Radikale Zärtlichkeit – Im Gespräch mit Seyda Kurt

Şeyda Kurt ist freie Journalistin und gibt Workshops zum diskriminierungssensibler Sprache. Im April 2021 erscheint ihr Buch “Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist”.

Critica: In deinem Buch unterscheidest du zwischen Liebe und Zärtlichkeit. Wieso?

Şeyda Kurt: Wie der Titel verrät schaue ich mir in dem Buch an, wie tradierte Vorstellungen von Liebe und ihre Konzeptualisierung in unserer Gesellschaft über die letzten Jahrhunderte erwachsen sind und wie sie sich durchgesetzt haben. Dabei habe ich zunehmend das Gefühl entwickelt, dass diese fünf Buchstaben, also die L-I-E-B-E, in den letzten Jahrhunderten unglaublich mystifiziert wurden.

Deswegen habe ich mich dem Begriff der Zärtlichkeit zugewendet um einen positiven Gegenentwurf zu den vorherrschende Vorstellungen von Liebe zu entwickeln. Zärtlichkeit beinhaltet für mich eine viel stärkere Handlungsaufforderung: Es geht darum innerhalb intimer Beziehungen und Freund*innenschaften produktiv miteinander umgehen zu wollen.

Critica: Du forderst eine “radikale Zärtlichkeit” – was meinst du damit?

Şeyda Kurt: Während des Schreibens habe ich gemerkt, dass mir Zärtlichkeit alleine nicht reicht; Es kann mir nicht nur darum gehen, für Zärtlichkeit innerhalb meiner Beziehung zu plädieren, sondern es muss um Zärtlichkeit als Programm der Solidarität und der Gerechtigkeit gehen.

Radikale Zärtlichkeit bedeutet, Zärtlichkeit an der Wurzel zu betrachten und die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen für Zärtlichkeit zu analysieren. Das hat viel mit ökonomischer Gerechtigkeit zu tun, mit patriarchalen Verhältnissen und anderen Unterdrückungssystemen und Herrschaftsverhältnissen.

Critica: Inwiefern bedingt der Kapitalismus unsere Vorstellung der monogamen hetero Kernfamilie?

Şeyda Kurt: Im europäischen Kontext war die monogame Ehe vor allem ein Mittel, um innerhalb von Verhältnissen der Blutsverwandtschaft Kapital anzuhäufen und weiter zu vererben. Um ihren Besitz zu schützen, und diesen nur an ihre direkten männlichen Erben weitergeben zu können, musste die Frau auch als Besitz betrachtet werden. Ihre Sexualität musste so exklusiv sein, dass sie nur Nachfahren im Sinne dieser Blutsverwandtschaft ihres Mannes hervorbringt, die dann wiederum das Kapital vermehren.

Auch zu Kolonialzeiten spielte monogame Ehe eine wichtige Rolle: Hier ging es darum kolonialisierte Menschen – d.h. ihre Arbeitskraft, genauso wie ihre Umwelt – auszubeuten und in das kapitalistische System einzugliedern. Dabei wurde die monogame, bürgerliche Zweierbeziehung quasi als “Vorbild” für die kolonisierte Bevölkerung genutzt. Es sollte sie “zivilisieren” und vor allem disziplinieren. So wurde dieses Ideal in die Kolonien übertragen und gleichzeitig in westeuropäischen Gesellschaften stabilisiert. Bis heute dient die Idee der monogamen, heterosexuellen Ehe dem hiesigen Selbstverständnis der eigenen Zivilisiertheit in Abgrenzung zu z.B. der vermeintlich “muslimischen Viel-Ehe”.

Critica: Inwiefern hat auch die Pandemie dazu beigetragen bestimmte Beziehungsformen zu normieren?

Şeyda Kurt: Dazu haben vor allem politische Entscheidungen beigetragen. Beispielsweise die Kontaktbeschränkungen in der Weihnachtszeit haben in manchen Bundesländern vorgesehen, dass im engsten Familienkreis gefeiert werden darf. Daraufhin gab es berechtigte Kritik von queeren Menschen. Wer gehört überhaupt zur Familie? Es ist ein sehr archaischer Familienbegriff der von Blutsverwandtschaft ausgeht. Die Familie als sicherer Rückzugsort mit Eigenheim wurde in Corona-Zeiten immer wieder beschworen – Stichwort #stay at home. Das ist eine Normierung, die viele Menschen brutal ausschließt.

