Screenshot, phoenix, YouTube, Olaf Scholz in Israel: Pressekonferenz mit Benjamin Netanjahu

Wenn ‘Propaganda‘-Kritik zu Propaganda wird

Die Herausgeberin des Schweizer Onlinemagazins Geschichte der Gegenwart hat einen Artikel zu Palästina und der Ukraine verfasst, den man in seiner Argumentation so nur von der Springer-Presse kennt.

Unter dem Titel #Doppelstandard veröffentlichte das Schweizer Onlinemagazin Geschichte der Gegenwart Ende Juni einen Artikel zum Thema Doppelstandard-Anschuldigungen in der Außenpolitik. Als Case Study suchte sich Herausgeberin Sylvia Sasse den Vergleich zwischen Palästina/Israel und Ukraine/Russland und fragt sich: „… warum werden diese Kriege eigentlich verglichen?”

Schon zu Beginn zeigt sich, dass sich die Autorin nicht sonderlich mit der Anschuldigung der Doppelstandards im Kontext von Palästina und Israel beschäftigt zu haben scheint. Laut der Einführung des Artikels ist von Doppelstandards „… häufig die Rede, wenn es um einen Vergleich mit den Kriegen Russland/Ukraine und Israel/Gaza geht”. Korrekter wäre jedoch, dass die Anschuldigung der Doppelstandards fester Bestandteil des Diskurses all derer ist, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Israels Politik und die seit über einem Jahrhundert anhaltende Entrechtung der Palästinenser*innen zu verteidigen. Am prominentesten ist hier der pseudowissenschaftliche „3D-Test für Antisemitismus”, dessen drei Ds für Dämonisierung, Delegitimierung und eben Doppelstandards stehen und in jedem Pamphlet zu „israelbezogenem Antisemitismus” von DIGAmadeu Antonio Stiftung und Co. schon seit fast zwei Jahrzehnten zu finden ist. Für eine ernsthaftere Diskussion zum Thema Doppelstandards im Kontext von Palästina und Israel wäre genau hier der Ausgangspunkt gewesen.

Man muss der Autorin jedoch zugutehalten, dass sie in zwei kurzen Paragraphen anspricht, dass der Vorwurf der Doppelstandards oder der Doppelmoral durchaus legitim sein kann:

Doppelstandards oder Doppelmoral zu identifizieren kann sowohl ein Verfahren von Kritik sein als auch ein Verfahren von Propaganda und Desinformation unter dem Deckmantel von Kritik. Während der Hinweis auf Doppelmoral aufzeigt, dass im Prinzip Vergleichbares „mit zweierlei Maß“ oder mit „verschiedenen Ellen“ gemessen wird und entsprechende Aussagen deshalb heuchlerisch, hypokritisch oder bigott seien …

und, dass es auch unter westlichen Medien diese Doppelstandards gibt:

Mir geht es hier nicht darum zu leugnen, dass in Medien oder in der politischen Argumentation Doppelstandards verwendet werden, das ist in der Tat häufig der Fall, in unterschiedlichen Medien demokratischer Länder ebenso wie in den Staatsmedien autokratisch regierter Länder. Und in all diesen Medien werden auch Doppelstandards beklagt.

Jedoch fragt sich Sasse „… warum ausgerechnet die Kriege Russland/Ukraine und Israel/Gaza mit dem Verweis auf Doppelstandards verglichen werden, obwohl sie doch kaum vergleichbar sind”. Was der Autorin auf dem Magen zu liegen scheint, ist die Tatsache, dass Palästina mit der Ukraine verglichen wird und Israel mit Russland und nicht umgekehrt.

Als erstes Beispiel dieser Unvergleichbarkeit verweist sie auf die Forderungen von Palästina-solidarischen Protesten an westlichen Universitäten die Kooperation mit israelischen Universitäten einzustellen, genauso wie der Westen die Kooperation mit russischen Universitäten eingestellt hat. Das Argument, warum die Beendigung der Kooperation mit russischen Universitäten legitim ist und die mit israelischen Universitäten nicht, geht wie folgt:

Die Verträge mit russischen Universitäten wurden nicht [aufgehoben], weil ukrainische Universitäten angegriffen worden sind oder weil russische Universitäten Waffen entwickeln, sondern vor allem weil sich die Rektorenkonferenz in Russland und mit ihr 700 Universitätsrektor:innen bereits am 4. März 2022 offen und öffentlich zum Krieg gegen die Ukraine bekannt haben! Der Brief der Rektorenkonferenz begann mit den Worten: „Russland hat die Entscheidung getroffen, die achtjährige Konfrontation zwischen der Ukraine und dem Donbass endlich zu beenden, eine Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine durchzusetzen und sich so vor einer wachsenden militärischen Bedrohung zu schützen. […] Die Universitäten waren stets eine Stütze des Staates. Unser vorrangiges Ziel ist es, Russland zu dienen.“

