Progressive Queerpolitik muss antirassistisch sein – Im Gespräch mit Salih Alexander Wolter

Queer und Antikapitalismus - Quelle:Theorie.org
Queer und Antikapitalismus – Quelle:Theorie.org

In Frankreich hat die rassistische Front National den schwulen Julien Odoul als Minister für eine zukünftige Regierung vorgestellt. Dieses öffentliche Bekenntnis zeigt die gewachsene Zusammenarbeit von bürgerlichen Homosexuellengruppen mit der rechten Partei. Wir haben mit Salih Alexander Wolter, Co-Autor des Werks „Queer und (Anti-)Kapitalismus„, über die Annäherung und antirassistische Gegenstrategien gesprochen.
Die Freiheitsliebe: In Frankreich wurde Julien Odoul, Ex-Coverboy des großen Pariser Schwulenmagazins „Têtu“, als zukünftiger Minister einer möglichen Front-National-Regierung vorgestellt, welche Auswirkungen hat diese Ankündigung?

Salih Alexander Wolter: Der Faschismus präsentiert sich als „beau gosse“, wie man in Frankreich sagt: ein hübscher Bengel. Mit Odoul, der früher bei der sozialistischen Jugend aktiv war und zuletzt Kommunalpolitik für die sogenannten liberalen Zentristen von der UDI machte, will Marine Le Pen, die Chefin des Front National, ihre Partei als wählbar für ein weltläufiges bürgerliches Publikum darstellen. Ein „schwuler Touch“ ist da nützlich: Schon bei den Pariser Stadtratswahlen im März schickte der Front National im 3. Arrondissement, zu dem auch das Schwulenviertel Marais gehört, Bruno Clavet ins Rennen, der vorher eher als Unterhosenmodel mit laszivem Griff in den Schritt bekannt war. Seit jetzt Le Pens Stellvertreter Florian Philippot in einem Klatschblatt „geoutet“ wurde, ist oft zu lesen, sie habe sich mit einer „Homo-Lobby“ umgeben. Das wird ihr längerfristig aber eher nicht schaden, sondern im Gegenteil ihr Image verstärken, die extreme Rechte „modernisiert“ zu haben.

Die Freiheitsliebe: Ist Odoul ein Einzelfall oder gibt es eine Annäherung des bürgerlichen Teils der Homosexuellen-Gruppierungen an die rassistische Rechte?

Salih Alexander Wolter: Er ist beileibe kein Einzelfall – und nicht der wichtigste, wenn auch vielleicht der fotogenste! Erst wenige Tage vor Odoul trat Sébastien Chenu, der ehemalige Generalsekretär von Nicolas Sarkozys Partei UMP und einer der Mitbegründer von GayLib, der einflussreichsten bürgerlichen Homo-Organisation in Frankreich, zum Front National über. Er gehört ab jetzt zum innersten Führungszirkel der Faschisten und wird über deren Vertretung im Europaparlament großzügig entlohnt. Drolligerweise begründete Chenu in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Marine Le Pen seinen Schritt nicht nur mit dem angeblichen „Ausverkauf“ Frankreichs an die EU, sondern auch mit seiner Enttäuschung über Sarkozys Versprechen, im Fall seiner Wiederwahl zum Präsidenten der Republik die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare rückgängig zu machen – als hätte ausgerechnet Le Pens Partei sie unterstützt! Der Pariser Queer-Aktivist und Journalist Didier Lestrade, Autor des 2012 erschienenen Buches „Pourquoi les gays sont passés à droite“ („Warum die Schwulen nach rechts gerückt sind“), warnt, dass der Front National mit den Promis auch ihre weitverzweigten Netzwerke in den Dienst nimmt.

Die Freiheitsliebe: Wie kam es zu dieser Annäherung in Frankreich, die unter Marine le Pens Vater noch unvorstellbar war?