Critica: Im Grunde beschreibst du, dass wir uns gesellschaftlich zu viel auf die romantische Zweierbeziehung als einen sicheren und vor allem exklusiven Raum der emotionalen Intimität verlassen. Woran liegt es, dass ausgerechnet bei romantischen Beziehung ein solcher Raum entsteht?

Şeyda Kurt: Ich glaube, viele Menschen fangen erst gar nicht damit an, ihre Beziehungen bedürfnisorientiert auszuhandeln. Denn dann wird es kompliziert. Man fällt automatisch aus tradierten Mustern und Rollen heraus und muss sich seiner Handlungsmacht annehmen.

Critica: Ich muss mich fragen, was bin ich bereit zu geben? Wo sind Strukturen, Hierarchien und Asymmetrien, die mich verletzen, die historisch gewachsen sind, ich aber als natürlich annehme?

Şeyda Kurt: Ich glaube, in unserer brutalen Zeit-Ökonomie fehlt es sehr vielen Menschen einfach an Zeit, sich diesen Fragen zu stellen oder andere Beziehungsformen überhaupt aufzubauen. Stattdessen sind wir gezwungen, gewisse Beziehungen zu priorisieren.

Critica: Welche Rolle spielen Herrschaftsstrukturen auch innerhalb dieses Akt des Aushandelns?

Şeyda Kurt: Ich schreibe viel über laut werden, über Fordern und über Wut. Aber letztendlich schreibe ich das auch mit dem großen Bedürfnis, einfach mal schweigen zu können. Die Philosophin Christina Thürmer-Rohr schreibt sinngemäß, es muss erstmal ein gemeinsames Bekenntnis zu einem Raum geben, wo gesprochen werden kann, um sich gemeinsam wieder zum freiwilligen Schweigen zurückzufinden. Eben dieses freiwillige Schweigen ist auch mein Ziel.

Aber dieser erste Schritt, das gemeinsame Schaffen des Raums, das ist das Ergebnis gemeinsamer Arbeit. Wir müssen dabei auch anerkennen, dass es unterschiedliche Sprecher*innen Positionen gibt, die durch strukturelle Privilegien geprägt sind. Wenn ein Beziehungspart aufgrund gewisser Verhältnisse daran gewöhnt ist, die eigenen Bedürfnisse immer artikulieren zu können, und dass darauf immer reagiert wird kann diese Person das Schweigen des Gegenübers nicht als einfach als Konsens gedeutet werden. Wir müssen alle immer wieder neu hinterfragen, in welcher Sprecher*innen Position wir uns befinden und inwiefern es deswegen vielleicht umso mehr meine Verantwortung ist, ein Gesprächsangebot zu machen. Es ist ein stetiges Aushandeln.

Critica: Du kritisierst die vorherrschende Sprache der romantischen Liebe sehr stark. Wieso?

Şeyda Kurt: Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, Sätze wie “Ich liebe dich”, die viel zu oft zu Floskeln werden, einfach abzuschaffen, weil sie eine Totalität und Absolutheit implizieren, die mein Gegenüber nie erfüllen kann. Gleichzeitig sind sie so ritualisiert inhaltsleer, dass es mich davon entlastet, wirklich darüber nachzudenken, was dieser Mensch mir tatsächlich bedeutet.

Critica: Deswegen plädierst du für eine neue Sprache der Zärtlichkeit. Was erhoffst du dir davon?

Şeyda Kurt: Ich denke nicht, dass eine andere Sprache oder die Art und Weise, wie wir miteinander und übereinander sprechen, alleine eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass unsere Gesellschaft sich komplett verändert. Insbesondere wenn dazu nicht Veränderungen in Herrschaftsverhältnissen, korrespondieren. Aber ich glaube, eine notwendige Bedingung für eine gerechtere Gesellschaft ist, dass wir anders miteinander sprechen.

