Hans Decruppe

Staatsräson ist keine juristische, sondern eine demagogische Floskel – Im Gespräch mit Hans Decruppe

Die Bilder, die uns seit dem 7. Oktober aus Gaza, aber auch aus dem Westjordanland erreichen, sind kaum zu ertragen. Mehr als 15.000 Menschen sind durch die anhaltenden Bombardements der ultrarechten Netanyahu-Regierung gestorben, darunter viele Kinder. Die Versorgungslage ist erschreckend. Sowohl beim Massaker der Hamas als auch bei den israelischen Bombardements traf und trifft es Zivilisten. Beides ist zu verurteilen. Wir sprechen mit Hans Decruppe über die rechtlichen Aspekte des Gaza-Krieges und fragen nach der rechtlichen Grundlage für den von der Bundesregierung erhobenen Begriff der „deutschen Staatsräson“. Hans Decruppe ist Gewerkschafter und Jurist, er war viele Jahre Stellvertretender Landessprecher der LINKEN. NRW.

Die Freiheitsliebe: Hans, die israelische Regierung begründet ihre Bombardements auf Gaza und den Einmarsch von Bodentruppen in den Gaza-Streifen mit dem Recht auf Selbstverteidigung. Wie beurteilst du das?

Hans Decruppe: Es gibt ein allgemein anerkanntes Recht auf Selbstverteidigung und Notwehr – im Zivilrecht wie im Völkerrecht. Aber es gibt kein Recht auf Notwehrexzess. Diese Grundsätze gelten auch im Gaza-Krieg. Der Staat Israel darf erforderliche Maßnahmen militärischer Art ergreifen, um die evident bestehende terroristische und militärische Bedrohung der Bevölkerung durch die militärischen Einheiten der Hamas abzuwehren und zu beseitigen. Allerdings ist bereits fraglich, ob bei derart asymmetrischen Konflikten die ergriffenen Maßnahmen, wie die Bombardements ganzer Stadtteile, die Kämpfer der Hamas überhaupt getroffen und ausgeschaltet werden. Wenn dagegen in erster Linie die Zivilbevölkerung zu Tausenden getroffen wird und zivile Einrichtungen, wie Strom- und Trinkwasserversorgung bis zu Schulen und Krankenhäusern, zerstört werden, dann sind die Verteidigungshandlungen unverhältnismäßig und man muss von einem Exzess der Notwehrhandlung sprechen.

Die Freiheitsliebe: Ist der Krieg im Gazastreifen ein Bruch des Völkerrechts und wenn ja, warum?

Hans Decruppe: Ich meine in doppelter Hinsicht ja. Wenn der vorliegenden Nachrichtenlage zu trauen ist. Und zwar sowohl von Seiten der Hamas, die die Zivilbevölkerung als Schutzschild nutzt, wie von Seiten des Staates Israel, deren Kriegführung die völkerrechtlichen Grenzen der Verhältnismäßigkeit überschreiten dürfte. Dies muss im Nachgang durch ein entsprechendes völkerrechtliches Tribunal und den Internationalen Strafgerichtshof konsequent aufgearbeitet und bewertet werden. Auch die deutsche Bundesanwaltschaft ist von Amts wegen verpflichtet, nach dem Völkerstrafgesetzbuch gegen Täter der Hamas und Israels zu ermitteln, wenn sie sie sich an Kriegsverbrechen und völkerrechtswidrigen Handlungen beteiligt haben.

Die Freiheitsliebe: Auffallend ist, dass die israelische Regierung das Völkerrecht bricht, ohne dass es Konsequenzen gibt. Welche Gründe würdest du für diese westlichen Doppelstandards sehen?

Hans Decruppe: Doppelstandards entstehen regelmäßig bei einseitiger Parteinahme zugunsten einer Kriegspartei und wenn nicht nach den Ursachen der Kriege gefragt wird. Dies geschieht aus geopolitischem Interesse und basierend auf einer Haltung der gesellschaftlichen und damit einer moralischen wie kulturellen Überlegenheit des Westens gegenüber Völkern und Staaten des Südens. Das zieht sich vom Vietnamkrieg, den ich als ersten Krieg bewusst wahrgenommen habe, bis heute.

Die Freiheitsliebe: Führt der Bruch des Völkerrechts nicht auch zu einer Schwächung der völkerrechtlichen Organisationen wie der UNO, die prägend waren für die Nachkriegsordnung?

