Proteste nach Terroranschlag

Die Türkei am Scheideweg: Quo vadis, türkische Demokratie?

Die Türkei galt lange als Musterstaat zwischen Orient und Okzident. Ein Land, das in Bezug auf ihre Gesellschaft traditionell islamisch geprägt und gleichzeitig seinen modernen, also säkularen und demokratischen Staatscharakter betont hatte.

Die Türkei, die wir heute kennen als Brücke zwischen Europa und dem Nahen Osten mit seinem Aushängeschild Istanbul am Schnittpunkt dieser beiden „Welten“, war nicht immer so, wie sie heute erscheint. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches ergriff ein gewisser Mustafa Kemal („Atatürk“) die Chance und rief im Jahr 1923 eine Republik aus. Eine Republik, die die Türken vereint und eine radikale Abkehr von Werten und Charakteristika beinhaltet, die für Jahrhunderte Grundpfeiler dieser Gesellschaften waren.

Atatürk verbannte die Religion weitgehend aus dem öffentlichen Leben, die türkische Sprache wurde modernisiert und mit lateinischen Buchstaben geschrieben, und die Identität der Bürger soll türkisch und säkular sein. Dies war die Geburtststunde eines neuen mächtigen Staates in einer Region, die noch knapp hundert Jahre später von größter geopolitischer Bedeutung ist. Dass diese politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen auch gewaltsam und autokratisch durchgesetzt wurden, sollte der Richtigkeit halber auch erwähnt werden.

Jahrzehntelang war der Kemalismus Staatsideologie. Politik und Militär waren Garanten des Fortbestands dieser Identität und schafften so eine enge Anbindung der Türkei an die westliche Welt, sei es durch den Eintritt ins Verteidigungsbündnis NATO oder der Annäherung an die EU als Beitrittskandidat Ende der 1990er Jahre. Unliebsame Regierungen oder religiöse Parteien wurden notfalls durch Militärputsche aus dem Weg geräumt. Dies scheint heute kaum noch vorstellbar, obwohl mit der Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit „AKP“ eine islamisch-konservative Partei regiert, die mehr oder weniger offen den Kemalismus ablehnt.

Gerne würde sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, so scheint es, in ähnlichem Lichte sehen. In den letzten Jahren sind eine Tendenz in Richtung Personalismus zu erkennen, Erdoğan wird zunehmend als autoritärer Lenker empfunden, der Grundprinzipien eines liberaldemokratischen Staates missachtet. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob die Türkei an den Maßstäben einer liberalen Demokratie gemessen werden, oder ob sie ihren zuletzt eingeschlagenen Weg der Entfremdung mit demokratischen Grundregeln fortsetzen möchte.

Der Kernproblem der Türkei im Jahre 2015 besteht wohl darin, dass alte und neue Konflikte aufgrund der hohen Polarisierung wieder ausgebrochen sind, angeheizt und gesteuert durch eine Führung, die wenig von Demokratie, Bürgerrechten und Rechtstaatlichkeit hält. Diese Konfliktlinien verlaufen sowohl innen- als auch außenpolitisch und bringen die Türkei politisch in eine besorgniserregende Schieflage.

Die AKP unter Präsident Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu schüren die Konflikte unversöhnlich, unterminieren demokratische Institutionen und stellen die Gewaltenteilung rein praktisch in Frage. Populäre Journalisten der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, namentlich Can Dündar, Chefredakteur der einflussreichen Istanbuler Zeitung und sein Büroleiter in der Hauptstadt Ankara, Erdem Gül, wurden Ende November unter dem Vorwurf der Spionage und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet.

Nachdem Präsident Erdoğan und seine Getreuen bereits Ende 2013 von schweren Korruptionsvorwürfen getroffen waren, anhand eindeutiger Tonaufnahmen zwischen ihm – damals noch Ministerpräsident – und seinem Sohn Bilal. Statt gegen den Regierungschef juristisch vorzugehen, entließ, versetzte und tauschte man Staatsanwälte mit AKP-nahen Juristen aus.

Im Falle Dündar und Gül, stellvertrend für die weiteren in Haft befindlichen Journalisten, wurde dem Staat und seinem Geheimdienst MiT Ungeheuerliches vorgeworfen: Die Regierung hat über den MiT womöglich Waffen an islamistische Gruppierungen in Syrien geliefert. LKWs mit entsprechender Ladung, unter Geleit des MiT wurden an der Grenze aufgegriffen. Erdoğan höchstpersönlich sollte die Anzeige gegen die beiden Top-Journalisten eingereicht haben und vor allem Dündar im türkischen Staatsfernsehen TRT gedroht haben: „Dieser Journalist, der die Story mit den Lkw veröffentlicht hat, wird dafür schwer büßen. Ich lasse ihn damit nicht davon kommen.“ Diesen und weiteren Journalisten droht lebenslange Haft, die Türkei und ihre Presse- und Meinungsfreiheit sind an einem Tiefpunkt angelangt.

