Seit dem Beginn der Pandemie wird die Velagerung der sozialen Interaktion hin zu risikolosen Onlineformaten vorangetrieben. Doch dies bleibt nicht ohne negative gesellschaftliche Folgen, meinen Silvie und Hana.
Es scheint, als sei die Digitalisierung der Bildung eine Naturgewalt, die sich dank Covid-19, endlich bahnbrechen könne. Entsprechend beschränkt sich die Kritik am digitalen Fernunterricht derzeit auf die Verschärfung der Bildungsungleichheit durch ungleiche Ausstattung mit nötigen Ressourcen. Tatsächlich ist das ein massives Problem: Bei SchülerInnen besitzt nicht jeder geeignete Geräte und in beengten Wohnverhältnissen fallen Videokonferenzen und Hausaufgaben schwer. Bevor man aber Tablets für alle fordert, stellt sich die grundlegendere Frage, ob die Digitalisierung der Bildung überhaupt wünschenswert ist.
Vieles, was als Chance gepriesen wird, entpuppt sich als Scheinlösung, die Probleme nur verschiebt: Wenn ein Algorithmus individuelle Lehrpläne für Schüler berechnet, werden nicht mehr Lehrkräfte eingestellt ‒ obwohl eine Lernsoftware die vielfältigen Aufgaben einer Lehrkraft nicht annähernd erfüllen kann. Wenn Studierende mit Kindern oder Behinderungen online an Kursen teilnehmen können, wird nicht für Kinderbetreuung oder Barrierefreiheit gesorgt ‒ die Betroffenen bleiben aber von ihren KommilitonInnen isoliert.
Die Online-Lehre treibt die Ökonomisierung der Bildung voran
Tatsächlich handelt es sich hier in erster Linie um eine weitere Ökonomisierung der Bildung, die – statt verstehendem Lernen im Dialog mit anderen – die effiziente Produktion von abfragbarem Wissen zum Ziel hat. Parallelen zwischen dem Lernen mit Lernsoftware und der digitalisierten Arbeitswelt – zu der nicht mehr nur IT-Tätigkeiten zählen, sondern ebenso Teile des Handwerks und Dienstleistungssektors sowie Kreativtätigkeiten – sind auffällig: Der Arbeitsprozess wird ebenso wie der Lernstoff in kleine Schritte zerteilt und von einem Programm vorgegeben; es besteht ein Zwang zur beschleunigten Reaktion durch Echt-Zeit-Messung und die Möglichkeit, Leistungen vergleichbarer zu machen, was den Konkurrenzdruck verschärft. Der Überblick über das Gesamtthema oder die gesamte Tätigkeit fehlt und es wird unmöglich, Arbeit und Lernen selbstbestimmt zu strukturieren. Statt aus eigenen Impulsen zu handeln, werden passiv Anweisungen befolgt. Die Fremdstimulation lässt kaum Raum für eigenständiges Denken, Hinterfragen und gegebenenfalls Verweigerung ‒ eine Entmündigung durch Unterordnung unter die Technik. Nicht zuletzt fällt eine immense Menge von Daten an, die für genaue Verhaltensanalysen genutzt wird und damit die Basis für manipulative Technologien wie das sogenannte Nudging bietet.
Die Verlagerung von Arbeit und Bildungserwerb ins Netz vereinzelt und kann krank machen
Problematisch ist aber nicht nur diese extreme Form digitaler Arbeits- und Lernorganisation. Auch Onlineunterricht und die dauerhafte Arbeit im Homeoffice gehen mit Vereinzelung und örtlicher sowie zeitlicher Entgrenzung von Privatleben und Schule, Uni und Arbeit einher.
Wenn analoger durch digitalen Unterricht ersetzt wird, sind auch gesundheitliche Probleme durch langes Sitzen vorm Bildschirm nicht zu vernachlässigen. Doch vor allem sind die Konsequenzen für das Lernen selbst schwerwiegend: wirkliches, verstehendes Lernen ist ein sozialer Prozess, der nur im Austausch mit anderen möglich ist und nicht, wenn jeder alleine vor einem Bildschirm sitzt. Obwohl man bekanntlich umso nachhaltiger lernt, je mehr Sinne beteiligt sind, sprechen digitale Bildungsangebote ausschließlich Hör- und Sehsinn an. Schon heute haben immer mehr Kinder Probleme mit der Feinmotorik und Handschrift.
Die Coronapandemie ist ein Testlauf zur Etablierung von Homeoffice und Onlinelehre, da zurzeit mit wenig Widerstand zu rechnen ist. Sind die Menschen erst einmal daran gewöhnt, werden nach Ende der Pandemie ein großer Teil der Neuerungen beibehalten. Die bisherige Herangehensweise der organisierten Linken und Teilen der Gewerkschaften ist affirmativ, desorganisiert und individualisierend. Ohne eine organisierte Bewegung in Betrieb und Schule bleibt abzuwarten, welche atomisierten Wesen die digitalen Lernformate hervorbringen und wie diese zu politischen Subjekten heranwachsen.
Der Beitrag von Hana Q und Sylvie S erschien in gedruckter Form in der neuen Critica.
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