Bild von Arek Socha auf Pixabay (edited by Jakob Reimann).

Vote? Vote! – Über Sinn und Unsinn von Bourgeoisie-Wahlen

Nach langem Auszählen steht fest: die amerikanischen Wähler haben Joe Biden zum Präsidenten gewählt. Einen Kandidaten, welcher gerade bei Linken, in Übersee genau wie hier, auf vehemente Ablehnung stößt. Aber wie umgehen mit ihm? Und wie umgehen mit Wahlen im Allgemeinen in einem System, das uns nicht repräsentiert? Über einen Umgang mit Bourgeoisie-Wahlen, Joe Biden und dem revolutionären Potential, das in einer anti-revolutionären Institution steckt.

Was waren das dieses Jahr für Vorwahlen in der Demokratischen Partei, in der ein Sozialist beinahe die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten errungen hätte. Für viele Linke, mich eingeschlossen, stellte und stellt Bernard Sanders eine Ikone der modernen Arbeiter*innenbewegung dar. Er scheint etwas geschafft zu haben, das aus europäischer Sicht quasi unmöglich schien: Die USA besitzt jetzt eine ernstzunehmende, linke und zunehmend antikapitalistische Wählerschicht. Nicht nur bei der Wahl ums Weiße Haus, auch viele lokale Wahlen werden von selbsternannten Sozialist*innen dominiert (selbst von Amazon mit aberwitzigen Summen finanzierte Personen erfahren herbe Verluste gegenüber den neuen linken Kandidat*innen). Ausnahmslos alle dieser Aktivist*innen der neuen Generation geben Sanders als Inspirationsquelle an – umso schmerzhafter war es nun, mit anzusehen, wie ihm die Nominierung zugunsten von Joe Biden verweigert wurde. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dahinter keine wahltaktische Entscheidung stand (zur Zeit der Vorwahlen, vor der Corona-Krise, zeigten beinahe alle Umfragen, das Sanders bessere Chancen hatte Trump zu schlagen als der ehemalige Vice President Biden).

Nein, vielmehr scheint es so, dass die demokratische Führungsriege selbst Angst vor dem Potential einer links-populären Führungsfigur als Präsidenten hat (oder zumindest vor ihren Geldgebern). Und es kann ebenfalls kein Zweifel darüber bestehen, was für eine Art Politiker Joe Biden ist: Er war einer der letzten aktiven Parlamentsmitglieder, die sich in den 1950ern gegen (!) die Aufhebung der Rassentrennung im amerikanischen Süden eingesetzt hat. Seine Gesetzesinitiativen in den 90ern bedingten neue Wellen von struktureller rassistischer Gewalt. Mitten in einer Pandemie stritt er den Bürgern der Vereinigten Staaten das Menschenrecht auf Gesundheits- und Fürsorge ab – so sehr hängt er ideologisch von der Wall Street ab.

Es scheint beinahe schon so, als wäre Bidens Nominierung nicht nur eine Anti-Trump-, sondern eine Anti-linke-Kandidatur. Deshalb haben sich in den Folgemonaten zwei Positionen herausgearbeitet, zum einen die „Bernie or bust“-er, welche durch ihre Verweigerung in der Teilnahme am Wahlprozess und damit auch ganz gezielt der erneuten Präsidentschaft von Donald Trump die Demokratische Partei dazu zwingen wollten, sich den Forderungen jener neuen Aktivist*innen-Generation zu beugen und ihren beinahe schon McCarthy-haften Antisozialismus aufzugeben. Auf der anderen Seite haben wir sozialistische, anarchistische und kommunistische Kräfte, die die Situation nicht leugnen, Biden als den ungeeigneten Präsidenten zeichnen, der er für die aktuellen Problemlagen nun einmal ist  – und dennoch dafür plädierten, ihn nicht nur zu wählen, sondern auch aktiv dabei zu unterstützen, das Amt zu erringen.

Die Fragen, die sich dieser Text nun stellt, sind folgende: Was für ein Handeln empfehlen uns die Denker, Akteure, Revolutionäre, welche die Grundlage des Links-Seins definieren? Welche Empfehlungen geben uns Engels, Lenin, Gramsci und viele weitere Denker? Wie umgehen mit einem Wahlsystem, das auch hierzulande mehr im Sinne des Kapitalismus als im Sinne der Menschen designt ist, die in diesem System leben müssen? Die Antworten sind zumeist eindeutiger, als man es erwarten würde, und diese Fragestellungen aus den USA müssen in sehr kurzer Zeit auch hier beantwortet werden.