Die russländischen Universitäten waren zu politischen Akteuren des Krieges geworden. Man stelle sich umgekehrt – da es ja um Vergleichbarkeit geht – einen solchen Brief israelischer Universitäten vor …

Was einem in dieser Argumentation zuerst auffällt, ist der Verweis auf die Tatsache, dass russische Universitäten scheinbar an der Entwicklung von Kriegswaffen beteiligt sind, was jedoch kein Grund für einen Boykott zu sein scheint. Erst ein öffentliches Bekenntnis zur Unterstützung der illegalen Invasion der Ukraine macht russische Universitäten zu legitimen Zielen eines Boykotts. Es ist also nicht die materielle Komplizenschaft der Universitäten, sondern die verbale Komplizenschaft die hier als Maßstab eines legitimen Boykotts dient. Dieses Verständnis von Komplizenschaft macht argumentativ nur dann einen Sinn, wenn man eingesteht, dass israelische Universitäten den Völkermord in Gaza und die Entrechtung der Palästinenser*innen materiell unterstützen, aber eben nicht öffentlich verbal. Nur dann kann von Doppelstandards keine Rede sein, denn was zu zählen scheint, ist die verbal öffentliche Unterstützung von Kriegsverbrechen und eben nicht die materielle.

Das Problem einer solchen Argumentation ist jedoch, dass es in erster Linie die materielle Unterstützung ist, die Ukrainer*innen und Palästinenser*innen tötet und demzufolge das Hauptkriterium eines Boykotts sein sollte. Zudem hat Autorin Maya Wind in ihrem Buch Towers of Ivory and Steel: How Israeli Universities Deny Palestinian Freedom eindrucksvoll nachgewiesen, wie die israelische Akademie „das israelische Militär sowohl materiell unterstützt als auch ideologische Rückendeckung“ liefert.

Doppelstandards in westlichen Medien

Im zweiten Drittel ihres Artikels widmet sich die Autorin einmal der Medienkritik und des „implizite[n] Rassismusvorwurfs”. Im Teil der Medienkritik beschäftigt sich Sasse mit drei verschiedenen Karikaturen und Memes, die auf die unterschiedliche Berichterstattung westlicher Medien hinweisen und diese karikieren.

Die erste Karikatur, die besprochen wird, ist diese:

Sie wird wie folgt beschrieben:

Eine erste Gruppe von Memes spielt auf die Erzeugung von Hass oder Gleichgültigkeit gegenüber Kriegshandlungen an, ein Bild, datiert von 2021, vermehrt verbreitet im März 2022 auf Social Media, tut so, als würden die westlichen Medien Hass gegen die russischen Angriffe erzeugen, bei israelischen Angriffen auf Gaza aber so berichten, dass man einschlafe.

Die semiotische Beschreibung ist etwas verwunderlich, denn die Karikatur verweist nicht darauf, was westliche Medien mit ihren Zuschauenden machen, sondern, wie westliche Medien zu Israels Angriffen auf Palästina reagieren versus Russlands Angriffe auf die Ukraine. Der Mann im Sessel ist kein Zuschauer, sondern die westlichen Medien selbst, die während der Bombardierung Palästinas schlafen, aber während der Bombardierung der Ukraine hellwach und wild nach Aufmerksamkeit gestikulieren. Die Karikatur beschreibt eine Tatsache, die von Medienforschern und -kritikern seit Jahrzehnten detailliert dokumentiert wird.

Die zweite Karikatur, auf die Sasse verweist, bespricht die unterschiedliche Beschreibung von Ukraine-solidarischen Protesten und Palästina-solidarischen Protesten in westlichen Medien und Politik:

Sie wird so beschrieben:

Im zweiten Bild von 2022 wird suggeriert, dass die Kritik am russischen Krieg gegen die Ukraine von US-amerikanischer Seite aus bejubelt, im Fall von Gaza hingegen stets als Antisemitismus abgewertet werde.

