Vertrauen ist gut, rote Haltelinien sind besser

Der Parteivorstand der Linken lädt ein zur großen Strategiedebatte. Ein Plädoyer für Pluralismus, (neue) rote Haltelinien und Lernen aus Fehlern.

Die Gründung der Linken ist historisch eng mit der Agenda 2010 und dem Kriegskurs der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder verbunden. Daraus ergab sich die Notwendigkeit einer neuen gesamtdeutschen Sammlungspartei, die allen eine politische Heimat bieten soll, die sich links von SPD und Grünen verorten. Die politische Vielfalt, die sich unter dem gemeinsamen Dach der Linken vereinigt, gehört somit zu ihrer Identität. In der Praxis zeigt sich, dass im Pluralismus Stärken genauso wie Schwächen liegen. Zwar ist eine Bündelung aller linken Kräfte, die gegen Neoliberalismus und Rechtsruck kämpfen, heute angesichts der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse mindestens so dringlich wie im Gründungsjahr 2007. Gleichzeitig zeigen aber vor allem die letzten Jahre, dass das Potential der Partei aufgrund von Innenwendung und parteiinternen Reibereien, die sich auch aus ebendiesem Pluralismus ergeben, nicht ausgeschöpft wird. Politische Energie wird nach innen verschwendet, während nach außen das Bild einer zerstrittenen und politisch inkonsistenten Partei vermittelt wird. So hat denn auch der Niedergang der Sozialdemokratie der Linken kaum Gewinne eingebracht.

Der Grundkompromiss der pluralistischen Linken

Seit es die Linke gibt, schlagen (mindestens) zwei Herzen in ihrer Brust. Antikapitalistinnen und Antikapitalisten, die auf außerparlamentarische Bewegung als Grundlage für gesellschaftliche Veränderung setzen, gehören ebenso dazu wie Reformerinnen und Reformer, die eine schrittweise Annäherung an eine sozialistische Gesellschaft im Rahmen einer Regierungsbeteiligung anstreben. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit dieser beiden Pole (und allerlei dazwischen) ist kein leichtes Unterfangen, sondern bedarf Anstrengungen. Der Errungenschaft, die eine gesamtdeutsche plurale Linkspartei bedeutet, sollte man sich dabei bewusst sein.

Die Linke hat zur Frage der Regierungsbeteiligung – also dort, wo sich Positionen innerhalb der Partei mitunter am meisten unterscheiden – im Erfurter Programm einen Kompromiss festgeschrieben, der Regierungsbeteiligung nicht ausschließt, jedoch deutlich formuliert, was mit ihr auf keinen Fall zu machen ist: „An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Dienstes verschlechtert, werden wir uns nicht beteiligen.“ Dieser Formulierung von roten Haltelinien ging eine intensive Programmdebatte voraus, die auch unter dem Eindruck der Politik in Berlin stand. Die PDS koalierte dort seinerzeit mit der SPD und verkaufte über 100.000 öffentliche Wohnungen an private Immobilienkapitalisten. Sie verlor innerhalb von zehn Jahren fast die Hälfte ihrer Wählerinnen und Wähler. Das Meinungsspektrum in der Programmdebatte reichte dabei von Positionen grundsätzlicher Ablehnung von Regierungsbeteiligungen bis hin zur Befürwortung ohne nennenswerte Vorbedingungen. Einem Lager waren die formulierten Haltelinien nicht weitgehend genug, dem anderen zu streng, doch letztlich stimmten 95 Prozent aller Mitglieder in einer Urabstimmung für das Erfurter Programm und den darin enthaltenen Kompromiss.

