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Wir brauchen eine ökosozialistische Revolution!

Teil 4 der Artikelreihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän

Die Erderhitzung, die existenzielle ökologische Krise, das Überschreiten von Kipppunkten des Erdsystems sowie die abrupten Veränderungen des Erdsystems bedeuten, dass wir in eine Phase voller Wendungen und Brüche treten. Zugleich verschärfen sich die weltweiten Ausbeutungskaskaden und geopolitischen Spannungen. Die Zeit verdichtet sich. In rascher Abfolge verändern sich die Bedingungen des Alltagslebens für Milliarden von Menschen. Die Grundlagen für bislang diskutierte gesellschaftspolitische Konzepte und wirtschaftspolitische Rezepte brechen weg.

In diesem Teil 4 der Artikelreihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän argumentiere ich, dass die Konsequenzen der Brüche im Erdsystem, deren drängendste Manifestation die Erderhitzung ist, sich nur noch auf eine solidarische Weise mindern lassen. Hierzu ist es nötig, dass sich die Lohnabhängigen als Subjekt der Emanzipation konstituieren und einen gesellschaftlichen Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise durchsetzen. Doch dieser Prozess erfordert Strategien und strategisch handelnde Organisationen.

Mit diesem Beitrag greife ich in eine zaghaft beginnende Debatte über Strategien der Klimabewegung, die Orientierung auf einen Green New Deal als sozial-ökologische Reformstrategie und revolutionäre ökosozialistische Strategien ein.

Ich argumentiere, dass revolutionäre Strategien des Bruchs am ehesten dem Anthropozän-Kapitalismus mit seinen Kipppunkten im Erdsystem und den damit verbundenen abrupten Brüchen und Wendungen entsprechen. Dabei stelle ich die Hypothese zur Diskussion, dass dringend ein Verständnis über Möglichkeiten einer umfassenden gesellschaftlichen Revolution neu zu entwickeln ist.

Ich greife Ideen von Daniel Bensaïd auf und knüpfe zugleich an den Ausführungen von David McNally über die gegenwärtige Bedeutung revolutionärer Strategien[1] sowie das kürzlich in Spectre publizierte Roundtable Gespräch mit Gareth Dale, Amanda Armstrong Price, Lucí Caballero und Adam Hanieh an.[2] Die ökologischen Zwänge machen diese Überlegungen noch brisanter.

Strategische Hypothesen in verdichteter Zeit abrupter Wendungen und Kipppunkte

Mit dem Anthropozän-Kapitalismus treten wir in eine Phase voller Ungewissheiten und abrupter Wendungen. Diese umfassen sowohl die physischen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens, die ökonomische Instabilität und sozialen Auseinandersetzungen als auch die zugespitzte imperialistische Rivalität und die damit einhergehenden geopolitischen Hegemonieverschiebungen.

Die Dynamiken des Erdsystems mit seinen Kipppunkten werden den Gesellschaften abrupte Veränderungen aufzwingen. Pandemien sowie gesellschaftliche Katastrophen durch Dürren, Überschwemmungen und Hitzeperioden sind der neue Normalzustand. Sie werden die klassenpolitischen Auseinandersetzungen prägen. Der erhitzte Planet lässt viele althergebrachten und vertrauten Lebensumstände abrupt abbrechen. Das erfahren die Menschen, deren Häuser weggeschwemmt oder verbrannt wurden. Schon bald werden Millionen von Menschen ihre Städte wegen unerträglicher Hitze oder permanenter Überschwemmungsgefahr verlassen müssen.[3] Es gibt weder Sicherheiten noch Gewissheiten. Die Pandemie bietet uns einen bitteren, aber vergleichsweise geringen Vorgeschmack auf derartige Veränderungen.

Die Herrschenden in den imperialistischen Ländern vermochten in den vergangenen Jahrzehnten, die wiederholten Krisen so zu bearbeiten, dass sich der Widerstand nicht verallgemeinerte. Sie zäunten ihn gesellschaftlich und räumlich ein, wie beispielsweise in Griechenland 2015. Für die meisten Lohnabhängigen in den imperialistischen Ländern veränderten sich die Lebensbedingungen nur schrittweise. Doch das Kapital und ihre Regierungen reagieren in vielen Ländern auf die Krise und die Pandemie, indem sie den Klassenkampf von oben intensivieren. Es gibt nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass die dominierenden Kapitalfraktionen bereit sind, sich auf einen umfassenden sozial-ökologischen Kompromiss einzulassen. Die sozialen Widersprüche und Unsicherheiten verschärfen sich.