Die Wahl und die Bewegung

Ich möchte auch anmerken, dass es sich bei der folgenden Analyse nicht um ein Argument durch Autorität handelt. Engels, Lenin und Gramsci sollten nicht deswegen zitiert werden, weil sie bemerkenswerte Denker der sozialistischen Theorie sind, sondern weil sie zu ihrer Zeit denselben Problemen begegnet sind wie wir heut. Und deswegen lohnt es, sich anzusehen, mit welchen Lösungsvorschlägen sie Erfolg hatten.

In einer faszinierend ähnlichen Situation wie der unseren heute standen auch die britischen und internationalen Sozialisten in den 1920er Jahren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde eine Regelung zur Parteienfinanzierung gekippt, die es der neu formierten Labour Party erlaubte, selbstständig Wahlkämpfe zu führen. Die ersten richtigen Parlamentswahlen begannen 1922 und als populärste Kraft der britischen Linken stellte sie eine Sammelbewegung dar, welche sich ebenfalls von den kommunistischen und anarchistischen Gruppen abgegrenzte. Wie die SPD in Deutschland zu dieser Zeit hatten sich die Kräfte, die sich hier in einer Partei vereinigt hatten, bereits einen Weg eingeschlagen, der drastisch von einem revolutionären hin zu einem reformistischen Kurs führen sollte. Viele Labour-Parlamentarier hatten keine Opposition zum Ersten Weltkrieg geleistet; sie waren sehr viel koalitionsbereiter als beispielsweise die sozialistischen Gewerkschaften, von denen sie finanziell abhängig waren (was sich auch darin zeigt, dass die erste Labour-Regierung in einer Koalition mit den Liberal-Demokraten wichtige Wahlversprechen wie die Nationalisierung der Kohleindustrie oder eine erleichterte Übernahme von Betrieben durch die Arbeiter*innenschaft zugunsten von Regierungsposten aufgab). Noch dazu befanden sich weite Teile von Labour in Opposition zum Sowjet-Bolschewismus (sowohl Parteigrößen wie Snowden und der spätere Premierminister Henderson als auch literarische Berühmtheiten der Linken wie George Orwell). Umso faszinierender und kontraintuitiv erscheint dann die Empfehlung, die Vladimir Lenin den kommunistischen Organisationen und Parteien in Britannien aussprach:

„Die Irrtümer der Linkskommunisten sind gegenwärtig besonders gefährlich, weil bestimmte Revolutionäre keine ausreichend durchdachte, ausreichend aufmerksame, ausreichend intelligente und ausreichend kluge Haltung gegenüber jeder dieser Bedingungen an den Tag legen. Wenn wir die Partei der revolutionären Klasse sind und nicht nur eine revolutionäre Gruppe, und wenn wir wollen, dass die Massen uns folgen (und wenn wir das nicht erreichen, laufen wir Gefahr, bloße Schwätzer zu bleiben), müssen wir erstens Henderson oder Snowden helfen, Lloyd George und Churchill zu schlagen (oder besser gesagt, die ersteren zwingen, die letzteren zu schlagen, weil die ersteren Angst vor ihrem Sieg haben!) Dass die Hendersons und Snowdens absolut zu nichts gut sind, dass sie von Natur aus kleinbürgerlich und verräterisch sind und dass ihr Bankrott unvermeidlich ist. Es stimmt, dass die Hendersons, die Clyneses, die MacDonalds und die Snowdens hoffnungslos reaktionär sind. Es ist ebenso wahr, dass sie die Macht übernehmen wollen (obwohl sie eine Koalition mit der Bourgeoisie vorziehen würden), dass sie nach den alten bürgerlichen Linien „regieren“ wollen, und dass sie sich, wenn sie an der Macht sind, mit Sicherheit wie die Scheidemanns und Noskes verhalten werden. All das ist wahr. Aber daraus folgt keineswegs, dass ihre Unterstützung Verrat an der Revolution bedeutet; was folgt, ist, dass die Revolutionäre der Arbeiterklasse diesen Herren im Interesse der Revolution eine gewisse parlamentarische Unterstützung geben sollten.“[1]