Rote Haltelinien müssen zur verbindlichen Grundlage werden

Gregor Gysi sagte 2017 in seiner Rede auf dem Hannoverschen Parteitag: „Ich weiß, dass wir dazu tendieren, 50 rote Haltelinien zu verabschieden, aber ich habe Vertrauen zu unserer Parteiführung und weiß, dass sie diese nicht benötigt.“ Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Jede einzelne Landesregierung, an der die Linke bisher beteiligt war, hat auf die ein oder andere Weise die roten Haltelinien des Erfurter Programms verletzt: 2017 stimmten die links mitregierten Bundesländer Berlin, Thüringen und Brandenburg im Bundesrat einer Grundgesetzänderung zu, die Privatisierung der Autobahnen ermöglichte. Der Berliner Senat verabschiedete 2018 eine „Schulbauoffensive“, die neben richtigen Investitionen gleichzeitig auch Privatisierungen von Schulgebäuden ermöglichte. 2019 schrieb schließlich die Brandenburger Linke gemeinsam mit der SPD die Schuldenbremse in die Landesverfassung. All diese Regierungsbeteiligungen haben die roten Haltelinien des Erfurter Programms untergraben und somit der Glaubwürdigkeit der Linken als anti-neoliberale Kraft Schaden zugefügt. Auch 2020 drohen sich ähnliche Fehler zu wiederholen: Im Rahmen der ersten westdeutschen Regierungsbeteiligung der Linken in Bremen stehen derzeit Kürzungen im Krankenhausbereich an, während der Berliner Senat kürzlich zwei Drittel der Berliner S-Bahn ausgeschrieben hat, was aufgrund der wahrscheinlichen Zerschlagung bereits Proteste von Gewerkschafterinnen, Gewerkschafter, Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen auf den Plan gerufen hat. Diese Erfahrungen zeigen, dass die Linke dort, wo sie regiert, vonseiten SPD und Grünen (im Verbund mit Kapitalfraktionen und ihren Medien) unter großem Druck steht, neoliberale Politik mitzutragen. Dies hat wenig mit persönlichem Versagen, jedoch viel mit der systemischen Sogwirkung zu tun, der linke Regierungen im Kapitalismus grundsätzlich ausgesetzt sind. Die Notwendigkeit roter Haltelinien begründet sich daher nicht in einem „Misstrauen“ gegenüber der Parteiführung, sondern in einer realistischen Einschätzung der kapitalistischen Rahmenbedingungen.

Die Linke als antikapitalistische Klimapartei

In den bestehenden roten Haltelinien spiegeln sich gesellschaftliche Auseinandersetzungen wieder, die die Gründungszeit der Linken prägten: Der Widerstand gegen die Angriffe auf den Sozialstaat und gegen die Interventionskriege unter rot-grün waren für die Linke identitätsstiftend. Mit der Rückkehr der kapitalistischen Krise und den jüngsten Vorstößen von AKK sind auf diesen Feldern dramatische Entwicklungen zu erwarten. Die Linke als Bollwerk gegen Neoliberalismus und imperialistische Kriegseinsätze ist und bleibt somit notwendig. Doch sind die bestehenden Haltelinien im Jahr 2020 immer noch ausreichend, um die Linke auch im Fall des Eintritts in eine Bundesregierung als glaubwürdige Kraft des gesellschaftlichen Fortschritts zu erhalten? Oder bedürfen sie einer Erweiterung?

Seit 2007 ist viel in Bewegung geraten. Massenbewegungen haben in den letzten Jahren in Deutschland sowie weltweit zugenommen. Sichtbarster Ausdruck dieses globalen Bewegungsaufschwungs ist die Klimabewegung, die in Deutschland stark dazu beigetragen hat, eine junge Generation neu zu politisieren. Eine zeitgemäße Linke könnte das Potenzial dieser Generation ausschöpfen, indem sie die antikapitalistischen und klassenpolitischen Anknüpfungspunkte dieser zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzung erkennt und forciert. Es wäre ein großer strategischer Fehler, die Rolle der Klimapartei den Grünen zu überlassen. Das heißt natürlich nicht, aus der Linken die Grünen 2.0 zu machen – im Gegenteil: Es gilt, die Klimafrage in offensiver Abgrenzung zu den prokapitalistischen Grünen in den Vordergrund zu stellen. Hierbei muss die Linke auch klarmachen, dass sie – anders als die Grünen – unter keinen Umständen bereit ist, in einer möglichen Regierung Gesetze mitzutragen, welche die Umwelt weiter zerstört und die Klimakrise beschleunigt. Darüber hinaus sollte die Frage beantwortet werden, welche sozial-ökologischen Reformen, die den Weg zu einer wirklichen Bekämpfung der Klimakrise weisen würden, zu den Mindestbedingungen für den Eintritt in eine Bundesregierung zählen sollten.