Das eine ist, regierungskritische Medien zu unterdrücken und sie auszuschalten versuchen, das andere aber ist, die Justiz, immerhin die dritte elementare Säule eines demokratischen Staates, mit regierungsfreundlichen „Handlanger“ besetzen zu wollen. Nicht nur die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht 2015 verurteilt die Einflussnahme der AKP-Regierung auf Richter und Staatsanwälte, „das Rechtssystem habe sich zurück entwickelt“, schreibt Brüssel an die Adresse Ankaras. Politischer Druck auf das Justizsystem wird auch von unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern wie Human Rights Watch angeprangert.

Besonders tragisch sind die Umstände, da sie ein Land, das politisch und sozial äußerst pluralistisch strukturiert ist, in ein besonders schlechtes Licht rücken. Die Türkei verfügt seit Jahrzehnten über eine relativ ausgeglichene Parteienlandschaft, zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen, Medien aller Couleurs, demokratische Institutionen, und eine bedeutsame ethnische Diversität.

Trotz des schwierigen Wahlkampfes für die Parlamentswahlen im November 2015, in der die AKP ihre absolute Mehrheit zurückgewann, behauptete sich die pro-kurdische linke Alternative „HDP“ als Parlamentskraft, wenn auch nur knapp. Die institutionell so hoch gewollte Hürde von 10 Prozent für den Einzug ins Parlament war für die HDP kein Hindernis, auch wenn Gewaltaktionen und Einschüchterungen, wie NGOs und die Partei selber berichteten, den Wahlkampf erheblich beeinträchtigt haben. Trauriger Höhepunkt war der Terroranschlag in Ankara im Oktober bei einer HDP-Veranstaltung, bei der mehr als 100 Menschen ihr Leben verloren, mehr als 500 wurden teils schwer verletzt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Staat und Geheimdienst über den Anschlag Bescheid wussten, ihn aber zumindest nicht verhindern wollten.

Dass Erdoğan nun eine Verfassungsänderungen zugunsten seines Amtes als Präsident vorsieht, einen pompösen Bau im Stile eines osmanischen Sultans erbauen ließ, und immer autoritärer die Staatsgeschicke leitet, beunruhigt viele Liberale und Intellektuelle, vor allem in den Großstädten Istanbul oder Izmir, die traditionell wenig mit der anatolischen „Peripherie“ gemeinsam haben. Fortschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen verblassen mehr und mehr. Einerseits, weil die AKP innenpolitisch von einer großen elektoralen Basis profitieren kann (ca. 50% der Stimmen, November 2015), die Wirtschaftsdaten ihnen Recht geben und der Großteil der türkischen Bevölkerung den Kurs Erdoğans und Davutoğlus mitzutragen scheinen.

Ob demokratische Grundrechte wie Meinungs-, Presse, und Versammlungsfreiheit, den Schutz von Minderheiten wie den Kurden, verwirklicht werden, sind keine existentiellen Fragen der Bevölkerungsmehrheit. Diese sind noch damit beschäftigt, die materialistischen Grundbedürfnisse, persönliche Sicherheit und sozio-ökonomischen Aufstieg voranzutreiben. Das Versprechen konnte ihnen die AKP einlösen.

Der offensichtliche Abstieg auf der Leiter hin zu einer liberalen Demokratie begann wohl mit der gewaltsamen Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013. Damals protestierten hundertausende, zumeist junge und gut ausgebildete Istanbuler für den Erhalt einer Grünanlage am berühmten Taksim-Platz. Nach der brutalen Reaktion von Staat und Sicherheitskräften wurde klar, die Regierung toleriert abweichende Meinungen kaum und schreckt nicht davor zurück, gegen die eigenen Bürger Gewalt anzuwenden und sie juristisch zu verfolgen. Die Gezi-Proteste galten geheimhin sowieso als politische Unmutsäußerung über die autokratischen Zustände.

Die große Frage, warum die türkische Führung den Weg hin zu einer illiberalen Demokratie zu wählen scheint, lässt sich anhand verschiedener Faktoren erklären. Die AKP genießt noch immer die Unterstützung seiner Wählerschaft, die politische Opposition aus nationalistischer MHP, kemalistischer CHP und pro-kurdischer HDP ist zu zersplittert, als dass sie der AKP ernsthaft gefährlich werden könnte. Die Wirtschaftsentwicklung in den letzten 10 Jahren war rasant, heute ist die Türkei bereits die 18. Größte Volkswirtschaft der Welt und sie wird wohl weiterwachsen. Wer den „Benachteiligten“ in den Mittelstand verhilft und die Türkei global konkurrenzfähig macht, hat augenscheinlich genügend Argumente, auch wenn sie gleichzeitig den demokratischen Charakter des Staates zersetzt.