Aber wie kommt der Generalsekretär der UdSSR zu der Einschätzung, dass die radikalen kommunistischen Kräfte in Großbritannien eine, beinahe, Kompromisslösung in einer Wahl für Labour zu tätigen hätten? eine Antwort darauf liefert uns Sylvia Pankhurst, eine bedeutende Verlegerin von Zeitschriften und Literatur der Arbeiter*innenbewegung, die selbst persönlich mit Lenin im Kreml über dieses Thema gesprochen hat. Nach ihrer Einschätzung ist für Lenin die Frage einer Wahl eine nebensächliche. Ganz im Gegenteil, sie zitiert ihn: „eine Fehleinschätzung in einer Wahl kann schlicht das nächste Mal korrigiert werden“. Er ist nicht der Meinung, dass sich wirklich substantielle Änderungen durch irgendein Instrument des Elektoralismus erzielen lassen. Für ihn ist die Frage nach einer Wahl in einem kapitalistischen System die, mit welchem Ergebnis sich der maximale Nutzen eins Wahlergebnisses erzielen lassen kann; nämlich, wie sich die Repressionsmacht der Regierungen am stärksten aufheben lässt, mit welchem Ergebnis die Bedingungen für einen Erfolg direkte Aktionen in den Betrieben am besten vorbereiten und im allerbesten Fall sogar direkte Verbesserungen der materiellen Lebensverhältnisse der Arbeiter*innenschicht erreichen lassen.[2]

Finden wir nicht exakt dieselbe Situation jetzt in den USA? Man kann zwar nicht direkt von einer sozialistischen, aber doch von einer Arbeiter*innenbewegung sprechen, welche in den Vereinigten Staaten einer der am längsten anhaltenden Proteste ihrer Geschichte vollziehen; es sind die Menschen auf der Straße, die trotz widrigster Bedingungen die lokalen Institutionen dazu bringen, Alternativen zum rassistischen Repressionssystem zu suchen. Per Streik werden regelmäßig große Betriebe in die Knie gezwungen; ganz zu schweigen von den großen Protesten rund um das Thema Klima, die der Jugend eine Alternative zum Kapitalismus beibringen. Für Lenin und für uns stellt sich nicht die Frage, ob diese Bewegungen es nötig haben, im Parlament vertreten zu werden (ohne Zweifel wäre dies aber nützlich). Unsere Frage muss sein, worin wir im Moment die effektivste Möglichkeit sehen, ihnen Raum zum Atmen und für Aktionen zu geben.

Tatsächlich scheinen die „Bernie or bust“-er, genau den umgekehrten Schluss zu ziehen und sich von der ursprünglichen revolutionären Position wegzubewegen. Anstatt auf die Bedürfnisse der Bewegung, speziell der außerparlamentarischen, zu achten, nehmen Sie so viel Anteil an den parlamentarischen Vorgängen, dass sie entgegen den Interessen der Arbeiter*innenschaft und dem direkten Aktivismus, welcher vor Ort und im Betrieb stattfindet, zu handeln. Das ist nicht zu sagen, dass parlamentarische linke Arbeit reaktionäre Ideologien in irgendeiner Form tolerieren soll. In aller Möglichkeit muss die Arbeiter*innenbewegung im Parlament implementiert werden, denn schließlich ist ihre Aufgabe die Legitimation und Popularisierung eben dieser Forderungen. Nun sollten wir aber parlamentarische Parteien, selbst in funktionierenden Demokratien, nur als Erweiterung des eigentlichen Aufgabenbereiches des sozialistischen und anarchistischen Aktivismus betrachten.

Third-Party-Vote oder alle an einem Strang?

Eine richtige Analyse zu dieser Wahl ist es, dass es in den USA ebenfalls Parteien gibt, welche tatsächlich Politik außerhalb des kapitalistischen Politikspektrums anbieten (DSA, Socialist Party of America, Green Party etc.). Und es ist auch richtig, dass in einem Szenario, in der einer dieser Kräfte die Regierung stellen würden, die Bewegungen wahrscheinlich um ein Vielfaches erfolgreicher wären. Außerdem könnte, so das Argument, eine Wahlniederlage durch fehlende Unterstützung der organisierten Progressiven in Zukunft erreicht werden, so dass die Demokratische Partei sich in ihren Politikansprüchen mehr bis deutlich nach links bewegen könnte oder gar müsste.