Die USA können ihre imperialistische Hegemonie nicht mehr uneingeschränkt durchsetzen. Die Rivalität mit dem aufstrebenden chinesischen Imperialismus und dem sich vorläufig stabilisierten russischen Imperialismus verschärft sich. Die EU ist weiterhin nicht in der Lage, ein konsistentes Entwicklungsmodell auszuarbeiten und zu verwirklichen. Das Projekt des European Green Deals will einem grünen Kapitalismus zum Durchbruch verhelfen, den wichtigsten Kapitelfraktionen in Europa eine weltweit führende Position bei Umwelttechnologien verschaffen und gleichzeitig die gesellschaftlichen Widersprüche einigermaßen moderieren.[4] Doch dieses Vorhaben kollidiert mit den zu großen inneren Widersprüchen der EU, der zu tiefen wirtschaftliche Krise und dem umfassenden ökologischen Riss.

Diese Veränderungen zwingen alle Bewegungen, die auf eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise hinarbeiten, zu grundlegenden Überlegungen über eine angemessene Strategie. Die reformorientierten Strategien stehen bereits seit Langem auf tönernen Füßen. Die Produktivitätsfortschritte sind seit den 1970er Jahren nicht so groß, dass sie erlauben würden, sowohl eine hohe Profitrate einzufahren als auch die Löhne parallel zu den Produktivitätssteigerungen zu erhöhen sowie eine gut ausgebaute gesellschaftliche Infrastruktur aufzubauen und zu erhalten.[5] Zudem stellen die planetary boundaries[6] des Erdsystems dem Akkumulationsprozess substanzielle Hürden in den Weg.

Doch macht die zugespitzte globale ökologische Krise eine sozial-ökologische Reform des Kapitalismus gänzlich unmöglich – vor allem in der zwingend erforderlichen Zeit. Noch deutlicher als je zuvor offenbart sich, dass die Vorstellungen eines graduellen Fortschritts, einer schrittweisen und allmählichen Erstarkung sozialistischer Kräfte über Beteiligungen an bürgerlichen Regierungen oder die Übernahme von Regierungsverantwortung auf Sand gebaut sind. Hierzu fehlen nicht nur die politischen, sondern in erster Linie die ökonomischen und ökologischen, also unmittelbar materiellen Grundlagen.[7]

Leider geben sich die radikaleren Kräfte der sozialistischen Bewegungen seit mehreren Jahrzehnten mit einer Armut an strategischen Debatten und einer seltsamen Selbstbeschränkung zufrieden. Es gibt kaum Vorstellungen darüber, wie sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse so stark verändern lassen, dass sich aus dem Aufbau von Gegenmacht eine Situation der Doppelmacht ergibt, die sich schließlich in einem Entscheidungskampf zugunsten der Kontinuität oder Wiederherstellung der alten Ordnung oder mit einem Sieg der revolutionären Kräfte auflöst. Wollen ökosozialistische Kräfte die Kräfteverhältnisse verändern, sind sie gefordert, strategische Hypothesen zu formulieren.

Revolutionäre Ökosozialist:innen stehen vor einer Herausforderung, die historisch komplett neu ist. Die Brüche im Erdsystem und die Konsequenzen der Erderhitzung sind so weitreichend, dass sie die menschliche Gesellschaft, so wie wir sie kennen, in wenigen Jahrzehnten in Frage stellen. Die kapitalistische Produktionsweise kann nur noch verbunden mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Regression und ökologischen Zerstörung weiterbestehen. Das geht so weit, dass die durch die Erderhitzung ausgelösten gesellschaftlichen Katastrophen die physische Reproduktion eines beträchtlichen Teils der Menschheit verunmöglichen wird. Nicht zu vergessen: Die kapitalistische Akkumulation produziert bereits seit ihren Anfängen unermesslichen Wohlstand gleichermaßen wie Hunger und Elend.