Der Soziologe Norbert Elias sagt, dass wir Dinge, die außerhalb unserer Sprache stattfinden, gar nicht wahrnehmen können. Ich frage mich, hätten wir den Raum und die Zeit, um unsere Sprache der Zärtlichkeit auszuweiten – was könnten wir dann vielleicht alles noch formulieren und letztendlich empfinden?

Critica: Du beschreibst nicht etwa deine Polyamorie als revolutionär sondern deine Freundschaften. Was ist für dich so radikal an Freundschaften?

Şeyda Kurt: In Freund*innenschaften kommen Menschen zusammen, die gemeinsame Überzeugungen und Werte haben. Es ist eine Gemeinschaft aus gemeinsamen Bedürfnissen und dadurch sehr politisch – ohne dass sie sich selbst als politisch sehen müssen. Freund*innenschaften behaupten sich gegen viele Konstruktionen von vermeintlichen Zugehörigkeiten, von Blut, Herkunft, Nation und Kultur. Stattdessen schaffen sie ein Netz der Solidarität.

Bell Hooks spricht von romantischen Freund*innenschaften als produktiv, nährend und langlebig. Das hat viel damit zu tun, dass die Rollen, die wir hier einnehmen, im Gegensatz zu romantischen Beziehungen, weniger ritualisiert sind. Hausarbeit und Fürsorgearbeit sind, insbesondere in cis-hetero Beziehungen, ungleich verteilt. Genau diese Form der hetero-Ehe kann Frauen isolieren und krank machen.

Critica: Was können selbst die normativsten Beziehungen von queeren Konzeptionen der Zärtlichkeit lernen?

Şeyda Kurt: Unfassbar viel. Beispielsweise, wie wir Zärtlichkeit und Intimität auf verschiedene Menschen verteilen können. Es muss nicht nur ein*e Partner*in geben, der*die vollkommen ist, und alle meine Bedürfnisse stillt. Solch ein Mensch kann gar nicht existieren, weil er*sie an diesen Anforderungen einfach zerbersten würde. Dazu kommen Konzepte von Konsens: Konsens als gemeinschaftlicher Erschaffungsprozess von sicheren Räumen des Sprechens oder auch Schweigens.

All das sind queere Konzepte von denen cis-hetero Menschen profitieren. Deswegen sollten wir in allen politischen Kämpfen nicht nur solidarisch sein mit queeren Bewegungen, sondern sie immer als einen unverzichtbaren Teil sehen.

Das Interview führte Meike Völker. Es erschien in gedruckter Form in der Critica.

Dir gefällt der Artikel? Dann unterstütze doch unsere Arbeit, indem Du unseren unabhängigen Journalismus mit einer kleinen Spende per Überweisung oder Paypal stärkst. Oder indem Du Freunden, Familie, Feinden von diesem Artikel erzählst und der Freiheitsliebe auf Facebook oder Twitter folgst.

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn
Freiheitsliebe Newsletter

Artikel und News direkt ins Postfach

Kein Spam, aktuell und informativ. Hinterlasse uns deine E-Mail, um regelmäßig Post von Freiheitsliebe zu erhalten.

Neuste Artikel

Abstimmung

Sollte Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppen?

Ergebnis

Wird geladen ... Wird geladen ...

Dossiers

Weiterelesen

Ähnliche Artikel

Drei sind keine*r zu viel

Das Sachbuch „Lob der offenen Beziehung“ von Oliver Schott befasst sich mit Liebes- und Lebensentwürfen jenseits der Monogamie sowie ihrer Auswirkungen auf die Beteiligten. Dabei

Von Zwangsmäusen und Angsthäs*innen

Die Sendung mit der Maus hat eine wunderbare, einfühlsame Sendung gemacht über Katja, die nach einem harten Leben als obdachloser Mann Wohnung und Stelle findet

Friedrich Engels und der Urkommunismus

Bis ins 19. Jahrhundert organisierten sich einzelne Stammesgesellschaften auf egalitäre Art und Weise. Ihr Beispiel zeigt, dass Ausbeutung und Konkurrenz nichts „Natürliches“ sind, sondern sozial