Nun müssen aber in der Basis einer linken Analyse immer die materiellen Verhältnisse die wichtigste Rolle spielen, da der Fokus auf effektivem Aktivismus liegt. Hier muss man bemerken, dass wir es in den Staaten mit einem der diskriminierendsten und undemokratischsten Wahlsysteme der industrialisierten Welt zu tun haben, welches per Design verhindert, dass das Parlament den Pluralismus seiner Gesellschaft abbildet. Die anderen beiden Argumente zeigen sich dabei auch mit Hinsicht gerade auf die letzte Wahl als entkräftet.

Der Sieg von Trump in der vorherigen Wahl 2016 gegen Hillary Clinton war, wahrscheinlich sogar essenziell, davon abhängig gewesen, dass viele junge Wähler aus ihrer Frustration über die (zugegeben extrem unfaire) Ausbootung von Sanders zur Green Party gewechselt sind, was Clinton die entscheidenden Stimmen des Electoral College gekostet hat (sie hatte dennoch mehr Stimmen als ihr Gegner, aber, wie bereits erwähnt, sucht die Defektheit des US-Systems ihresgleichen in der Welt).

Und nachdem die Reaktion der Partei auf diese historische Niederlage die Nominierung des reaktionärsten Präsidentschaftskandidaten seit Lyndon B. Johnson war, erschien es schlicht tagträumerisch, dasselbe noch einmal zu versuchen. Aber dann müssen sich diejenigen, die dafür plädierten, für einen nicht-progressiven Kandidaten zu stimmen, die Frage gefallen lassen: Warum überhaupt eine Partizipation? Die Parteien, die hier zur Verfügung stehen, sind alle zum negativen der Überzeugungen, für die ich einstehe, warum also nicht einfach die Wahl aussitzen und sich auf die eigene Arbeit konzentrieren? Die Antwort darauf ist sehr vielfältig und sie beginnt bei den Ursprüngen der organisierten Linken.

Gehen wir mit unseren Beispielen noch etwas in der Zeit zurück, etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Arbeiter*innenbewegung hatte gerade begonnen, sich selbst zu formulieren, die ersten Streiks und gewerkschaftliche Aktionen waren gerade durchgeführt worden und nirgendwo auf der Erde gab es effektive (geschweige denn legale) sozialistische oder gar kommunistische Parteien. Wie wir heute standen die Aktivisten erst am Anfang großer Veränderungen, sie mussten sich ihren Kompass durch die politische Landschaft selbst schreiben. Linke Strukturen, die sich ernsthaft so bezeichnen könnten, waren nicht zu finden; einer der wichtigsten Autoren für dieses Thema war Friedrich Engels. Besonders seine Studien zur Situation der Arbeiter*innenschicht in England und Frankreich waren und sind noch immer wegweisend. Doch in unserem Kontext sollten wir uns seine Empfehlungen zur Koalition der Kommunisten und Radikalen in den jeweiligen Ländern, in der sie seinerzeit auftraten, ansehen:

„In England, Frankreich und Belgien, wo die Bourgeoisie herrscht, haben die Kommunisten immer noch ein gemeinsames Interesse mit den verschiedenen demokratischen [heißt hier: liberal-republikanischen/legalistischen, Anm. d. Autors] Parteien, ein Interesse, das umso größer ist, je mehr die von ihnen verfochtenen (…) Maßnahmen den Zielen der Kommunisten nahe kommen – das heißt, je klarer und eindeutiger sie die Interessen des Proletariats vertreten und je mehr sie auf die Unterstützung des Proletariats angewiesen sind. In England zum Beispiel stehen die Chartisten [bürgerliche Partei mit Ziel zur demokratischen Ermächtigung, Anm. d. Autors] der Arbeiterklasse den Kommunisten unendlich viel näher als die demokratische Kleinbourgeoisie oder die sogenannten [sozialistischen, Anm. d. Autors] Radikalen. In Amerika, wo es bereits eine demokratische Verfassung gibt, müssen die Kommunisten die gemeinsame Sache mit der Partei machen, die diese Verfassung am ehesten gegen die Bourgeoisie wendet […] – das heißt mit den agrarischen Nationalen Reformern (nicht mit den radikalen). In der Schweiz sind die liberalen Radikalen, obwohl eine sehr gemischte Partei, die einzige Gruppe, mit der die Kommunisten zusammenarbeiten können, und unter diesen Radikalen sind die Waadtländer und Genfer am weitesten fortgeschritten“.[3]

