Ein Junge spielt Krieg in Harasta, Ost-Ghuta. By Jordi Bernabeu Farrús, Flickr, licensed under CC BY 2.0.

Syrien und das Problem linker Solidarität

Seit Januar erlebt Syrien eine Eskalation von Gewalt und zivilen Verlusten in zwei Konfliktregionen. Afrin, die von Kurden  langegehaltene Enklave entlang der türkischen Grenze, erlebte massive Kampfhandlungen, seit türkisches Militär am 19. Januar diesen Jahres gewaltsam in das Gebiet eingedrungen ist und dies inzwischen erobert hat. Bis jetzt sind während der Kämpfe geschätzt 112 Zivilisten umgekommen. Gleichzeitig heben syrische Soldaten in Ost-Ghouta, nur wenige Autostunden von Afrin entfernt, die letzten Widerstandsnester in einer brutalen Vernichtungsaktion aus, bei der systematisch Zivilisten verfolgt werden.

Entschieden unterstützt von russischer Luftwaffe und iranischen Bodentruppen, erinnert das Blutvergießen an den Angriff auf Aleppo vor gerade einem Jahr, bei dem 30.000 Syrer getötet wurden. Die zivilen Todesziffern in Ost-Gouta sind in den letzten drei Monaten auf über 1.070 Zivilisten gestiegen.

Während in Afrin das Leid wächst, haben linke Plattformen in Nordamerika und Europa Aufrufe bewaffneter, kurdischer Gruppen zur Solidarität mit den Opfern der Kriegsgewalt im nordsyrischen Distrikt Afrin verbreitet. Diese Solidarität wird gebraucht und ist verdient, aber genauso die internationale Solidarität mit Zivilisten andernorts in Syrien. Stattdessen ist die westliche Linke weitgehend still geblieben angesichts des ungehinderten Massakers in Ost-Ghouta. Gegen die Gefahr der Heuchelei müssen wir prüfen, wie sich unser Konzept internationaler Solidarität in Bezug auf die unbewaffneten Opfer dieses Krieges verhält.

Das Problem selektiver Solidarität

Westliche Beobachter aus dem gesamten politischen Spektrum haben lange damit gehadert, die vielschichtige Geschichte des syrischen Konflikts zu erfassen und ihn mit der sich wandelnden, revolutionären politischen Landschaft in Einklang zu bringen.  Die Antwort des liberalen Mainstreams in Großbritannien und den Vereinigten Staaten war der zynische Missbrauch von Augenblicken öffentlichen Aufschreis über Assads Verbrechen als Bestätigung für Amerikas geopolitisches Ziel, den regionalen Einfluss Russlands und des Irans zu beschränken. Im Gegensatz dazu meidet ein signifikanter Teil der westlichen Linken jedwede Kritik an der syrischen, iranischen und russischen Führung im Namen von Widerstand gegen den US-Imperialismus. Sie werden in ausgeklügelte Medienkampagnen hinein gerissen, die alle Anzeichen einer Revolution gegen Assad ausradieren. Wir werden Zeugen der Auswirkungen unter linken, westlichen Aktivisten, deren selektive Beschäftigung mit der Krise in Syrien zu einer beinah exklusiven Solidarität mit der revolutionären Kurdenbewegung führt.

Die neuesten Ereignisse haben die schmerzhafte Begrenztheit dieser selektiven Wahrnehmung zutiefst spürbar gemacht. So wir unsere Stimme für die rechtmäßige Verteidigung Afrins, gegen den Angriff des türkischen Militärs auf syrische Kurden erheben, geschieht gleichzeitig auch an anderen Orten Syriens Massenmord an Zivilisten. Die Situation in Afrin ist dringlich, doch in Idlib und Ghouta ist sie es seit Jahren.

Vor Ausbruch der Revolution in Syrien ging das Assad-Regime erbarmungslos gegen kurdische Proteste vor, besonders 2004 und 2005 in Al Qamishli, wo extreme Militärgewalt und Massenverhaftungen angewandt wurden. Vierzig Jahre Baath’istischer Herrschaft haben konsequent versucht, die kurdische Identität mit einer Arabisierungspolitik zu zerstören, bishin, dass seinem Kind einen kurdischen Namen zu geben das Risiko von Gefängnis und Entführung mit sich brachte.

Doch, als sich 2011 öffentliche Proteste über Syrien ausbreiteten, entfachten sie die revolutionären Ideale sowohl in Gebieten mit kurdischer wie mehrheitlich sunnitisch-arabischer Bevölkerung. Diesmal war die Antwort des syrischen Regimes zweigleisig: Einerseits hat es die arabischen Rufe nach Reformen mit eiserner Faust unterdrückt, während sie andererseits der kurdischen Revolution entgegen kam. Dieser Weise kam Assad einem für das Regime bedrohlichen, vereinten arabisch-kurdischen Aufstand zuvor, markiert von einer taktischen Abkehr von der exzessiven Gewalt, mit der kurdischen Aufständen bisher begegnet wurde.