Nur mit einem möglichst raschen antikapitalistischen Bruch lässt sich die Erderhitzung so weit abbremsen, dass eine verhängnisvolle Eigendynamik verhindert wird, die das Überleben und Leben unserer Gesellschaften ernsthaft in Frage stellen würde. Mit dieser Problemlage in extrem verdichteter Zeit auf Weltebene sind vielleicht die Zeiten am Vorabend und zu Beginn der beiden Weltkriege vergleichbar. Doch die historische Tragweite und geographische Reichweite der gegenwärtigen Herausforderung sind umfassender. Dennoch bieten historische Erfahrungen und deren Verarbeitung Hinweise zur Entwicklung einer revolutionären ökosozialistischen Strategie.

Der französische Philosoph Daniel Bensaïd argumentierte in einem inspirierenden Artikel,[8] dass die Vorstellung eines mechanischen Fortschritts ohne Krisen oder Brüche einem Verständnis homogener und leerer Zeit entspreche. Das sei letztlich eine nicht-politische Zeit. Er erinnerte an die Debatten in der Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Karl Kautskys reformistische Vorstellung einer „passiven Akkumulation“ der Kräfte haben einem derartigen Zeitverständnis entsprochen.

Demgegenüber entwickelte Wladimir Iljitsch Lenin ein Verständnis von Politik als Strategie zum direkten Eingreifen und Aufbrechen der staatlichen und ökonomischen Strukturen. Der russische Revolutionär dachte Politik als Strategie mit ihren günstigen Momenten und Schwachstellen. Im Gegensatz zur klassischen Sozialdemokratie verstand Lenin die Politik als eine Zeit voller Kämpfe, eine Zeit von Krisen und Zusammenbrüchen. Mit seinem Konzept der revolutionären Krise erfasste er Situationen, die nicht der kontinuierlichen Stärkung einer sozialen Bewegung entsprachen, sondern vielmehr eine allgemeine Krise der gegenseitigen Beziehungen zwischen allen Klassen einer Gesellschaft ausdrückten.[9]

In revolutionären Krisen werden Herrschaftsverhältnisse zerrissen. Die Zeit der Strategie vergeht nicht wie die Zeit der Nadel auf dem Zifferblatt, sie entspricht vielmehr einem Rhythmus von plötzlichen Beschleunigungen und Verlangsamungen. Revolutionen nehmen ihre eigenen Geschwindigkeiten an; die politischen Auseinandersetzungen beschleunigen und verlangsamen sich abrupt.[10]

Daniel Bensaïd greift Walter Benjamins Geschichtsverständnis auf. Benjamin argumentierte, dass die strategische Zeit der Politik weder linear noch leer im Sinne eines mechanischen Vorgangs verlaufe. Sie sei vielmehr eine diskontinuierliche, eine zerrissene und gebrochene Zeit voller Knoten und bedeutungsschwangerer Ereignisse. Benjamin kritisierte das lineare Fortschrittsverständnis der Sozialdemokratie – eine Kritik, die auch auf die degenerierte kommunistische Bewegung zutraf und weiterhin zutrifft. Denn der Fortschritt schreitet eben nicht unaufhaltsam voran. Die Vorstellung einer linearen Entwicklung in einer homogenen und leeren Zeit ist daher völlig unangemessen.[11]

Ein weiterer Gedanke Walter Benjamins hilft uns, die Schärfe der gegenwärtigen Herausforderung zu erkennen. Er schrieb unter dem Eindruck den Faschismus, des Hitler-Stalin-Pakts, des Beginns des Zweiten Weltkriegs und des Versagens der Arbeiterbewegung, den Faschismus zu stoppen sowie die bürokratische Degenerierung der UdSSR aufzuhalten: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht [. . .] sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“[12] Benjamin stellt sich damit nicht zwingend in Gegensatz, allerdings in kritische Distanz zu Karl Marx, der in seiner Schrift Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850 die gesellschaftliche Erneuerung mit dem bewussten Eingreifen der Bauernschaft neben dem Proletariat analysierte.[13] Mit dieser Zuspitzung drückte Benjamin allerdings klar sein Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung aus. Es gibt keinen linearen Fortschritt, die Entwicklung ist vielmehr von Sprüngen, Verdichtungen, Stagnation und Regression gekennzeichnet. Wichtig ist das subjektive Handeln. Denn die Notbremse zieht sich nicht von selbst. „Die einzige Hoffnung liegt in den realen sozialen Bewegungen.“ Michael Löwy weist darauf hin, dass die indigenen Gemeinschaften beim Kampf gegen die Erderhitzung eine zentrale Rolle einnehmen.[14]

Heute ist der Griff nach der Notbremse die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass sich Produktivkräfte vollends zu Destruktivkräften entfalten und die Menschheit in den Abgrund reißen. Die Revolution ist keine Garantie auf eine emanzipatorische Perspektive, aber eine Voraussetzung dafür, dass die Lokomotive nicht entgleist. Allerdings ist die Zeit knapp in der wir die Notbremse ziehen können, und sie wird kürzer. Die strategische Frage lautet also: Wie lässt sich die Notbremse ziehen?