Was uns Engels hier aufzeigen möchte, ist, dass eine Koalition unbedingt notwendig ist; beispielsweise waren die britischen Chartisten ganz explizit gegen eine Ermächtigung der Arbeiter*innenklasse und unterstützten die gewaltsame und blutige Niederschlagung eines proletarischen Aufstandes 1848; die Agrarreformer waren wie die französischen Republikaner eine rein bürgerliche Partei, welche sich sehr gut mit der Zielsetzung der heutigen demokratischen Partei in Amerika vergleichen lässt. Und dennoch schreibt Lenin nicht nur von einer Tolerierung, sondern von einer Koalition mit solchen Kräften. Nicht, weil hier große Überzeugungen geteilt werden; nicht, weil ein besonders großer Kampf für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu erwarten ist. Die Tatsache, dass es auch nur geringe Überschneidungen zwischen einer der Wahlmöglichkeiten und der eigenen Zielsetzung gibt, rechtfertigt für ihn bereits eine tiefgreifende Zusammenarbeit. Warum der Theoretiker so etwas argumentiert, erläutert er einige Jahre später in einer der vorher erwähnten Studien:

„Und wenn das allgemeine Wahlrecht keinen anderen Vorteil [bieten würde], als dass es uns erlaubte, alle drei Jahre unsere Stimmen zu zählen; dass es durch den regelmäßig festgestellten, unerwartet schnellen Anstieg unserer Stimmen die Siegessicherheit der Arbeiter und die Bestürzung ihrer Gegner gleichermaßen erhöhte und so zu unserem besten Propagandamittel wurde; daß sie uns über unsere eigene Stärke und die aller gegnerischen Parteien genauestens informiert und uns damit für unser Handeln ein unübertroffenes Maß an Verhältnismäßigkeit verschafft hat, das uns vor vorzeitiger Zaghaftigkeit ebenso bewahrt hat wie vor vorzeitiger Tollkühnheit – wenn dies der einzige Vorteil gewesen wäre, den wir aus dem Wahlrecht gezogen haben, wäre es immer noch mehr als genug gewesen. Aber es hat bei weitem mehr als das getan. In der Wahlpropaganda bot es uns ein Mittel, das seinesgleichen sucht, um mit der Masse des Volkes dort in Kontakt zu treten, wo sie uns noch immer fern steht, um alle Parteien zu zwingen, ihre Ansichten und Aktionen gegen unsere Angriffe vor dem ganzen Volk zu verteidigen, und ferner bot es unseren Vertretern im Reichstag eine Plattform, von der aus sie zu ihren Gegnern im Parlament und zu den Massen draußen sprechen konnten, mit einer ganz anderen Autorität und Freiheit als in der Presse oder bei Versammlungen.”[4]

Engels stellt hier etwas fest, was die Idee von Lenin bedingt: Eine Teilnahme an Wahlen ist, wie es sich in einem Parlament einer kapitalistischen Gesellschaft darstellt, immer zum materiellen Vorteil der teilnehmenden Bewegungen. Ganz deutlich ist sein Ansatz zu lesen, dass Wahlen einen eindeutigen Indikator der eigenen Stärke darstellen. Im Subtext stellt jede Wahl unsere Fähigkeit des Mobilisierens auf die Probe und erlaubt uns, effektivere Strategien für die elementareren Bereiche unserer Arbeit zu entwickeln. Die Erkenntnis ist folgende: Siege im Parlament und vor allem Niederlagen unserer gesellschaftlichen Gegner wirken in jedem Bereich ähnlich stark; eine Niederlage der reaktionäreren Kandidat*innen schwächt die soziale Position der Rechten an sich. Unserer Siege wirken sich auf unsere Arbeit in Betrieben aus, stärken damit die Bewegung und unser öffentliches Bild und damit wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass sich mehr Menschen an dieser Arbeit beteiligen wollen. In jedem Szenario wird der Bewegung im Ganzen geholfen. Das Konzept, welches der Anthropologe hier vorwegnimmt, wird erst zum Vorabend des zweiten Weltkriegs vom Vater des Neo-Marxismus, Antonio Gramsci, herausgearbeitet: die Idee der kulturellen Hegemonie.

