Göttingen. Aus allen Ecken der Republik strömten im Februar Studierende nach Niedersachsen, um ein Wochenende lang für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen – einen bundesweiten Tarifvertrag für studentische Beschäftigte (kurz TVStud).
Die aktuelle Krisenlage trifft Studierende mit voller Wucht, eine Bevölkerungsgruppe, die zu 38 Prozent (!) armutsgefährdet ist. Mieten und Mietnebenkosten, Lebensmittelpreise und Preise von Gebrauchsgütern steigen rasant und führen auch (und insbesondere) bei Studierenden zu einem starken Reallohnverlust. Das ließe sich ausgleichen mit höheren Löhnen, mit breiterem Zugang zum BAföG und weiteren Stärkungen des Sozialstaats. Die Ampel-Regierung speist Studierende stattdessen mit Einmalzahlungen ab, die Monate auf sich warten lassen und sofort nach der Auszahlung wie Tropfen auf dem heißen Stein verpuffen. Höchste Zeit, dass sich gegen diese aggressive Umverteilung von unten nach oben Protest regt.
Der Tarifvertrag als Chance
In Deutschland muss die Mehrheit der Studierenden neben dem Studium arbeiten gehen. Viele finden einen Job als studentische oder wissenschaftliche Hilfskraft oder als Tutor*in an der eigenen Hochschule. Trotz der für die Hochschulen systemrelevanten Arbeit, die viele Studierende dort verrichten, werden sie kaum wertgeschätzt. Sie erhalten einen Hungerlohn, der kaum über dem gesetzlich geregelten Mindestlohn liegt, müssen zu katastrophalen Arbeitsbedingungen schuften und haben keinerlei Mitspracherecht am Arbeitsplatz.
Das Mittel der Wahl, um das zu ändern, ist ein Tarifvertrag, der bundesweit für einheitliche Regelungen der Arbeitsverhältnisse von studentischen Beschäftigten sorgen soll. Die Bemühungen um diesen Tarifvertrag (den sogenannten TVStud) sind ein von langer Hand geplantes politisches Projekt. Bereits 2021 forderte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) während der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst der Länder einen bundesweiten TVStud. Zur Hochphase der Pandemie und der Lockdowns fehlte jedoch der nötige politische Druck, um die Forderung durchzusetzen. Für die bevorstehende Tarifrunde im öffentlichen Dienst sehen die Machtverhältnisse anders aus. Zehn der 16 Landesregierungen haben sich bereits für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von studentischen Beschäftigten ausgesprochen, sechs Länder wollen diese sogar tariflich sichern.
Dass ein Tarifvertrag für studentische Beschäftigte eine wirksame Maßnahme gegen die zunehmende Prekarisierung der Lebensumstände von studentischen Arbeitnehmer*innen sein kann, zeigt sich am Beispiel Berlins. Dort gibt es den TVStud bereits seit vielen Jahren, mittlerweile in der dritten Ausführung. Das Ergebnis: Die Löhne im Bundesland Berlin liegen über dem bundesweiten Durchschnitt und deutlich über dem Mindestlohn. Außerdem liegt die Mindestvertragslaufzeit von studentischen Beschäftigten in Berlin im Mittel bei über 14 Monaten; bundesweit sind es lediglich 6,1 Monate. Auch gibt es flächendeckende Mitbestimmung für die studentischen Beschäftigten, zum Beispiel in Form von Personalräten.
Gewöhnung an die Prekarisierung
Obwohl mit dem TVStud in Berlin ein erfolgreiches Pilotprojekt besteht, kam es bislang nie zu einem bundesweiten Tarifabschluss. Dies steht auch im Zusammenhang mit der fortschreitenden Neoliberalisierung der Hochschulen. Längst ist aus den Institutionen, die einmal die klügsten Köpfe in Wissenschaft und Forschung hervorbrachten, eine regelrechte Fachkräftefabrik geworden. Diese soll die Studierenden möglichst schnell und schmerzfrei in die vom Kapitalismus verunstaltete Arbeitswelt überführen. Versteht man die Hochschule als Schnupperstunde für den beruflichen Alltag nach dem Abschluss, ist es kaum mehr verwunderlich, dass studentische Beschäftigte derart prekär leben und arbeiten müssen. Es handelt sich um einen bewussten Gewöhnungsprozess.