Gebrochene und verdichtete Zeit im Anthropozän-Kapitalismus

Bensaïds und Benjamins Verständnis einer gebrochenen Zeit, in der sich abrupte Veränderungen ereignen, sich die Gesellschaften sprunghaft verändern, die Geschichte gewissermaßen Sprünge reißt, die Quantität in Qualität umschlägt, hilft beim Verständnis der gegenwärtigen Herausforderungen angesichts der Brüche und Sprünge des Erdsystems und ruckartiger gesellschaftlicher Prozesse. Doch die Zeit bricht nicht nur, sondern sie verdichtet sich, bevor sie bricht.

Diese verdichtete Zeit ist Ergebnis miteinander verketteter und sich teilweise gegenseitig bedingender historischer Prozesse. Die durch den räuberischen und zerstörerischen gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur hervorgerufenen, sprunghaften Veränderungen des Erdsystems und der Ökosysteme, die ökonomische und gesellschaftliche Krise, die Verarmungs-, Prekarisierungs- und Fragmentierungsprozesse, die geopolitische Rivalität, politische Orientierungskrise der herrschenden Kapitalfraktionen und eine existenzielle Krise der klassischen Arbeiter:innenbewegung treffen zusammen. Unterschiedliche Prozesse verketten sich, bilden eine unentwirrbare Gemengelage und haben immense gesellschaftliche Auswirkungen. Diese geschehen räumlich ausgesprochen ungleich, sowohl konzentriert als auch großräumig selektiv zerstreut. Sie sind aber zumeist voneinander abhängig.

Ein aktuelles Beispiel vergleichsweise noch geringer Tragweite dient zur Erläuterung derartiger Verkettungen: Die SARS-CoV2-Ansteckungen breiteten sich mit der vierten Pandemiewelle in einigen Südstaaten der USA Ende August 2021 rasant aus. Die Krankenhäuser waren überfüllt. Ein Hurrikan zog über die betroffene Region. Die Krankenhäuser ließen sich nicht evakuieren. Die Regierungen hatten keine Vorbereitungen getroffen. Die materielle und gesellschaftliche Infrastruktur in der betroffenen Region ist mangelhaft, ein Ergebnis der generellen Profitorientierung, der Austeritätspolitik in den letzten Jahrzehnten und der grundsätzlich ungleichen Entwicklung in den kapitalistischen USA. Weite Teile der Bevölkerung sind verarmt. Die Bundesregierung, die Regierungen der Einzelstaaten und die Stadtregierungen haben andere Prioritäten. Gefangen in ihrer Logik des Wettbewerbs und eines Verständnisses, das den Staat als Garanten der Akkumulationsbedingungen für das Kapital versteht, handeln sie den Problemlagen nicht angemessen und verschlimmern die Katastrophen. Die Pandemie traf auf unvorbereitete Regierungen und Staatsbürokratien. Sie verschleppen und verlängern die Pandemie, obwohl diese mit entschlossenem Handeln zu bewältigen gewesen wäre. Die sich verschärfenden Hurrikane treffen ebenso auf unvorbereitete Behörden und Bevölkerungen.

Die Prozesse stoßen in kurzer Zeit zusammen, verketten und verdichten sich. Sie haben nicht nur enorme Auswirkungen für eine große Anzahl an Menschen, sondern können sich gegenseitig verstärken und Kettenreaktion auslösen. Ob aus dieser Verdichtung dann auch ein Sprung erwächst, also eine qualitative Veränderung in der Gesellschaft hervortritt, hängt vom subjektiven Handeln der betroffenen Menschen und ihrer Organisationskraft ab. Die dichte Zeit und die gebrochene Zeit bedingen sich gegenseitig.