There is no fighting in the war-room (but it is our most effective tool)

Gramsci fertigte den größten Teil seiner Schriften in der durch die Italienischen Faschisten verordneten Festungshaft an. Den Aufstieg und seine Eindrücke aus den Arbeiter*innenaufständen in Turin, Florenz und Genua nach dem Ende des ersten Weltkrieges; seine Idee der kulturellen Hegemonie beschreibt er wie folgt:

„Die Vorherrschaft einer sozialen Gruppe zeigt sich auf zwei Arten, als Beherrschung und als intellektuelle sowie moralische Führung. Eine soziale Gruppe ist dominant, wenn sie die gegnerischen Gruppen unterwirft und die verbündeten Gruppen anführt. Eine soziale Gruppe kann, ja muss sogar vor der Machtübernahme die Führung übernommen haben; wenn sie dann an der Macht ist […] wird sie dominant, aber sie muss weiterhin führend bleiben.“[5]

Das zeigt sich am oben erwähnten Beispiel: Die Turiner Arbeiter*innen konnten deswegen für mehrere Monate die Stadt besetzen; jedoch waren nicht nur die Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschafter daran beteiligt, eher war es eine breite Koalition aus der eher passiven, liberalen Bürgerschaft und der Arbeiter*innenbewegung. Vorrausgegangen waren Jahre der strukturellen Schwäche des italienischen Königreiches in sozialen, politischen und kulturellen Angelegenheiten bei gleichzeitiger Stärke der Kommunisten und Anarchisten in den Betrieben und bei lokalen Wahlen. Letztendlich übernahmen sie sogar die Grundversorgung der Stadt.[6] Es ist wichtig festzustellen, dass die Arbeit auf der Straße und an der Machtquelle des Kapitals, der Arbeitsstelle, die entscheidendste Instanz war, damit es soweit kommen konnte. Allerdings spielte die Arbeit im Parlament eine entscheidende Rolle, da diese in den 20 vorhergegangenen Jahren liberaler und passiver auf die Mobilisierung der Arbeiter*innenschaft reagierte. Je mehr die Erfolge und die Deutungsmacht unserer Vorgänger zunahm, desto mehr passten sich die weniger dynamischen gesellschaftlichen Gruppen dem Druck von links an.

Daraus folgt, dass wir jede Möglichkeit, unsere Gegner zu schwächen, annehmen müssen. Eine Passivität, gerade wenn die rechten, faschistischen und nazistischen Kräfte gegen unsere Lebenswelten bedeutende Erfolge einfahren können, ist unter diesen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. Salopp gesagt: Als Werkzeug gegen unsere Gegner muss uns sogar Joe Biden recht sein.

Die andere Seite

Noch dazu ist wichtig, dass es keine Chance gibt, dass es einen bürgerlichen, kapitalistischen Staat braucht, damit sich eine sozialistische Bewegung dialektisch herausbilden kann.
In seinem Kommentar zu diesem Thema schrieb Engels:

„In Deutschland schließlich ist der entscheidende Kampf, der jetzt auf der Tagesordnung steht, der zwischen der Bourgeoisie und der absoluten Monarchie (den Reaktionären). Da die Kommunisten erst dann in den Entscheidungskampf zwischen sich und der Bourgeoisie eintreten können, wenn die Bourgeoisie an der Macht ist, liegt es folglich im Interesse der Kommunisten, der Bourgeoisie so bald wie möglich zur Macht zu verhelfen, um sie umso eher stürzen zu können. Gegen die Regierungen müssen die Kommunisten daher ständig die radikal-liberale Partei unterstützen, wobei sie darauf achten müssen, die Selbsttäuschungen der Bourgeoisie zu vermeiden und nicht auf die verlockenden Versprechungen von Vorteilen hereinzufallen, die ein Sieg der Bourgeoisie dem Proletariat angeblich bringen würde. Die einzigen Vorteile, die das Proletariat aus einem Sieg der Bourgeoisie ziehen würde, bestünden (i) in verschiedenen Zugeständnissen, die die Vereinigung des Proletariats zu einer eng verflochtenen, kampfbereiten und organisierten Klasse erleichtern würden; und (ii) in der Gewissheit, dass am selben Tag, an dem die [Reaktionären] fallen, der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat beginnen wird. Von diesem Tag an wird die Politik der Kommunisten die gleiche sein wie heute in den Ländern, in denen die Bourgeoisie bereits an der Macht ist.“[7]

