Hallgatoi Szakszervezet (Studentengewerkschaft) ist einer der Hauptinitiatoren der Proteste in Ungarn, die seit einigen Wochen in der Hauptstadt Budapest und in immer mehr kleinen Orten stattfinden. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung des neuen Arbeitsgesetz, auch als Sklavereigesetz bekannt. Wir sprachen mit Nora Erösi über ihre Organisation, die ungarische Politik, die Menschen hinter den Protesten sowie über einen Ausblick der kommenden Proteste, welche landesweit am 19. Januar stattfinden sollen. Laut internationalen Beobachterinnen und Beobachtern ist das besondere an den Protestierenden nicht ihre Anzahl, sondern ihre Entschlossenheit, die auch in radikaleren Aktionen, wie dem besetzen von Brücken, mündet.
Die Freiheitsliebe: 10.000 Menschen protestierten am 05. Januar gegen Orban. Wer sind diese Menschen?
Nora Erösi (Hallgatoi Szakszervezet/Studentengewerkschaft): Die politische Vielfalt und die Vielfältigkeit der Menschen die an den Proteste teilnahmen, stach auf den letzten Demos besonders hervor. In Ungarn bestehen Demonstrationen normalerweise aus einer ideologisch homogenen Menschenmenge, aus Bürgern mittleren Alters oder Rentnern. Diesmal waren nicht nur die Flaggen aller Oppositionsparteien vertreten, von sogenannten Sozialisten bis zu rechtsextremen Nationalisten, sondern auch Flaggen und Banner mit linksradikalen und anarchistischen Symbolen fanden sich in nicht geringer Zahl auf den Demos. Darüber hinaus sank das Durchschnittsalter im Vergleich zu dem, was wir von anderen Demos gewohnt waren, da junge Familien mit kleinen Kindern, Studenten und junge Berufstätige einen erheblichen Teil der Teilnehmenden ausmachten. Es gab Busse, die Mitglieder und Sympathisanten von Gewerkschaften aus verschiedenen Teilen des Landes nach Budapest brachten, so dass es eine äußerst vielfältige Demonstration war. Der “Common Ground” der Protestierenden war die Empörung über das kürzlich verabschiedete „Sklavereigesetz“ und die Abneigung gegen das Orban-Regime, die das Gesetz beschloss.
Sind es vornehmlich Linke, die die Proteste vorantreiben und welche Rolle spielt ihr, die Studentengewerkschaft, in der ganzen Geschichte?
Es gibt linke Kräfte unter den Demonstrierenden, obwohl die meisten in Gewerkschaften und bei uns, den Studenten, organisiert sind. Das Thema der jüngsten Demonstrationswelle, nämlich das neue Arbeitsgesetz und die Rechte der Arbeitnehmer, kann zwar als linkes Anliegen betrachtet werden. Da die Proteste jedoch einen Widerspruch zwischen dem Regime und Teilen der Bevölkerung als solches Ausdrücken, könnte das “Sklavereigesetz” für viele Parteien und Organisationen nur ein erster Schritt sein, um den Kampf aufzunehmen. Die Studenten haben die Gewerkschaften bereits im November zu einer Diskussionsrunde zum “Protest für akademische Freiheiten” eingeladen, als die Änderung des Arbeitsgesetzes angekündigt wurde. Seitdem arbeiten wir eng mit ihnen zusammen.
Wir sehen unsere Rolle darin, unsere Ideen, Kreativität und Motivationskraft sowohl bei Gewerkschaftsversammlungen, zu denen sie uns immer herzlich einladen, als auch bei der Vorbereitung der Proteste neben den Gewerkschaften, zivilen Organisationen und oppositionellen Parteien einzubringen. Außerdem beteiligen wir uns organisatorisch an den Demonstrationen. Wir hoffen und glauben, dass unsere Hauptaufgabe darin besteht, die Diskussionen in und um die Proteste zu beeinflussen und zu framen. Einer unserer wichtigsten Werte ist die Solidarität, die wir nicht nur fordern, sondern auch in die Tat umsetzen. Wir sind sehr froh, dass solidarisches Handeln von den Demonstranten geteilt wird, die mit verschiedenen Hintergründen für eine gemeinsame Sache zusammenkommen.
Also fehlt Ungarn eine starke linke Partei – merkt man das bei den Protesten?