Derart ökologisch-ökonomisch-gesellschaftlich-politisch verkettete Ereignisse werden zunehmen. In einer gebrochenen und verdichteten Zeit voller abrupter Wendungen braucht es neue Hypothesen für angemessene revolutionäre Strategien. Die Problemlagen und Herausforderungen werden sich in rascher Zeit immer stärker verdichten und gesellschaftliche Brüche hervorrufen. Darum taugen die althergebrachten Verständnisse schrittweiser Reform nicht mehr. Sie haben buchstäblich ihre materielle Grundlage verloren. Doch auch die Referenz auf die russische Revolution hilft nicht oder nur sehr eingeschränkt. Diese fand aufgrund der historisch spezifischen Bedingungen in Russland von Anfang an in den reichen imperialistischen Ländern mit ihrer ausdifferenzierten und heterogenen Klasse der Arbeitenden und der stärkeren Integrationskraft der bürgerlichen Gesellschaft keine gesellschaftliche Grundlage.

Der Neoliberalismus hat seine Attraktivität verloren. Die herrschenden Kapitalfraktionen in Europa und Nordamerika vermögen derzeit kein attraktives und glaubwürdiges Projekt für die kommende gesellschaftliche Entwicklung zu präsentieren. Sie befinden sich in einer Orientierungskrise. Die technologiegestützte „grüne Ökonomie“ ist zu widersprüchlich, als dass sie kurzfristig eine hegemoniale Stellung erreichen könnte. Sie vermag die Risse im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur nicht zu heilen. Im Gegenteil, sie wird neue Risse hervorrufen, vor allem durch die Plünderung der Rohstoffe, die für die Energiewende so dringend erforderlich sind.

Das Projekt einer sozial-ökologischen Reform verspricht kaum mehr als eine schrittweise Verbesserung zu „mehr sozialer Gerechtigkeit“ und „Maßnahmen gegen den Klimawandel“. Weder das eine noch das andere ist unter kapitalistischen Bedingungen realistisch. Diese Orientierung reduziert sich auf die Hoffnung auf eine kontinuierlich wachsende gesellschaftliche Verankerung und Teilnahmen an bürgerlichen Regierungen. Solange kapitalistische Verhältnisse bestehen, müssen Unternehmen danach trachten, überdurchschnittlich profitabel zu „wirtschaften“. Das heißt, sie müssen Arbeiter:innen ausbeuten, reproduktiv Arbeitende unbezahlt arbeiten lassen und die Natur plündern.

Eine entscheidende Frage ist, ob diese sich verkettenden gesellschaftlichen Prozesse und Ereignisse, die sowohl aus substantiellen Veränderungen des Erdsystems oder sogar aus Überschreitungen von Kipppunkten des Erdsystems als auch der krisenbehafteten ökonomischen Dynamik resultieren, zu gesellschaftlichen Kipppunkten führen. Das heißt zu Situationen, in denen sich ein Umschlag in eine qualitative neue Situation vollzieht.

Bislang hat das Zusammentreffen der unterschiedlichen Krisenprozesse in den letzten Jahrzehnten zwar an verschiedenen Orten zu revolutionären Krisen geführt. Beispielhaft können wir die revolutionären Erhebungen 2011 in der arabischen Welt sowie die Prozesse in Ecuador, Chile, Libanon und Irak in den Jahren 2019 und 2020 anführen. Aber nirgendwo vermochten sich sozialistische Kräfte durchzusetzen. Nicht einmal antikapitalistische Strukturreformen wurden durchgeführt, auch nicht in Venezuela. Überall obsiegte die eine oder andere Form einer Konterrevolution. Bei diesen Erhebungen fehlten gesellschaftlich verankerte revolutionäre Organisationen, die in der Lage gewesen wären, bisherige Erfahrungen zu verarbeiten und unterschiedliche Anliegen in diesen Bewegungen in einem antikapitalistischen Übergangsprogramm zu bündeln.[15] In keinem Land verfügen revolutionäre oder gar ökosozialistische Organisationen über eine gesellschaftliche Verankerung, die ihnen eine politische Initiativ- und Handlungsfähigkeit erlauben würde. Die Zerstörungen der ökologischen und ökonomischen Lebensgrundlagen von Millionen oder gar Milliarden von Menschen werden wahrscheinlich bereits in naher Zukunft neue Revolten an ganz verschiedenen Orten der Welt provozieren. Diese gesellschaftlichen Aufbrüche können überraschend und in unterschiedlichen Erscheinungsformen geschehen. Werden dann emanzipatorische und ökosozialistische Kräfte in der Lage sein, diese Bewegungen zu unterstützen und politisch zu prägen?