Die externen Bedrohungen, oder die, die als solche wahrgenommen werden, rufen nach einer starken Führung, und die wird durch die AKP und ihre charismatischen leader verkörpert. Der Nahe Osten ist ein Pulverfass: Nachbarstaaten wie der Irak, zerfallen und dysfunktional. Der Iran, ein radikal-islamisch geführter Gottesstaat, weitgehend isoliert und Erzfeind der Sunniten. Zudem das vom Bürgerkrieg und IS daniederliegende Syrien, aus dem etwa 2 Millionen Flüchtligen alleine in die Türkei geflüchtet sind, ganz zu schweigen von den jenigen, die das Land als Transit benutzen. Schön längst ist die Türkei Teil dieser Konflikte.

Immer auf der Tagesordnung steht der Konflikt mit den Kurden des Landes, die immerhin 20 % der Bevölkerung ausmachen. Bis heute beklagen die Kurden ihre Unterdrückung und seit kurzem auch wieder gewaltsame Angriffe auf Leib und Leben. Politiker, Anwälte, Journalisten und einfache Zivilisten sind bei Vergeltungsschlägen der türkischen Armee in und um Diyarbakır bereits ums Leben gekommen.

Der Türkei kommt bei der Bewältigung dieser außenpolitischen Probleme eine hervorgehobene Stellung bei. Schon bei der Flüchtlingsfrage ließ sich Erdoğan mit etwa 3 Milliarden Euro umgarnen, damit er die Grenzen „besser kontrolliert“. Der türkische Präsident weiß um seine Macht in dieser Frage und hat zumindest die längst überfällige, rassistisch-angehauchte EU-Visa-Praxis für Türkinnen und Türken zu Fall gebracht.

Dass die Türkei im Demokratisierungsprozess schon einmal weiter war, noch als sie einen EU-Beitritt für realistisch hielten, und dann aber nach jahrelangem Hinhalten einen Kurswechsel vornahm, macht die Geschichte besonders beklagenswert. Auch wissenschaftliche Beobachter bescheinigten der Türkei beachtliche Erfolge bei der Umsetzung der sogenannten Kopenhagen-Kriterien, die die Türkei näher an die EU bringen sollten. Auch gerade unter der Führung des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan erzielte man die notwenigen Reformerfolge.

Leider ist eine Türkei innerhalb der EU eine Utopie, die von oberster Spitze nie gewollt war. Die Türkei wird in einigen Jahrzehnten das bevölkerungsreichste Land Europas sein, noch vor Deutschland. Demnach würde sie eine gewichtige Rolle in EU-Rat und –Parlament einnehmen. Sie ist muslimisch geprägt, als einziges Land der EU und die Außengrenzen würden dann bis nach Syrien, Irak und dem Iran reichen. Beitrittsgegner aus Deutschland, Frankreich, aber auch Griechenland und Zypern waren stark genug, den Beitritt zu torpedieren. Und nicht nur Vatikan betonte, Europa und die EU sind ein christliches Projekt, für Muslime ist kein Platz. Natürlich würde das so scharf kein Sarkozy, keine Merkel oder kein Brüsseler EU-Kommissar äußern. Die traurige Realität ist es dennoch.

Welche großartige Chance sich durch einen türkischen EU-Beitrtt geboten hätte – auch im Hinblick auf die aktuelle Lage – wollten die Entscheider in der EU nie sehen. Die Türkei war im Begriff EU-Standards zu erfüllen und die Bevölkerung europa-freundlich eingestellt; realistisch war eine Türkei im EU-Kreis aus politischen Motiven aber nie ganz. Nun hat sich die Türkei anders orientiert, möchte seine Position als Regionalmacht mit islamischer Ausrichtung weiter forcieren.

Die EU bietet keine Perspektive mehr und die Argumentationsstärke der EU-Beitrittsbefürworter ist mit der aktuellen Regierung auch verringert worden, auch wenn es dabei bleibt: Unter europäischer Aufsicht hat die Türkei die größten Fortschritte gemacht, denn der interne Druck auf Ankara ist ohne Europa zu schwach. Zudem ist man es auch den jungen, weltoffenen und politisch-interessierten Menschen in der vielfältigen Türkei schuldig. Nur so könnte die Zivilgesellschaft unterstützt und gefördert, die AKP-Führung gezwungen werden, demokratische Spielregeln, wie sie auch in der Türkei gelten (müssen), wieder zu beachten.

Die Türkei unter Erdoğan hat sich auf einen zweifelhaften Pfad gemacht, der nicht nur der Tradition des Gründungsvaters Atatürk widerspricht, sondern auch keinesfalls einer modernen Türkei entspricht. Eine Abkehr vom oft starren Kemalismus ist und war nie das Grundproblem. Die zunehmnde Illiberalisierung der türkischen Politik dagegen schon. Hinweise auf eine versöhnlichere Politik, auf eine Abminderung der brandgefährlichen Polarisierung und Spaltung, gibt es derzeit nicht. Zumindest kann man aber noch immer von einer lebendigen türkischen Demokratie sprechen, die alle Möglichkeiten hat, den Hebel umzulegen, auch mit Hilfe einer aufrichtig agierenden EU.
Martin Dudenhöffer, Universität Aalborg, Dänemark

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