In einem reaktionären Staat formen sich keine Arbeiter*innenbewegungen – die Unterdrückung in solchen Systemen ist in praktisch allen historischen Beispielen schlicht zu groß. Ein Zusammenrücken der Arbeiterklasse kann es nur in einem System geben, welches diese Klasse als solche systematisch bedingt. Aber etwas anderes muss ebenfalls erwähnt werden: So fehlerhaft die liberale Demokratie ist, so schädlich sich liberale Verfassungen für den Arbeiter*innen auch auswirken: Sie ist in jedem Fall zu bevorzugen gegenüber dem Faschismus, der immer unter seiner Oberfläche lauert. In den USA ist die Gefahr immanent: Trump, der mit Fremdenfeindlichkeit als Regierungsmaxime operiert; Trump, der Soldaten auf Proteste feuern lässt; der Aktivist*innen entführen lässt; der nach keiner Art demokratischer oder legaler Grundsätze regiert; dessen Anhänger sich aus antisemitischen Ideologien heraus rekrutieren – dieser Trump ist eine Gefahr für uns alle, Liberale, Sozialisten, Radikale, Passive, Aktive, Minderheiten aller Art, ökonomisch und sozial. Weitere vier Jahre Trump wären eine Gefahr für die Welt, in Bezug auf seine Klimapolitik sogar buchstäblich zu verstehen.

In den USA ist die Lage akut; bei uns ist es ein historischer Auftrag, den Faschismus Nie Wieder! auch nur in die Nähe einer politischen Entscheidungsposition kommen zu lassen. Und hier ist der Grund, warum diese Argumentation für uns bald brennend aktuell wird: In nicht einmal elf Monaten müssen wir uns alle nämlich dieselbe Frage stellen: Was hilft uns, als Linke, in der vor uns liegenden Wahl am meisten? Eine Wahl, die, wie es jetzt gerade aussieht, zwischen Habeck/Scholz oder Friedrich Merz getroffen werden muss. Unser Aktivismus wird möglicherweise die dünne Grenze zwischen Rot-Rot-Grün und Schwarz-Braun sein.

Ja, wir sind in einer besseren Position als unsere Genoss*innen auf der anderen Seite des Atlantiks: Wir haben eine in weiten Teilen als sozialistisch zu beschreibende Partei mit einer möglichen Beteiligung an der Regierung zur Auswahl, sowie mit mindestens progressiven Politiker*innen bei den jeweiligen Koalitionspartnern. Zum anderen haben wir noch die Grundgerüste der Errungenschaften vergangenen Arbeitskämpfe zur Verfügung. Doch mit unseren Vorteilen stehen auch mindestens ebenso große Gefahren hinter den nächsten Bundestagswahlen. Es ist möglich, dass mit Friedrich Merz ein Kandidat antritt, der Homosexualität mit Pädophilie gleichsetzt; der das Rentensystem an die Privatwirtschaft verschachern will; der als Chef von Black Rock ganze Staaten ins Chaos stürzte, nur um die finanziellen Interessen seiner Firma zu befriedigen.

Eine persönliche Note: Rot-Rot-Grün ist natürlich nicht fehlerfrei, nein, weit entfernt davon. Überall, wo diese Koalition die Regierung stellt, war sie mindestens an Operationen beteiligt, die der deutschen Linken aktiv geschadet hat, keine Frage. Und dennoch muss gesagt werden, dass dieses Bündnis unsere beste Chance darstellt, eine Zukunft im krisengeschüttelten Deutschland gestalten zu können. Wir sollten uns deshalb auch bei aller berechtigten Kritik nicht verschließen, für die Koalition politischen Aktivismus zu betreiben.

Zumindest sagt das die Theorie.

Don‘t despair, organise!


[1] Lenin, „’Left-Wing’ Communism in Great Britain“, 1923.

[2] Vgl. Sylvia Punkhurst, „on her attendance of the second international“, 1920.

[3] Engels, „Die Prizipien des Kommunismus“, 1847, S. 91, ebd. Vgl. S. 87-95.

[4] Engels, „The Class Struggle in France“, 1850.

[5] Scusi. Marchart, Cultural Studies, S. 77, 2020.

[6] Vgl. Laclau, Mouffe: „Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics.“, Verso, London, 1985.

[7]Engels, „Die Prinzipien des Kommunismus“, 1847, S. 93.

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