Anders als weite Teile der arbeitenden Bevölkerung haben es studentische Beschäftigte besonders schwer, sich gegen diese Umstände zu wehren. Nur ein kleiner Teil der Studierenden ist gewerkschaftlich organisiert und flächendeckende Streiks, die die benötigte Durchschlagskraft entfalten könnten, blieben in der Vergangenheit aus. Da die Arbeitsverträge von studentischen Beschäftigten im Durchschnitt nur ein halbes Jahr gültig sind, gibt es einen hohen Durchlauf an Arbeitskräften in einem kurzen Zeitraum. Natürlich hat keine Hochschule ein ernsthaftes Interesse daran, einmal pro Semester die komplette studentische Belegschaft auszutauschen und neu einzuarbeiten. Deswegen werden meist die zuvor beschäftigten Studierenden noch einmal angestellt. Das führt dazu, dass der überwiegende Teil der studentischen Beschäftigten dieselbe Stelle immer wieder besetzt – oft nicht nur zwei-, sondern drei- oder vierfach.
Diese Kettenbefristung stellt für den Arbeitskampf an der Hochschule eine zentrale Herausforderung dar, denn sie weckt bei vielen Beschäftigten die Angst, die eigene Streikbereitschaft könnte womöglich die Aussicht auf eine Weiterbeschäftigung im nächsten Semester gefährden. Auch ist die Beschäftigung der studentischen Hilfskräfte an den Hochschulen meist dezentral organisiert. Viele von ihnen kennen nur eine Handvoll ihrer Kolleg*innen. Das erschwert die systematische Erschließung neuer Arbeitsbereiche für eine studentische Organisierung ungemein. Ohne eine große Mehrheit der Beschäftigten mit einzubeziehen, kann es keinen wirkungsvollen Streik geben.
Der Protest regt sich
Um den TVStud trotz dieser Hürden auch in den anderen Bundesländern zu etablieren, bedarf es einer ausgefeilten Strategie, die die typischen Fallstricke von studentischer Organisierung umgeht – kurze Verträge, Isolation am Arbeitsplatz, die Machtverhältnisse an Hochschulen. Wir müssen schnell und schlagkräftig sein, wenn wir die einmalige Chance auf einen Tarifabschluss in diesem Jahr nutzen wollen, denn es ist unwahrscheinlich, dass sich noch einmal ein ähnliches Möglichkeitsfenster auftut.
Auf der Konferenz in Göttingen wurden wichtige Überlegungen getätigt, wie es zu einem Tarifabschluss kommen kann und ein Schlachtplan für das kommende Sommersemester entwickelt. Die erste große Hürde ist die Aufnahme des TVStud in den Forderungskatalog für die bevorstehende Tarifrunde des öffentlichen Dienstes der Länder. Um das zu erreichen, müssen wir uns Gehör verschaffen und politischen Druck aufbauen. Dafür müssen sich so viele studentische Beschäftigte wie möglich zusammenschließen, in die Gewerkschaften eintreten und dort gemeinsam dafür streiten, dass unsere Anliegen ernst genommen werden. Hier zählt jede*r Einzelne! Nur, wenn unsere Forderungen von einer breiten Basis getragen werden, können wir in diesem Jahr einen TVStud erkämpfen.
Um den politischen Druck messbar zu machen, führen wir im gesamten Sommersemester Gespräche mit studentischen Beschäftigten und tragen ihre Forderungen in Gesprächsprotokollen zusammen. Die Protokolle können wir dann an die Entscheidungsträger*innen übergeben und so zeigen, wie viele wir sind. Ob wir danach gemeinsam mit den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im Oktober auf die Straße gehen, hängt davon ab, wie viele Gespräche wir führen und wie groß der dadurch aufgebaute politische Druck ist. Wir stehen vor einer einmaligen Chance, die Arbeitsbedingungen von studentischen Beschäftigten im gesamten Bundesgebiet zu verbessern und ein starkes Zeichen gegen die kapitalistische Logik an den Hochschulen zu setzen. Der Startschuss dafür wurde in Göttingen gegeben. Jetzt liegt es an uns, den TVStud zu erkämpfen!
Hintergrund-Infos:
Studentische Beschäftigte sind Studierende, die als studentische oder wissenschaftliche Hilfskräfte, oder als Tutor*in an den Hochschulen angestellt sind. Obwohl sie zentrale Rollen in Forschung, Lehre und Verwaltung übernehmen, sind ihre Arbeitsbedingungen häufig prekär. Genaue Erhebungen, wie viele studentische Beschäftige an den Hochschulen arbeiten, gibt es nicht. Schätzungen zufolge sind es bundesweit bis zu 400.000!
Das Streikrecht gilt auch für studentische Beschäftigte. Rufen uns die Gewerkschaften zum Streik auf, ist es unser Recht, die Arbeit niederzulegen und zu streiken. Kein Arbeitgeber darf deinen Vertrag kündigen, weil du am Streik teilnimmst. Für einen Streiktag bekommst du als Gewerkschaftsmitglied eine Kompensationszahlung, das sogenannte Streikgeld.
Moritz Menzel studiert und arbeitet in Bonn. Er spielt in einer Membranophon-Band, die Arbeiter*innenlieder zum Besten gibt.