Eine revolutionäre Krise entsteht, wenn die „oben“ nicht mehr länger regieren können wie zuvor, wenn die „unten“ nicht mehr länger akzeptieren, unterdrückt zu werden, und wenn sich diese doppelte Unmöglichkeit durch ein plötzliches Aufbrausen der Massen ausdrückt. Trotzki übernimmt diese Kriterien in seiner Geschichte der russischen Revolution.[16]

Die Krise allein garantiert nicht die Bedingungen ihrer Lösung. Darum ist für Lenin die Intervention einer revolutionären Partei der entscheidende Faktor in einer kritischen Situation. Nicht jede revolutionäre Situation führt zu einer Revolution. Eine Revolution entsteht nur aus einer Situation, in der die oben genannten Veränderungen von einer subjektiven Veränderung ergänzt werden, namentlich die Fähigkeit einer revolutionären Klasse, revolutionäre Massenaktionen durchzuführen, die stark genug sind, die Macht der alten Regierung zu brechen.[17] Damit sind wir beim Problem der Doppelmacht, auf das ich in Teil 5 dieser Reihe, zurückkomme.

Verdichtete Zeit abrupter Brüche

Nach einer langen leeren Zeit gradueller Veränderungen, sind wir in eine Phase der verdichteten Zeit abrupter Brüche eingetreten. Die Brüche im Erdsystem werden die Lebensbedingungen von Millionen oder Milliarden von Menschen abrupt verändern. Darum gehören die uns vertrauten politischen Projekte sozialdemokratischer, grüner und linker Parteien der Vergangenheit an. Sie sind in dieser verdichteten Zeit vollkommen wirkungslos, denn sie gehen immer noch von stabilen Verhältnissen aus. Sie sehnen sich regelrecht nach Stabilität und Sicherheit, allerdings nur in den imperialistischen Zentren der Weltökonomie. Diese Strategien sind unangemessen und tragen dazu bei, dass die sozialen und ökologischen Probleme immer größer werden und die Lasten auf die Menschen in den postkolonialen Ländern abgewälzt werden.

  • Die Zeit gradueller und kleinteiliger sozial-ökologischer Transformationsdebatten ist abgelaufen. Dafür gibt es keinen Spielraum mehr. Sozial-ökologische Reformbündnisse und Projekte für einen „linken Green New Deal“ sind ökologisch ungenügend und ökonomisch widersinnig.[18] Orientierungen, die auf eine sozial-ökologische Transformation des Kapitalismus setzen, sind im Anthropozän-Kapitalismus auf Sand gebaut und werden in grauenvolle Niederlagen führen. Die kapitalistische Produktionsweise lässt sich nicht ökologisch verträglich organisieren.
  • Es geht ums Ganze: Um die Erderhitzung auf 1,5° Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, sind in den imperialistischen Ländern einschließlich China die gesamten Produktionsapparate, die Transport- und Logistiksysteme sowie die gesellschaftliche Reproduktion komplett umzubauen. Der fossile Sektor ist demokratisch geplant und kontrolliert herunterzufahren, angefangen mit der Rüstungsindustrie und weiten Teilen der Automobilindustrie. Jene kleinen Teile der Automobilindustrie, die noch nützlich sind, wie beispielsweise die Busproduktion und die Herstellung gewerblicher und gemeinschaftlicher Autos, sind unter demokratischer Kontrolle mit dem Eisenbahnsektor zu einer nachhaltigen Mobilitätsindustrie zu verschmelzen. Der Finanzsektor ist auf das zu reduzieren, was für die Finanzierung des Umbaus und einer angemessenen gesellschaftlichen und industriellen Infrastruktur nötig ist.
  • Der Fossil-Finanz-Staatskomplex ist zu zerschlagen. Viele fossile Konzerne befinden sich (teilweise) in Staatseigentum. Das zeigt: Staatliches Eigentum alleine ist keine Lösung. Wir müssen eine Bewegung aufbauen, die in der Lage ist, den Finanzsektor und den gesamten Energiesektor sowie die Schlüsselindustrien gesellschaftlich demokratisch anzueignen. Das ist eine Voraussetzung für den industriellen Umbau.

