Schweden: Erneuerung des Sozialstaates?

Die Parlamentswahl bescherte der schwedischen Gesellschaft bei hoherWahlbeteiligung (84,4%) eine mehrfache Überraschung:

  • Auch in dem Kernland des europäischen Sozialstaates schlägt sich dank der herausragenden Rolle der schwedischen Sozialdemokratie der Niedergang der politischen Arbeiterbewegung massiv nieder. Die Sozialdemokraten bleiben zwar weiterhin mit Abstand stärkste Kraft, aber diePartei von Premierminister Stefan Löfven holte nur 28,4% der Stimmen. Es ist das schlechteste Ergebnis der Sozialdemokraten seit mehr als hundert Jahren,noch 2014 hatten sie 31,1% erkämpft.
  • Der von der SAP geführte Mitte­ Links-Block aus Sozialdemokraten, Grünen und Linkspartei verfügte nur noch um ein Mandat mehr als der Block einer bürgerlichen Allianz aus Konservativen, Christdemokraten, Liberalen und Zentrumspartei.
  • Eindeutiger Wahlsieger waren die rechtsnationalen oder rechtspopulistischen Schwedendemokraten, die mit ihren 62 Mandateverhindern, dass weder das rot-grüne Lager noch die bürgerliche Allianz (144 beziehungsweise 143 Sitze) eine Mehrheit erreichen können. Vor acht Jahren bei 6% und vor vier Jahren bei 13% liegend, haben sie mit einem Resultat von 17,6% einen neuerlichen deutlichen Zuwachs verbucht. Von einer politischen Randerscheinung sind sie zu einem gewichtigen Faktor der schwedischen Politik avanciert. Mit ihrer nun erlangten Stärke kommt ihnen die Rolle des Züngleinsan der Waage zu. Sie können die Politik jeder Regierung, komme sie nun aus dem rot-grünen oder aus dem bürgerlichen Lager, nahezu unmöglich machen. Aufgrund ihrer Herkunft aus dem rechtsextremen Umfeld der späten 1980er Jahre will von den übrigen Parlamentsparteien mit ihnen allerdings bisher niemand etwas zu tun haben, weder direkt als Partner noch indirekt.
  • Eine Auflösung des politischen Patts ist bislang nicht erkennbar. Für eine handlungsfähige Regierung braucht es entweder eine Zusammenarbeit zwischen den beiden großen Blöcken. Oder die regierende Minderheit muss auf die Unterstützung der Schwedendemokraten zurückgreifen. Zwei Wochen nach der Wahl hat Schwedens Regierungschef Stefan Löfven die Vertrauensabstimmung im Parlament verloren. Er wird die Regierung trotzdem kommissarisch weiter führen, bis Koalitionsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen sind. Eine Regierung mit den Rechtspopulisten schließen bislang beide Blöcke aus.

Diese Entwicklung in Schweden ist exemplarisch für die Situation in Skandinavien: In allen Nachbarländern sind die Rechtspopulisten an der Regierung beteiligt oder stützen sie. In Schweden sind sie bisher isoliert. In Skandinavien sind Minderheitsregierungen üblich, die für jede Entscheidung neue Mehrheiten finden müssen. Wenn da die Schwedendemokraten als drittstärkste Partei im Parlament einen Vorschlag mitgetragen haben, hat sich zwar meist niemand beschwert. Nach außen hin aber war die Botschaft klar: keine Geschäfte mit den Rechten.

Die Machtposition der Rechtspopulisten (17,6%) verschärft erkennbar die Krise der Demokratie.  Der sozialdemokratische Minister für Unternehmen und Innovation, Mikael Damberg, konstatiert: „Es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn populistische Kräfte an Boden gewinnen und Fremdenfeindlichkeit unsere Gesellschaft erfasst. So wird die Demokratieausgehöhlt. Eine Untersuchung aus dem vergangenen Jahr zeigt, dass 74 Prozentder Schweden unsere Demokratie bedroht sehen. Und fast jeder zweite Jugendliche hätte lieber Experten als vom Volk gewählte Politiker an der Spitze der Gesellschaft. Ich finde das bemerkenswert.“ Zwei Kernfragen sind mit dieser Entwicklung aufgeworfen: Was ist der Grund für den Erfolgskurs der Rechtspopulisten, und gibt es in Schweden Ansatzpunkte oder gar eine Strategie für eine Erneuerung der politischen Linken?

Rechtspopulistische Zerstörung des Sozialstaates

Die Schwedendemokraten entstanden 1988 in einem rechtsextremen und rassistischen Milieu als eine rechtsextreme Formation. Seither beruht ihre steile Karriere ähnlich wie die des französischen Front National auf einer Ent-Diabolisierung, d.h. sie versuchen mehr oder minder überzeugend ihre rechtsextreme und rassistische Ausrichtung abzustreifen und werden doch auf die eine oder andere Weise immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt. Die Schwedendemokratenhaben 2010 als parlamentarische Partei den Sprung in den Reichstag geschafft,indem sie mit 6% die Vier-Prozent-Hürde übersprungen haben. 2014 verdoppelten sie ihren Wähleranteil auf 13% und zogen bei den Europa-Wahlen ins Europaparlament ein. Bei den aktuellen Reichstagswahlen erreichte die Parteidas beste Wahlergebnis ihrer Geschichte.