Der Gegensatz zwischen der bisher eisernen Unterdrückungspolitik und dem verhältnismäßig großen Betätigungsfeld, das der „Demokratischen Föderation Nordsyriens“ (oder „Rojava“) jüngst eingeräumt wurde, muss als Teil von Assads Versuch gesehen werden, den bewaffneten kurdischen Widerstand friedfertig gegenüber dem Regime und den kurdischen Befreiungskampf isoliert von anderen Bewegungen in Syrien zu halten. Weit davon entfernt, ein Bruch mit dem vormaligen anti-kurdischen Eifer zu sein, signalisiert er die Fortsetzung von Assads Langzeitstrategie, durch pragmatisches Schüren von Streitigkeiten entlang ethnischer und religiöser Trennlinien an der Macht zu bleiben.

In den ersten Jahren der Revolution keimten arabisch-kurdische Allianzen. Doch ist es der Türkei während des jüngsten bewaffneten Konflikts in Nordsyrien gelungen, verschiedene arabische Oppositionskräfte inklusive der Freien Syrischen Armee (FSA) für den Kampf gegen die kurdisch geführten, von den USA unterstützten Demokratischen Kräfte Syriens und die ihnen angeschlossenen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zu gewinnen – ungeachtet dessen, dass beide Gruppen bis zu diesem Wendepunkt 2016 gemeinsam Widerstand gegen den sogenannten Islamischen Staat bzw. Daesh geleistet haben. Zusätzlich zur türkischen Einmischung, erhalten andere Teile aus der ganzen Breite des bewaffneten Aufstands Unterstützung von verschiedenen Mächten aus dem Westen und den Golfstaaten. Die fortschreitende Abhängigkeit von ausländischer Militärhilfe hat sowohl die Zerstrittenheit dieser Gruppen untereinander wie ihr Abdriften von den Idealen und Methoden der pro demokratischen, nicht sektiererischen Demonstrationen 2011 zur Folge. Gleichwohl wird jedes Aufkommen lokaler Initiativen unterbunden, insbesondere in Gebieten unter Kontrolle Assads oder des Daesh.

Trotz der geteilten Unzufriedenheit mit dem Regime Assad und des gemeinsamen Interesses an einem Aufstand gegen ihn, wurden die revolutionären kurdischen und arabischen Bewegungen durch Einflüsse heimischer und fremder Kräfte gespalten. Jedem Unterstützer anti-diktatorischer Volksbewegungen muss die Tragik dieser Situation gewahr werden. Jene von uns in Europa und Nordamerika, die sich um Solidarität mit den Revolutionären in Syrien bemühen, stehen vor der schweren Aufgabe, all diesen Aspekten Rechnung zu tragen. Das bedeutet, die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten und Ziele in Syriens multiplen Revolutionen zur Kenntnis zu nehmen. Nicht zuletzt, da die Selbstbestimmung des kurdischen Volkes in Syrien nicht von brüchigen Kriegsvereinbarungen garantiert werden kann, sondern eng geknüpft ist an die Dynamik der gesamtsyrischen Revolution. Unsere Solidarität muss daher grundlegend und vorrangig jegliche Unterstützung vermeiden, die indirekt die autoritäre „Teile und herrsche!“-Taktik stützt – ein Kennzeichen konterrevolutionärer Regime in dieser Region, besonders dessen Assads.

Der Blick in den Spiegel

Undurchdachte Vorstellungen von Antiimperialismus haben zu lange zu dubiosen Analysen betreffend Syrien und dem Mittleren Osten geführt. In Beiträgen von Seiten der Linken herrschte oft ein argloses „Lagerdenken“: keine Kritik am „Feind unseres Feindes“. Das hat Aufsehen erregende und widersprüchliche Formen angenommen: Eine aktuelle Petition ruft die Führer Russlands, des Iran und der USA auf, die Souveränität Syriens in seinen Grenzen sicher zu stellen. Die Petition wurde u.a. von Noam Chomsky, Michael Hardt und David Graeber unterschrieben. Paradoxer Weise richtet sich der Hilfsaufruf an die Hauptverursacher der Kriegsverbrechen in Syrien.