Hans Decruppe: Jeder Krieg, der geführt wird, und jeder gewaltsam ausgetragene Konflikt ist eine Niederlage des Völkerrechts und führt notgedrungen zu einer Schwächung der UN. Es ist auf die Verpflichtung der Staaten aus Artikel 1 Ziffer 1 der UN-Charta zu verweisen, nach der „internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“ sind. Und an Artikel 2 Ziffer 4 der Charta: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Und an Artikel 33 der UN-Charta, der vorschreibt: „Die Parteien einer Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, bemühen sich zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl.“ Es wäre Aufgabe der deutschen Außenpolitik, auf die konsequente Umsetzung dieser Prinzipien zu dringen.

Die Freiheitsliebe: In der öffentlichen Diskussion taucht immer wieder der Begriff der „deutschen Staatsräson“ auf. Kannst du uns als Jurist diesen Begriff erklären?

Hans Decruppe: Juristisch erklären kann man den Begriff „Staatsräson“ nicht, denn er ist völlig substanzlos. Auch wenn er von Juristen in höchsten Staatsämtern – wie Steinmeier und Scholz – verwendet wird. Wie Prof. Ralf Michaels klargestellt hat, steht der Begriff seit seinem Aufkommen in der politischen Theorie der italienischen Renaissance für ein Nützlichkeitsdenken ohne Rücksicht auf Recht und Moral, was mit Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht schwer in Einklang zu bringen ist.

Die Freiheitsliebe: Das heißt, der Begriff der „Staatsräson“ ist gar kein juristischer Begriff?

Hans Decruppe: So ist es. „Staatsräson“ ist keine juristische, sondern eine rhetorische und vor allem demagogische Floskel. Vergleichbar mit der Floskel „alternativlos“, die Merkel in ihrer Amtszeit politisch geschickt nutzte. Auch dieser Begriff ist inhaltsleer, diente bzw. dient aber der gezielten Einschränkung des politischen Diskurses. Wenn etwas alternativlos ist, dann stellt sich jeder, der trotzdem alternative Vorstellungen formuliert, außerhalb der von höchster staatlicher Stelle vorgegebenen Positionierung. Unter „Räson“ versteht man Vernunft oder Einsicht. Und wer sich gegen die „Staatsräson“ stellt, ist folglich unvernünftig und politisch uneinsichtig. Er stellt sich quasi gegen die Staatsvernunft. Im Interesse des Staates muss daher jeder, der sich dieser proklamierten Staatsvernunft nicht beugt, bekämpft und gecancelt werden. Der Begriff ist damit nichts anderes als ein manipulatives politisches Instrument, mit dem höchste staatliche Stellen – unter Beifall und mit Unterstützung einer sich selbst zunehmend gleichschaltenden Presse – versuchen, kritische Debatten zu unterdrücken. Mit anderen Worten: Der Gebrauch des Begriffs „Staatsräson“ ist in rechtlicher Bewertung ein perfider Versuch, die durch Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes geschützte Meinungsfreiheit im Interesse einer „Quasi-Staatsmeinung“ einzuhegen.

Die Freiheitsliebe: Die „deutsche Staatsräson“ wird ja vor allem in Verbindung mit der Sicherung des „Existenzrechtes Israels“ gebraucht, das mit der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands begründet wird.

Hans Decruppe: Richtig. Die „deutsche Staatsräson“ steht im Zusammenhang mit der Gewährleistung eines „Existenzrechts des Staates Israel“, das in der Tat nicht in Frage gestellt werden darf. Aber hier würde es rechtlich wie politisch völlig ausreichen, auf die Verpflichtungen des deutschen Staates aus dem Völkerrecht zu verweisen, das ich oben zitiert habe. Und das entspräche auch einem aus der Verfassung unseres Staates abgeleiteten Verständnis von „Staatsräson“. Es wäre vernünftig, als Maßstab die Präambel des Grundgesetzes mit seiner Verpflichtung, „dem Frieden der Welt zu dienen“, und auch Artikel 25 heranzuziehen, der ja nicht nur die Staatsorgane bindet, sondern alle in Deutschland wohnenden Menschen erfasst, wenn es heißt: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Dieser Dimension scheinen sich Scholz und Steinmeier – und zugleich alle, die das Gerede von der „Staatsräson“ unkritisch nachplappern – nicht hinreichend bewusst zu sein.

Die Freiheitsliebe: Gleichzeitig verändert sich auch der innenpolitische Kurs der Bundesregierung. In Berlin wird das Tragen der Kufiye an Schulen untersagt. Pro-palästinensische Demonstrationen werden verboten mit der Begründung, es könnte zu antisemitischen Handlungen kommen. Ist diese Vorgehensweise – die Einschränkung des Demonstrationsrechtes in Erwartung einer Straftat – rechtsstaatlich belastbar?