Salih Alexander Wolter: Es gab prominente Schwule, die schon vor Jean-Marie Le Pen nicht zurückschreckten. Man denke zum Beispiel an Renaud Camus, der noch in den 1970ern/1980ern für sein Journal „Tricks“ – eine auf jedwede „Moral“ verzichtende literarische Darstellung von promiskem schwulem Sex – von berühmten Autoren wie Roland Barthes und Gore Vidal gefeiert wurde und homopolitische Kolumnen für die Zeitschrift „Gai Pied“ schrieb. Seit langem ist er jedoch vor allem für seine antisemitischen Äußerungen und die Verschwörungstheorie des „remplacement“ bekannt – er behauptet, es gäbe ein muslimisches Komplott, um die Bevölkerung Frankreichs „auszutauschen“ und das Land einzunehmen. ZuIetzt wurde er in diesem Sommer zu einer Geldstrafe wegen Volksverhetzung verurteilt. Die Strategen des Front National beobachten solche Annäherungen schon länger mit Wohlwollen: Der Soziologe Sylvain Crépon zitierte 2012 in einer aufsehenerregenden Studie über das Innenleben der Partei Marine Le Pen mit den Worten, ihr Vater habe „sich niemals gegen die Homosexualität positioniert“. Ihr Lebensgefährte Louis Aliot beschrieb Crépon zufolge den Front National sogar als letzte Hoffnung für die Schwulen, die in den Satellitenstädten rings um Paris angeblich von Muslimen verfolgt werden. Und wie Didier Lestrade in seinem Buch ausführte, entspricht dieses Szenario durchaus der Stimmungslage in der angepeilten „Zielgruppe“. Denn der gemeinsame Nenner ist der antimuslimische Rassismus. Guy Hocquenghem, der bis zu seinem Tod 1988 der bekannteste Vertreter der linken Schwulenbewegung in Frankreich war, prangerte bereits vor Jahrzehnten an, dass sich diese zunehmend in „eine Bewegung für eine weiße Homosexualität in jedem Sinne des Wortes“ verwandelte.

Die Freiheitsliebe: Häufig wird die Homophobie von jungen Muslimen als Ursache für die Annäherung bezeichnet, ist das glaubwürdig, sind junge Muslime überhaupt homophober?

Salih Alexander Wolter: Homophobie als Massenbewegung konnte man in Frankreich während der Großdemonstrationen gegen die Öffnung der Ehe ganz gut studieren: Es waren lauter adrette junge Weiße, die da mit Sonderzügen aus der bürgerlich-katholischen Provinz zum Pöbeln nach Paris gekarrt wurden. Nein, weder junge Muslime noch die nicht-weißen jungen Franzosen, die man einfach ungefragt pauschal als „Muslime“ bezeichnet, sind homophober als die übrige Gesellschaft. Es handelt sich bei dieser dort- wie hierzulande verbreiteten Vorstellung vielmehr um die „Karriere eines konstruierten Gegensatzes“ – wie der Titel eines von Koray Yılmaz-Günay herausgegebenen Sammelbandes lautet, der gerade in einer Neuausgabe erschienen ist und zu dem ich auch beigetragen habe. Die zunehmend rassistische Ausrichtung queerer Politiken in der „westlichen Welt“ seit dem 11. September 2001 wird in diesem Buch von zahlreichen aktivistisch wie wissenschaftlich engagierten Autor_innen aus dem In- und Ausland detailliert und kritisch nachgezeichnet.

Die Freiheitsliebe: Wie reagieren linke und progressive Queergruppen auf die Entwicklung der bürgerlichen Homosexuellenbewegung?

Salih Alexander Wolter: Indem sie eine intersektionale Perspektive entwickeln und entsprechend politisch agieren. Das heißt, sie lehnen – jedenfalls wenn sie wirklich links und progressiv sind – die rein ideologische und völlig lebensfremde Idee ab, dass ein Mensch jemals durch ein einzelnes Merkmal definiert werden könnte, also etwa entweder „schwul“ oder „Muslim“ sein müsste. Und sie folgern daraus, dass sich progressive Queerpolitik notwendigerweise gegen Rassismus positionieren muss und dass Emanzipation, einschließlich queerer Emanzipation, nur gesamtgesellschaftlich geht.