Einmal kurz Googlen zeigt, dass dem genauso ist. Es bedarf einer gewissen Dreistigkeit, in einem deutschsprachigen Magazin, das sich sehr wohl kritisch mit der deutschen Erinnerungskultur und deren Folgen auseinandergesetzt hat, zu leugnen, dass Palästina-solidarische Proteste von Politiker*innen wie auch von Medienschaffenden regelmäßig als antisemitische Hass-Märsche betitelt werden.

Widerstand vs Terrorismus

Im letzten Teil der Medienkritik und im Teil des „implizite[n] Rassismusvorwurfs” geht es um diese vier Karikaturen und Memes. In allen wird auf die unterschiedliche Besprechung und mediale Vermittlung von ukrainischem versus palästinensischem Widerstand hingewiesen. Letztendlich geht es hier jedoch darum, welche Gruppe von ihrem völkerrechtlich garantierten Recht des Widerstandes Gebrauch machen darf und welche nicht. Denn ukrainischer Widerstand ist Selbstverteidigung, palästinensischer Widerstand ist Terrorismus.

Sasse beschreibt diese Memes und Karikaturen wie folgt:

Eine zweite Gruppe von Memes konzentriert sich auf den Vergleich von Selbstverteidigung und Terrorismus. Mit Verweis auf das Stichwort Doppelstandards wird auf eine gezielte Missinterpretation von Verteidigung und Widerstand verwiesen. Die starke Vereinfachung erzählt jedoch den tatsächlichen Terrorismus der Hamas weg bzw. lässt ihn als westliche Interpretation erscheinen.

Was die Autorin in ihrer Meme- und Karikatur-Auswahl nicht gemerkt zu haben scheint, ist, dass keines dieser Memes und Karikaturen Hamas-Milizen zeigt. Sie zeigen Palästinenser*innen, die mit Steinen, Schleudern und Molotowcocktails bewaffnet Widerstand leisten – nicht gerade das bevorzugte Waffenarsenal von Hamas, PIJ, und Co. Genau hier zeigt Sasse ihren eigenen Doppelstandard, und vielleicht auch ihre Bigotterie, denn sie verweigert Palästinenser*innen ihr Recht auf bewaffneten Widerstand und tut dies, indem sie mit Memes und Karikaturen von gewöhnlichen Palästinenser*innen mit rudimentären Waffen auf Hamas verweist und diese in Verbindung setzt und so das Recht auf Widerstand abspricht. Zudem mag man es im deutschen Sprachraum am wenigsten hören wollen, aber auch Hamas, PIJ und Co. haben als Palästinenser*innen unter Besatzung ein Recht auf bewaffneten Widerstand, solange sie sich auf militärische Ziele konzentrieren.

Durch den gesamten Artikel versucht Sasse vergeblich, palästinensischen Widerstand und Palästina-solidarische Bewegungen mit Russland in Verbindung zu bringen:

Dass Widerstand strategisch als Terrorismus interpretiert wird, ist indes ein wichtiges Thema, aber ist es tatsächlich vor allem die Praxis westlicher Medien? In Russland jedenfalls ist es Alltag. Dort werden z.B. sowohl Regimekritiker:innen, NGOs und seit dem 22. März 2024 auch die internationale LGBTQ-Bewegung auf die Terrorismusliste gesetzt.

Die russischen Methoden, die hier beschrieben werden, wurden jedoch von Israel schon vor drei Jahren selbst angewandt wie der Fall der sechs palästinensischen NGO’s die von Israel als Terrororganisationen reklassifiziert wurden zeigt. Nicht nur die UN protestierte diese Reklassifizierung, sondern auch Deutschland und selbst Israels engster Partner, die USA, konnten keine Beweise für derartige Anschuldigungen finden. Israel scheint hier die Inspiration für Putin zu sein.

Wie auch im Fall der russischen und israelischen Universitäten liefert Sasse selbst die überzeugendsten Beispiele, dass Israel sehr wohl mit Russland verglichen werden kann und dass die Kritik des Doppelstandards legitim ist. Zudem wirft der „Rassismusvorwurf” die berechtigte Frage auf, wieso Ukrainer*innen ihr Recht auf Selbstverteidigung und Widerstand wahrnehmen dürfen, Palästinenser*innen jedoch nicht. Ein Themenkomplex, welcher von der Autorin komplett ignoriert wird, aber den Kern dieser Kritik bildet. Der Standard, um den es hier letztendlich geht, ist nichts anderes als das Völkerrecht, welches mit zweierlei Maß angelegt wird.

„Geopolitische Allianz” zwischen BDS und Russland?