Hans Decruppe: Im Kern geht es, wie von mir schon angesprochen, um das Grundrecht, seine Meinung frei zu äußern. Dieses Recht findet seine Grenze ausschließlich in den allgemeinen Gesetzen, insbesondere im Strafrecht. Auch unsinnige, abstruse und auch völlig einseitige oder parteiergreifende Meinungen sind damit vom Grundgesetz geschützt. Also auch eine Position, für die in Gaza und im Westjordanland lebenden Palästinenser politisch Partei zu ergreifen oder Kritik an der israelischen Kriegführung zu üben. Wer diese Meinungen untersagen und von staatlicher Seite durch die Vorgabe zulässiger Meinungsäußerungen ersetzen will, vertritt ein totalitäres Staatsverständnis, konträr zum Grundgesetz. Er offenbart eine verfassungsfeindliche Grundhaltung. Eine irgendwie geartete „Staatsräson“ ist in rechtlicher Betrachtung schlicht irrelevant. Damit einher geht das Recht, seine Meinung auch nonverbal – z.B. durch Tragen des Palästinenser-Kopftuchs – oder gemeinsam mit anderen – in Versammlungen oder Demonstrationen – zu äußern.

Die Freiheitsliebe: Und wann ist die Grenze der geschützten Meinung- und Versammlungsfreiheit überschritten?

Hans Decruppe: Die Grenze der geschützten Meinungs- und Versammlungsfreiheit wird erst überschritten, wenn bestimmte Straftaten wie u.a. Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen öffentlich und in einer Weise gebilligt werden, dass der öffentliche Frieden gestört oder gefährdet wird. Also: Wer die Terrormorde der Hamas und ihre Geiselnahmen vom 07. Oktober öffentlich billigt, kann sich zu Recht nicht auf den Schutz der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit berufen; wohl aber derjenige, der die Situation im Westjordanland mit dem völkerrechtswidrigen Siedlungsbau als Besatzung und die unterschiedliche rechtliche Behandlung von Juden und Palästinensern durch Behörden Israels als Apartheid bezeichnet oder wer die Bombardements des Gaza kritisiert.

Die Freiheitsliebe: Das heißt, als Grund für ein Versammlungsverbot reicht die bloße Erwartung nicht aus?

Hans Decruppe: Juristisch ist eindeutig: Der pauschale Vorwurf, es könnte zu „antisemitischen Handlungen“ kommen, reicht nie aus, ein Versammlungsverbot rechtswirksam auszusprechen. Bei einem Verbot muss es um die Verhinderung strafrechtlich relevanten Handelns gehen. Das muss aufgrund konkreter Fakten nachweislich drohen und das muss gerichtlich überprüfbar sein.

Die Freiheitsliebe: Vor allem der Vorwurf des „Antisemitismus von links“ wirkt für das Vorhaben, die Richtigkeit der Politik der israelischen wie der deutschen Regierung zu hinterfragen, einschüchternd. Ist die Kritik an den israelischen Bombardements und an der „deutschen Staatsräson“ antisemitisch?

Hans Decruppe: Links sein bedeutet, auf der Seite der Humanität zu stehen, der Achtung der Menschenrechte und der effektiven Durchsetzung von Völkerrecht. Diese Prinzipien, Werte und Normen gelten universell. Das bedeutet: Kein Mensch, keine Menschengruppe und kein Staat genießen Vor- oder Sonderrechte. Allerdings stehen diese Prinzipien heute unter ideologischen Gegendruck. Wer im geopolitischen Interesse globaler Vormachtstellung die Konfrontation und Kriegsbereitschaft fördern will, der muss diese Prinzipien und insbesondere ihre universelle Geltung natürlich in Frage stellen. Daher wird – gerade in Deutschland vor dem Hintergrund der Verantwortung für Weltkriege und der faschistischen Verbrechen und dem Holocaust an den Juden – der Vorwurf des Antisemitismus gezielt gegen Stimmen instrumentalisiert, die sich begründet kritisch zu Kriegshandlungen der Regierung des Staates Israel äußern. Mit Erschrecken nehme ich gleichzeitig zur Kenntnis, das im politischen Raum die große Losung der Friedensbewegung „Nie wieder Krieg! – Nie wieder Faschismus!“ auf ein inhaltsleeres „Nie wieder!“ amputiert wird. Es geht wohl darum, die Lehren der deutschen Geschichte im Interesse der geforderten „Kriegstüchtigkeit“ zu entsorgen.

Das Gespräch führte Ulrike Eifler.

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