Salih Alexander Wolter
Salih Alexander Wolter

Die Freiheitsliebe: Welche Versuche gibt es, Homophobie und antimuslimischen Rassismus gemeinsam zu bekämpfen, statt diese gegeneinander auszuspielen?

Salih Alexander Wolter: An Lippenbekenntnissen und mitunter auch erkennbar gutem Willen mangelt es nicht. Aber wirklich vorangebracht werden intersektionale Ansätze, wie es Heinz-Jürgen Voß und ich in unserem Buch „Queer und (Anti-) Kapitalismus“ (2013) beschrieben haben, fast ausschließlich von sogenannten Mehrfachbetroffenen – also Menschen, die zum Beispiel lesbisch, trans* oder schwul und nicht-weiß sind. Aus Frankreich gibt es in „Karriere eines konstruierten Gegensatzes“ einen Beitrag der Lesbiennes of Color. In Deutschland sind migrantische queere Selbstorganisationen wie GLADT in Berlin und Baraka in Köln zu nennen, ebenso LesMigraS als Teil der Berliner Lesbenberatung. Auch der Migrationsrat Berlin-Brandenburg als Dachverband von 80 Selbstorganisationen und das Antidiskriminierungsnetzwerk des Türkischen Bundes leisten Großartiges.

Die Freiheitsliebe: Abschließend: Gibt es auch in Deutschland Versuche von bürgerlichen Teilen der Queeren-Bewegung, mit Parteien wie der AfD an einen Tisch zu kommen?

Salih Alexander Wolter: Es gibt hier einige schwule Publizisten, die seit Jahren den antimuslimischen Rassismus bedienen, aber die stellen keine Bewegung dar, auch wenn sie das vielleicht gern so hätten. Als die Deutsche Aidshilfe kürzlich dem Magazin „Männer“ wegen zahlreicher diskriminierender Artikel den Anzeigenauftrag entzog, kam aus der „Community“ ganz überwiegend Zustimmung. Und selbst der Lesben- und Schwulenverband LSVD, aus dem in früheren Jahren immer wieder gegen Migranten gehetzt wurde, hält sich seit einiger Zeit erkennbar zurück. Nein, so schlimm wie in Frankreich ist es hierzulande derzeit nicht. Andererseits ist aber die extreme Rechte in Deutschland auch nicht so schlau wie Marine Le Pen. Würde für die AfD statt der homophoben Demagogin Beatrix von Storch ein hübscher junger Mann in Unterhose posieren – ich könnte für uns weiße Schwule leider nicht die Hand ins Feuer legen.
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2 Antworten

  1. Pink Swastika läßt grüßen. Die nannten sich zwar Sozialisten, aber waren eben auch national. Und Sozialisten sind nun mal gegen die Familie eingestellt, wie in den 45 sozialistischen Zielen zu sehen ist, die schon seit Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts bekannt sind:
    40. Diskreditieren Sie die Familie als Institution. Unterstützen Sie Promiskuität und einfache Scheidungen.
    41. Betonen Sie die Notwendigkeit, Kinder ohne den negativen Einfluß der Eltern zu erziehen. Schreiben Sie Vorurteile, geistige Blockaden und Entwicklungsverzögerungen der Kinder dem unterdrückerischen Einfluß der Eltern zu.
    http://criticomblog.wordpress.com/2013/09/14/kommunistische-ziele-1963/
    Ach nein, kommunistische Ziele waren das. Wo liegt eigentlich der Unterschied?

    Hitler’s Silence on Homosexuality in Mein Kampf:
    Writing of those days in The Mass Psychology of Fascism, radical German sexologist and Hitler contemporary, Wilhelm Reich, warned that Nazi leadership was both ideologically and actually homosexual. Almost as an aside, Reich noted Nazi leaders such as “Bluher, Roehm…. Rosenberg” represented Hitler’s fascism, which was, Reich said, “a male state organized on a homosexual basis.”
    Wilhelm Reich (1970), The Mass Psychology of Fascism. Penguin: New York, pp. 123, 127.
    http://www.drjudithreisman.com/archives/pink_swastika.pdf

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