Für solche Wendungen gibt es ein ganzes Bouquet möglicher Erklärungen, darunter der euro-amerikanische-Zentrismus, bei dem sich die Linke schlicht den Positionen ihrer bürgerlich-liberalen Gegner und mit dem Fokus, auf diese, statt Syrien, ihnen diametral entgegensetzt; die im Westen traditionellen ideologischen Verbindungen zur PKK; linkes Sektierertum; die Weigerung, überkommene Kategorien des Kalten Krieges den veränderten Bedingungen der Gegenwart anzupassen; ganz zu schweigen von Ignoranz und Faulheit sowie dem verhältnismäßig geschickten Ausbau von Kommunikationsnetzwerken durch die YPG/J und ihr medialer Einfluss auf westliches Publikum. Schließlich endet unser Engagement damit, Syrien als einen weit entfernten Krieg zu sehen, in welchem die Aufgabe der Linken nur die Wahl der Unterstützung für die „richtige“ bewaffnete Fraktion wäre. Das jedoch siebt die weniger spektakulären, aber gleichsam couragierten Initiativen zur Selbstorganisation aus, die parallel in verschieden Teilen des Landes und in der Refugee-Diaspora entstehen; dringliche Fälle, wie etwa die jüngste Frauenbewegung gegen Entführungen. Wenn wir diese ignorieren, verraten wir unsere Schlüsselüberzeugungen zum grundsätzlichen Schutz menschlichen Lebens, das von Militarismus, staatlichen Interessen und der Spaltung unserer Bewegung durch nationale, religiöse und ideologische Grenzen bedroht wird.

Unser Internationalismus muss den Willen dazu pflegen und entwickeln, die Vielschichtigkeit der syrischen Politik zu verstehen, seiner Gesellschaft und Kultur, wie sie sich unter den Umständen außergewöhnlicher Zwänge tagtäglich ausdrücken. Mehr als der Verfall in einen unpolitischen Humanitarismus, ist die Verteidigung des Lebens derer von brutaler Gewalt Heimgesuchten gegründet auf einer internationalen Solidarität, die ihr Überleben im Kontext des Kampfes begreift. Gleichwohl darf unser Willkommenheißen und die Aufnahme derer, die in den letzten Jahren aus Syrien geflohen sind, sie nicht in eine politisch pazifizierte Opferrolle drücken. Wir müssen darauf hören, was eine ganze Reihe linker syrischer Aktivisten zu sagen hat. Ihre Fluchterfahrungen und ihre Selbstorganisation in der Diaspora sind Teil der Syrischen Revolution, eine unerschöpfliche Quelle für Verständnis und Lehre aus der Realität dieses jetzt und heute stattfindenden Konflikts. Ein Konflikt, der in vielen dieser Menschen innerlich fortbesteht und ein fundiertes Wissen um der rassistischen und ethnischen Diskriminierungen, den syrischen Gefängnisstaat und die Zersplitterung der politischen Kräfte erfordert, wie sich auch gegen den Neoliberalismus richtet, den wir gleichsam bekämpfen. Die Breite der verschiedenen Positionen in diesem Konflikt macht es umso schwerer, eine gemeinsame Grundlage zu finden.

Kurz gesagt: Wir müssen damit aufhören, Syrien auf eine Weise zu sehen, wie Kolonialmächte den Bürgerkrieg in einem abhängigen Gebiet sehen, d.h.: die Intervention(en) kalkulierend, die für die Unterstützung und massive kriegspropagandistische Verbreitung einer Fraktion der eigenen Wahl vonnöten sind. Lasst uns stattdessen unseren Blick auf den Aufbau eines Sozialismus richten, der uns maßvoll, aber stetig zur praktische Umsetzung des Gedankens radikalen Internationalismus‘ mahnt, dass wir alle dieselbe Erde bewohnen, wie die, die für ein würdevolles, menschliches Leben mit der Waffe in der Hand kämpfen.

Donya Alinejad ist Anthropologin mit Schwerpunkt auf Migration und Medien und forscht zu iranischer und türkischer Diaspora. Sie ist post-doc-Forschungsstipendiantin an der Universität Utrecht.

Saskia Baas ist sozialistische Wissenschaftlerin und promovierte an der Universität Amsterdam. Sie hat umfassend zu bewaffneten revolutionären Bewegungen im Sudan und in Syrien geforscht.

Übersetzt aus dem Englischen von David A, zuerst erschienen auf Salvage.com.

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Eine Antwort

  1. LOGIKFREIER GASTBEITRAG

    „Gleichzeitig heben syrische Soldaten in Ost-Ghouta die letzten Widerstandsnester in einer brutalen Vernichtungsaktion aus, bei der systematisch Zivilisten verfolgt werden.“

    Bei einem Autor, der davon ausgeht, dass die letzten Widerstandsnester von Zivilisten gehalten werden, erhebt sich folgende Frage:
    Ist seine Urteilsfähigkeit durch Alkohol- oder durch Drogenabhängigkeit auf null gesunken?

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