doch lediglich aus diplomatischen Gründen, um eine kurdische Einheit zu demonstrieren, die auch seitens der südkurdischen Bevölkerung gefordert wird. Dahingegen befinden wesentlich mehr Einheiten der PKK an Seiten der Peshmerga in Südkurdistan und übernehmen dort den gefährlichen Kampf bei Nacht.

Es bleibt abzuwarten, ob nach der Repressionswelle gegen die ezidischen Verteidigungseinheiten die südkurdische Regierung auch militärisch gegen die Miliz vorgehen wird. Eine Selbstverwaltungsstruktur wie in Rojava wird Barzani in Shengal jedenfalls nicht dulden. Dennoch bleibt zu hoffen, dass der demokratische Geist der Revolution auch in Südkurdistan Fuß fassen wird und sich die Region aus dem Geflecht wirtschaftlicher Abhängigkeit, politischer Korruption und staatlicher Unterdrückung lösen kann.

Ein Gastbeitrag von Yannik Hinzmann und Selin Gören.

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3 Antworten

  1. Dieser Artikel thematisiert ein Paar Tatsachen, ist aber im Kern manipulativ.

    Erstens: Das Rojava-Modell – auch Scheindemokratie genannt – ist nichts neues und erst Recht kein realisierbares Modell für den Nahen Osten. Will man einer kommunistischen Diktatur einen demokratischen Anstrich geben, kann man auch einen anderen Meinung sein.

    Zweitens: Südkurdistan ist nicht ohne Grund wirtschaftlich extrem abhängig von der Türkei. Der Kampf der Kurden ist ein Überlebenskampf, bei dem offene Korruption und offene Vetternwirtschaft das wohl geringere Übel ist. Und wenn die Kurden etwas über (professionelle) Korruption mit System lernen wollen, sollen sie sich den Deutschen Gesundheitssektor anschauen, die Energiewirtschaft, die Pharmaindustrie, die Medienlandschaft…oder die ehem. DDR, die Sowjetunion und China.

    Drittens: Kurdistan-Süd hat prozentual mehr Araber aufgenommen als es ein kommunistischer Staat jemals getan hat. Woher kommt es, daß in der ehemaligen DDR die Fremdenfeindlichkeit so verbreitet ist? Liegt es daran, daß SozialistInnen – früher wie heute – gerne mit lernen Phrasen (Internationalismus, Freiheit) spielen, im Kern aber starr und dickköpfig sind?

  2. Nichts anderes braucht man von einer linken Zeitschrift zu erwarten.

    Südkurdistan ist 20 jahre alt. Ein Vergleich mit dem Nachkriegs-Deutschland wäre angebrachter als dieser geistige Abfall. Wobei der Kriegszustand ja immernoch anhält.

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