Leider ja, das wird immer offensichtlicher. Obwohl es ziemlich frustrierend ist, können wir nicht viel mehr tun, als linksgerichtete Diskussionen und Themen zu pushen und generell das Bedürfnis nach einer linken Partei zu stärken.
Wie geht es mit den Protesten weiter – wird es weitere geben?
Eine solche anhaltende Protestwelle haben wir in diesem Land nicht bisher nicht erlebt und sie scheint nicht nachzulassen, ganz im Gegenteil. Andere Teile des Landes haben sich den Demonstrationen angeschlossen, und noch mehr planen dies. Das ist zweifellos schon ein Erfolg. Die nächsten großen Demonstrationen, die von den Gewerkschaften angekündigt werden, werden am 19. stattfinden. Es soll Proteste in allen Landkreisen geben. Seit dem Übergang (aus dem Realsozialismus in den Kapitalismus Anfang der 1990er a.d.R.) gab es keinen einheitlicheren, landesweiten Widerstand. Wir hoffen, dass der jüngste Protest ein Zeichen für eine neue politische Kultur in diesem Land ist und dass weitere Proteste folgen.
Glaubst du, es werden mehr Arbeiterinnen und Arbeiter an den Protesten teilnehmen? Schließlich trifft das neue Arbeitsgesetz vor allem sie.
Ja, und man kann es schon sehen. Die Gewerkschaften mobilisieren sich selbst und organisieren landesweit Proteste. Als nächsten Schritt richteten die Gewerkschaften ein Komitee zur Vorbereitung eines Streiks ein, dessen Umsetzung sehr schwierig sein wird, da das ungarische Streikgesetz unverschämt restriktiv ist. Sowohl die Gewerkschaftsvertreter als auch die Arbeiter, die in den Streik treten, laufen Gefahr, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Ein weiteres Problem ist, dass sie nur Arbeitnehmer repräsentieren, die Teil einer Gewerkschaft sind. Daher unterstützen wir ihren Aufruf, sich den Gewerkschaften anzuschließen.
Wird das neue Arbeitsgesetz das Fidezs-Regime von Orban schwächen und wer profitiert davon?
Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für Fidesz seit Beginn des Protests abgenommen hat. Aufgrund des Medienmonopols hat Fidesz jedoch große Möglichkeiten die Diskussion über das Gesetz und die Proteste zu “gestalten”, und diese Gelegenheit versäumt die Fidesz-Partei nicht im geringsten. Ob der Protest, die Straßenblockaden und die potenziellen Streiks ausreichen, um Fidesz langfristig Schaden zuzufügen, ist im Moment schwer einzuschätzen, jedoch ist es nicht völlig unrealistisch.
Eins noch: Imre Nagys Statue wurde in Budapest entfernt. Ein weiterer Beitrag zur Geschichtsverfälschung Ungarns? Wird dies die Wut der Protestierenden nochmal anheizen?
Es ist definitiv ein weiterer Schritt, um die ungarische Geschichte umzuschreiben, wie beispielsweise das Denkmal für die deutsche Besatzung, die Umdeutung der Revolution von 1956 im Jubiläumsjahr und vieles mehr. Leider scheint es, als ob unser politisches und historisches Bewusstsein sowie die demokratische Kultur nicht auf einem Level ist, dass ein solches Vorgehen von Orban die Gesellschaft in großem Umfang mobilisieren könnte. Um den Wandel zu fördern, haben wir vor dem Protest an der Stelle der Statue eine kleine Versammlung organisiert. Historiker, Philosophen und Studenten hielten Reden über die Bedeutung des Erinnerns und die Gefahren des “Umschreibens” der Geschichte.
Danke dir für das Gespräch.
Nora Erösi ist Studentin und Aktiv bei Hallgatoi Szakszervezet (Studentengewerkschaft). Hallgatoi Szakszervezet ist einer der Hauptinitatioren der Proteste in Ungarn, die seit einigen Wochen in der ungarischen Hauptstadt Budapest und immer mehr kleinere Orten stattfinden. Auslöser ist die Verabschiedung des neuen Arbeitsgesetz, auch als Sklavereigesetz bekannt, welches Unternehmen erlaubt, Arbeitende Menschen bis zu 400 Überstunden pro Jahr arbeiten zu lassen.
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