In dieser sich abrupt wendenden und verdichteten Zeit brauchen wir gesellschaftliche und politische Strategien, die den Brüchen im Erdsystem und den sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Konsequenzen entsprechen. Darum gilt es, die revolutionäre Perspektive aus den historischen Debatten in die aktuellen Auseinandersetzungen zu bringen und neu zu erfinden.

In Teil 5 der Reihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän wird der Autor konkrete Vorschläge einer strategischen Orientierung auf gesellschaftliche Aneignung und Aufbau von Gegenmacht herausarbeiten.

Quellen und Anmerkungen

[1] McNally 2021, auf Deutsch hier: Was bedeutet Revolution heute https://sozialismus.ch/theorie/2021/was-bedeutet-revolution-heute/

[2] Dale, Armstrong Price, et al. 2021

[3] Christian Zeller (2021): Die Politik versagt, die Zeit läuft uns ab Die Freiheitsliebe

[4] EU 2020

[5] Husson 2021; Roberts 2021

[6] Steffen, et al. 2018; Steffen, et al. 2015

[7] In einem anderen Beitrag erkläre ich ausführlich, warum Vorstellungen einer sozial-ökologischen Reform des Kapitalismus und die Vorschläge für einen Green New Deal ökologisch ungenügend und ökonomisch inkonsistent sind (Zeller 2021a).

[8] Bensaïd 2002

[9] Lenin 1916

[10] Bensaïd 2003: 141, 154

[11] Benjamin 1940; Bensaïd 2002: 3; 2003: 154

[12] Benjamin 1940: 153

[13] Marx 1850: 85

[14] {Löwy, 2016 #5503: 88}

[15] Dale, Barker, et al. 2021.

[16] Trotzki 1931/1973

[17] Bensaïd 2002

[18] Siehe hierzu meine beiden Artikel über linke Green New Deal Projekte (Zeller 2021a, 2021b).

Literatur

Benjamin, Walter (1940): Über den Begriff der Geschichte. In: G. Raulet (Hrsg.): Werke und Nachlaß / kritische Gesamtausgabe; Bd. 19, 1. Aufl., 2010. Berlin: Suhrkamp.

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Dale, Gareth; Armstrong Price, Amanda; Cavallero, Lucí und Hanieh, Adam (2021): What is the Meaning of Revolution Today? Spectre July 30, 2021. https://spectrejournal.com/what-is-the-meaning-of-revolution-today-2/

Dale, Gareth; Barker, Colin und Davidson, Neil (Hrsg) (2021): Revolutionary Rehearsals in the Neoliberal Age. Chicago: Haymarket Books, 448 S.

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Husson, Michel (2021): Economie politique: après l’hibernation. À l’encontre 2. Februar 2021. http://alencontre.org/laune/apres-lhibernation.html

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Marx, Karl (1850): Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. Karl Marx-Friedrich Engels Werke (MEW), Band 7. Ausgabe 1960, beruht auf einer von Friedrich Engels besorgten Ausgabe von 1895. Berlin DDR: Dietz Verlag. S. 9-107.

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Steffen, Will; Rockström, Johan; Richardson, Katherine; Lenton, Timothy M.; Folke, Carl; Liverman, Diana; Summerhayes, Colin P.; Barnosky, Anthony D.; Cornell, Sarah E.; Crucifix, Michel; Donges, Jonathan F.; Fetzer, Ingo; Lade, Steven J.; Scheffer, Marten; Winkelmann, Ricarda und Schellnhuber, Hans Joachim (2018): Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. Proceedings of the National Academy of Sciences 115 (33), S. 8252-8259. https://www.pnas.org/content/pnas/115/33/8252.full.pdf

Trotzki, Leo (1931/1973): Geschichte der russischen Revolution. Erster Teil: Februarrevolution 1. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1-400 S. Originalpublikation: S. Fischer Verlag, Berlin, 1931.

Zeller, Christian (2021a): Green New Deal als Quadratur des Kreises. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 51 (1 (202)), S. 31-51

Zeller, Christian (2021b): Linker Green New Deal. Ökonomisch inkonsistent, ökologisch unangemessen. Die Internationale (2/2021). https://inprekorr.de/592-deal.htm

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