Aus Brandenburger Fehlern lernen

Das politische Establishment hat auf den globalen Bewegungsaufschwung (der weit mehr als die Klimabewegung umfasst) keine Antwort und reagiert fast überall mit autoritärem Gehabe und Repression. In Deutschland findet dies durch eine neue Law-and-Order-Politik Ausdruck. Vor allem die Verschärfungen der Polizeigesetze in fast allen Bundesländern haben breite Proteste hervor-gerufen. Dass die Brandenburger Linke im letzten Jahr aus einer Logik des „kleineren Übels“ heraus ebenfalls einer entsprechenden Gesetzesverschärfung zugestimmt hat, stellt ein Novum in der Geschichte der Linken dar, die vorher von sich behaupten konnte, als einzige Partei noch nie einer Einschränkung von Freiheitsrechten zugestimmt zu haben. netzpolitik.org kommentierte damals die bevorstehende Gesetzesverschärfung in Brandenburg: „Es ist vielleicht eine der schönsten Kehrtwenden der jüngeren deutschen Geschichte, dass sich ausgerechnet die Nachfolgepartei der autoritären SED in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einer politischen Kraft für Grund- und Freiheitsrechte entwickelt hat. […] Sie ist mit dieser Politik und spätestens seit dem Ende der Piraten für manche Wählerinnen und Wähler zur letzten Bastion der Bürgerrechte geworden. Das könnte sich jetzt ändern.“ Das Einknicken der mittlerweile abgewählten Brandenburger Linken vor dem Koalitionspartner hat nicht nur bei den vielen Aktiven der bundesweiten Proteste gegen Polizeigesetzverschärfungen scharfe Kritik hervorgerufen. Ein kategorischer Ausschluss der Beteiligung an einer Regierung, die demokratische Freiheitsrechte einschränkt oder verschärfte Repression ermöglicht, wäre die angemessene Konsequenz sowohl aus dieser Erfahrung auf Landesebene als auch auf eine allgemein zunehmende autoritäre Formierung.

Die Linke muss anders sein als alle anderen Parteien

Natürlich reicht es nicht aus, nur zu sagen, was man nicht will. Genauso reicht die Perspektive einer Mitte-Links-Bundesregierung nicht aus für eine positive linke Erzählung. Katja Kipping hat recht, wenn sie die Wichtigkeit sozialer Bewegungen betont, ohne die eine Linke in der Regierung zum Scheitern verurteilt wäre. Die Einschätzung, dass die sozialen Bewegungen die Linke unbedingt in einer Regierungsrolle sehen wollen würden, greift jedoch zu kurz: Tatsächlich haben viele Klima-, Antirassismus- oder Antirepressionsaktivistinnen eine kritische Distanz zur Linken nicht etwa, weil sie nicht klar genug an die Regierung strebt, sondern gerade weil sie in regierender Rolle in den Bundesländern mitunter klimazerstörerische Politik verantwortet, Geflüchtete nach Afghanistan abschiebt oder Polizeigesetze verschärft. Dass in der kommenden Legislaturperiode über die Klimabewegung hinaus außerparlamentarische Bewegung und Klassenauseinandersetzungen ein Niveau erreichen, das eine Mitte-Links-Regierung ernsthaft unter Zugzwang setzen würde (wie es z. B. beim Berliner Mietendeckel erfolgreich gelungen ist), ist wenig realistisch. Vor allem in der Außenpolitik wäre die Linke besonders unter Anpassungsdruck: Die aktuell geäußerten Kriegsphantasien von AKK bis Habeck ernten kaum Protest. Eine für den Regierungseintritt wahrscheinlich notwendige Annäherung an den rot-grünen Interventionismus ginge an die Substanz der Linken und hätte wohl eine spaltende Wirkung auf die Partei zur Folge.

Daher sollte die Linke im kommenden Bundestagswahlkampf ihre roten Haltelinien genauso wie ihre konsequenten Forderungen hervorheben und danach bei möglichen Koalitionsverhandlungen unter Beweis stellen: Sie gehört eben nicht zu jenen Parteien, die vor der Wahl alles Mögliche versprechen, nach der Wahl faule Kompromisse eingehen und ihr eigenes Programm damit konterkarieren. Die Linke muss auch vor dem Hintergrund zunehmender Entfremdung vom herrschenden Parteiensystem deutlich machen, dass sie wirklich ganz anders ist.

Johannes König ist aktiv in der Münchner LINKEN und Sprecher des Bündnisses „noPAG – Nein zum Polizeiaufgabengesetz Bayern“. Als Betroffener von Ermittlungen des Staatsschutzes ist er Beschwerdeführer einer Verfassungsklage der Gesellschaft für Freiheitsrechte gegen das PAG.


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