Die (Ohn-)Macht der türkischen Linken?

Die Situation der türkisch-kurdischen Linken in der Türkei wirkt aktuell unüberschaubar. Es gibt viele Parteien, zwei Bündnisse mit verschiedenen Schwerpunkten und Streitthemen. Die unterschiedlichen Strategien der einzelnen Akteure erschweren bei den Wahlen den Einzug ins Parlament und die Ziele sind nicht klar ersichtlich. Dennoch wird die linke HDP wahrscheinlich zum Königsmacher und die Mehrheitsbildung im Parlament bestimmen.

Sozialdemokratie und Kleinstbündnisse

Die linke Parteienlandschaft in der Türkei ist wie in vielen Ländern breit gefächert und jene Parteien reihen sich in verschiedenen Bündnissen ein. Vor kurzem ist die Demokratische Linkspartei DSP vom ehemaligen fünffachen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, der Volksallianz beigetreten, die von Recep Tayyip Erdoğans AKP und der ultranationalistischen MHP dominiert werden. Die sozialdemokratische CHP ist mit anderen wirtschaftsliberalen, rechten und konservativen Abspaltungen der AKP in einem Bündnis. Das Bündnis der „Einheit der sozialistischen Kraft“ wird bei den Wahlen voraussichtlich weit weniger als 1 % kriegen und ist für die parlamentarische Ordnung nicht von Bedeutung.

Bündnis für Arbeit und Frieden

Die HDP, welche aufgrund eines Verbotsverfahren unter dem neuen Namen Grüne Linkspartei YSP antritt und im Bündnis für Arbeit und Freiheit ist, hat sich offiziell dazu entschieden, keine Präsidentschaftskandidatur anzustreben und den Kandidaten der CHP zu unterstützen. Ob ein Reformdeal ausgehandelt wurde oder ob aus der Sicht des Bündnisses nur das geringere Übel unterstützenswert ist, wird nicht klar kommuniziert. Klar ist jedoch, dass die ehemaligen Parteivorsitzenden der HDP Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, welche nicht nur den Respekt der kurdischen Bevölkerungen genießen, sich laut des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unrechtmäßig in Haft befinden und mit einer neuen Regierung wahrscheinlich mit weiteren politischen Gefangenen entlassen werden. Außerdem ist die große Hoffnung, dass das autokratische Ein-Mann-Präsidialsystem beendet und ein sogenanntes „verstärktes parlamentarisches System“ errichtet wird.

Auch wenn dies nach deutlichem Fortschritt klingt, ist es de facto eine Rückkehr zu leicht verbesserten alten Verhältnissen. Konkrete Forderungen für die Arbeiterklasse, marginalisierte Gruppen und Minderheiten stehen bei dieser Wahl nicht im Vordergrund, auch wenn verschiedene Gruppen innerhalb des Bündnisses Abgeordnete entsenden werden, die diese Gruppen vertreten sollen. Die HDP ist ursprünglich aus dem HDK (demokratischen Kongress der Völker) entstanden und umfasste damals verschiedenste linksorientierte Interessensgruppen und Parteien. Die größte beteiligte Partei war die damalige BDP (Partei für Frieden und Demokratie), welche eine rein linksnationalistische prokurdische Partei war. Vergleicht man das Profil der HDP mit den Vorgängerparteien der DTP (Partei der demokratischen Gesellschaft) und BDP ist sie Inhaltlich breiter aufgestellt, was sich auch in den Wahlergebnissen ausschlug. Nach der Vereinigung zur HDP erreichte diese bei den Wahlen im Juni 2015 ein historisches Wahlergebnis von 13,12 % (vergleich BDP 2014 etwa 4,16%). Während sich DTP und BDP überwiegend auf die kurdische Frage konzentrierten, erweiterte die HDP das Spektrum um Frauen-, ArbeiterInnen-, LGBTQI-, Tierrechte und Umwelt und bezog VertreterInnen von anderen Minderheiten ein.

Bei den Neuwahlen im November 2015 wurden einige ArbeiterInnenvertreter wie etwa Levent Tüzel von der EMEP seitens der HDP nicht wieder aufgestellt und die Stimmen fielen auf 10,8%. Mit dem neuen Bündnis für Arbeit und Frieden, schaffte die HDP es zwar wieder Arbeiter*Innenparteien ins Boot zu holen, doch schaut man sich die dominierenden Themen in den Medien an, so beschränken sich diese auf personelle Fragen. Die gesamte Linke schafft es nicht den Diskurs mitzubestimmen und eigene Themen in den Vordergrund zu rücken.

Verfehlte Wahlstrategien

Während alle Partnerinnen des Bündnisses sich dazu entschieden haben Abgeordnete über die Listen der YSP (HDP) ins Parlament zu schicken, möchte die Arbeiterpartei der Türkei TIP zwar im Bündnis aber als Einzelpartei antreten. Hierfür ist es gesetzlich notwendig, dass die Partei in mindestens der Hälfte der 87 Wahlbezirken mit eigenen Listen in die Wahl geht. Die TIP hat zwar nur in 7 Wahlbezirken eine realistische Chance Abgeordnete zu entsenden doch aufgrund des unübersichtlichen Wahlsystems könnte es sein, dass Wähler*innen auch in anderen Wahlkreisen die TIP wählen und dadurch die YSP potenzielle Abgeordnetenstellen verliert. Im schlimmsten Fall würde dies bedeuten, dass dem Bündnis für Arbeit und Freiheit bis zu 10 Abgeordnete verloren gehen, wenn dieses es nicht schafft die Stimmen richtig zu mobilisieren und Kreuzwahlen zwischen YSP und der TIP getätigt werden. Aufgrund dieser Entscheidung wird das Bündnis in jedem Fall in Hatay und Antalya Verluste verbuchen. Auf der Kippe stehen Abgeordnetenplätze in Großstädten wie Istanbul und Ankara. Zuvor hatte die Partei der Arbeit EMEP ebenfalls angekündigt im Bündnis als eigene Liste anzutreten revidierte diese Entscheidung aufgrund von Wahlstrategischen Gründen, um keine Abgeordnetenplätze zu gefährden.

Aktuelle Umfragen und Auswirkung der HDP/YSP Stimmen

Aktuellen Umfragen zufolge wird es in der nächsten Legislaturperiode keine eindeutige Mehrheit im Parlament geben. Zwar dürfte das Bündnis der Nation die stärkste Kraft, allerdings ohne eigene Mehrheit, und so dürfte es schwierig werden ohne die Stimmen der YSP/HDP Gesetze durchzubringen. Dies könnte dazu verhelfen, dass die YSP über die Diskurse und Ergebnisse mitbestimmt, obwohl sie nicht in der Regierung vertreten sein wird. Darüber hinaus befindet sich die YSP aktuell in der Position des Königsmachers. Die Entscheidung dazu, Kılıçdaroğlu als Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen wird mit höchster Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass Erdoğans Ära als Regierungs/Staatsoberhaupt beendet wird. Dies wird wohl künftig bei Wahlen als Druckmittel eingesetzt werden, wenn die YSP es schaffen sollte, WählerInnen bei sich zu behalten.

Von Engin Atasoy.

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