Zu guter Letzt wird BDS ins Visier genommen, denn, so Sasse, BDS richte wegen der geopolitischen Allianz, die BDS scheinbar mit Russland hat, „die Kritik nicht gegen das imperiale Russland, sondern verurteilt den westlichen Blick auf Russland”.

In einem Statement gegen Doppelstandards werden die Boykotte gegen Russland vom BDS als „hysterisch“ und „diskriminierend“ gedeutet, als „alarmierend fremdenfeindlich und identitär“ oder, um den Kalten Krieg zu readressieren, als „McCarthy’sche Boykotte“, die „gewöhnlichen Russen aufgrund ihrer Identität oder ihrer politischen Ansichten auferlegt werden“ und „daher im Widerspruch zu den ethischen Grundsätzen der BDS-Bewegung“ stünden.

Hier wird BDS unterstellt, dass sie gegen Sanktionen gegen Russland sind, wenn dem überhaupt nicht so ist. Wenn man den von Sasse in einzelnen Phrasen zitierten Abschnitt als Ganzes anschaut, wird klar, dass sich BDS gegen eine pauschale Sanktionierung der russischen Zivilbevölkerung ausspricht, denn, so BDS:

Als gewaltfreie, antirassistische Menschenrechtsbewegung hat BDS immer wieder Unternehmen und Institutionen auf der Grundlage ihrer Komplizenschaft und nicht ihrer Identität ins Visier genommen. BDS zielt nicht auf gewöhnliche Personen ab, auch wenn diese mit mitschuldigen Institutionen verbunden sind, diese aber nicht vertreten.

Die aktuellen hysterischen, diskriminierenden Boykotte des Westens gegen gewöhnliche Russen aufgrund ihrer Identität oder politischen Meinung stehen daher im Widerspruch zu den ethischen Grundsätzen der BDS-Bewegung. Die westlichen Mainstream-Medien, darunter ein überraschend fairer Artikel in der New York Times, haben begonnen, diese Tatsache zu sehen, indem sie den „viel ausgereifteren“ institutionellen und auf Komplizenschaft basierenden BDS-Boykott gegen Apartheid Israel positiv mit der besorgniserregenden fremdenfeindlichen, identitätsbasierten Boykotten gegen gewöhnliche Russen vergleichen.*

*Übersetzung D. W.

BDS geht es also nicht darum, Russland vor Boykotten oder Sanktionen zu schützen, sondern darum, dass man es in einer Weise tut, die auf Komplizenschaft ausgerichtet ist und nicht unbeteiligte russische Bürger*innen ins Visier nimmt, während Eliten und staatliche Institutionen Sanktionen umgehen. Eine Kritik, welche im Feld der International Relations und Foreign Policy Analysis schon lange unter dem Begriff Smart Sanctions diskutiert wird.

Letztendlich ist dieser Artikel schlecht argumentierend und löchrig recherchiert. Gerade deshalb bittet Sylvia Sasse ihre Leser*innen zu differenzieren, wenn sich Russland genauso verhält wie Israel und wenn Palästinenser*innen die gleichen Rechte einfordern, die der Westen Ukrainer*innen zurecht zugesteht. Wenn Palästinenser*innen diese Verweigerung ihrer Rechte jedoch als Doppelstandards bezeichnen, hat diese „Kritik mehr als nur den Beigeschmack Putinscher Rhetorik”.

Putin benutzt wie Netanyahu auch, den Vorwurf der Doppelstandards für propagandistische Zwecke, um Verbrechen zu relativieren und zu leugnen. Hier hätte Sasse mit einer informativen Analyse dazu beitragen können, wieso sich Putins und Netanyahus Propagandamethoden so sehr ähneln. Stattdessen wurde, versucht legitime Kritik an den Doppelstandards des Westens gegenüber den Rechten der Palästinenser*innen in Verruf zu bringen. Gleichzeitig bleibt der Artikel seinen Leser*innen schuldig, auch nur einen einzigen stichhaltigen Beleg dafür zu liefern, wieso Putins Verwendung von Doppelstandards als Propaganda beweist, dass a) die illegale Invasion der Ukraine und die illegale Besatzung Palästinas und der Völkermord in Gaza nicht vergleichbar sind, und b) die Kritik der Doppelstandards an westlicher Politik gegenüber den Palästinenser*innen nicht berechtigt ist. Am Ende scheint der Artikel ein Versuch zu sein, die eigene kognitive Dissonanz zu verarbeiten, da der Westen in der Ukraine die Rechte der Opfer einer illegalen Invasion und Besatzung hochhält und sich in Palästina zum Komplizen einer illegalen Besatzung und eines Völkermords macht.

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