Der Vorsitzende Åkesson verpasste den Schwedendemokraten im Wahlkampf ein bürgerliches Gesicht: Er betonte, dass die Partei mit ihrer Nazi-Vergangenheitnichts mehr zu tun habe. Programmatisch sind die SD Abtreibungsgegner, unterstützen ein traditionelles Familienbild und sind sowohl gegen die „Ehe für alle“ als auch gegen das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Außerdem bestreiten sie die Notwendigkeit einer radikalen ökologischen Politik,denn die Gesellschaften trügen keine Schuld am Klimawandel und an der Erderwärmung. Wirtschaftlich sind sie eher liberal und wollen den Einfluss der Politik auf die Wirtschaft einschränken und kleine sowie mittelständische Unternehmen stärken. Der Europäischen Union stehen sie skeptisch gegenüber undwollen Zahlungen an Brüssel minimieren sowie eine Abstimmung über einen möglichen Austritt aus der Union: #swexit. Zu den Zielen der Schwedendemokraten gehören außerdem die radikale Eindämmung jeder Form von Zuwanderung sowie die Einschränkung der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU.

Entscheidend für den Stimmenzuwachs für die SD war die harte Haltung in Sachen Migration. Auch die systematische Diffamierung von Flüchtlingen als Kriminelle ist Teil ihrer Rhetorik. Die SD stehen deutlich rechts von den rechtspopulistischen Parteien in Skandinavien. Die Schwedendemokraten haben sich in den letzten Jahren und auch im Wahlkampf als einzige „echte“ Opposition präsentiert. Die Partei kann zudem darauf verweisen, dass der durch die Umstände der Migrationskrise erzwungene dramatische Kurswechsel der regierenden Sozialdemokraten in der Asylpolitik genau diejenigen Maßnahmen gebracht habe, die man selber schon lange gefordert habe. Man habe also recht gehabt, obwohl man ständig als rassistisch und extremistisch dargestellt werde.

Im zurückliegenden Wahlkampf dominierte zunächst das Thema Migration: Statt über Rente, Gesundheitsvorsorge und Bildung debattiert Schweden vorwiegend über Migration und Klimaschutz. Das Thema Migration hat in Schweden aus zwei Gründen massiv an Bedeutung gewonnen: Einmal, weil das Land im Zuge der Migrationskrise pro Kopf mehr Menschen aufgenommen hat als jeder andere Staat in der EU (insgesamt etwa 160.000); aber auch, weil die Schwedendemokraten es zum Mittelpunkt ihrer Oppositionsarbeit gemacht haben.

Krise und Erneuerung der Sozialdemokratie

Die schwedische Sozialdemokratie ist, wie andere sozialdemokratische Parteien, auf einem historischen Tiefpunkt in der Wählerzustimmung angelangt. Die schwedische Gesellschaft hat in Jahrzehnten sozialdemokratischer Vormachtstellung den skandinavischen Wohlfahrstaat zu einem internationalen Referenzpunkt gemacht. Über weite Strecken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte die sozialdemokratische Partei den Regierungschef und die entsprechendeparlamentarische Mehrheit. Während die Sozialdemokraten bei Wahlen im 20.Jahrhundert zwischen 35% und 50% der abgegebenen Stimmen für sich verbuchen konnten, befindet sich die Partei seit dem Jahrtausendwechsel in einem chronischen Niedergang.

Die Strategie der Sozialdemokraten, über eine teilweise Kopie der Politik der Schwedendemokraten verlorene Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, ging daneben. Die Forderungen nach härteren Strafen für Kriminelle und einer strafferen Migrationspolitik ließ vielmehr die Umfragewerte weiter sinken. Erst in den letzten Wochen vor der Wahl,  als sich die Partei auf die neuen Probleme des Sozialstaates besann und für seine Erneuerung kämpfte, stieg die gesellschaftliche Akzeptanz wieder an. Die Ausrichtung auf verbesserte Arbeitsbedingungen, mehr gesellschaftliche Ressourcen für Bildung und Gesundheit, erhöhten die Attraktivität der SAP-Politik. Diese Themen waren für viele Stimmbürgerinnen wichtiger als die Migration.

Diese Verschiebung der Wahlkampfthemen von der Zuwanderung hin zum Schlüsselthema der Zukunft des Sozialstaates führte dazu, dass der von den Demoskopen prognostizierte Absturz auf 26% abgewendet werden konnte. Schwedens Sozialdemokraten proklamierten die Wahlen zu einem Referendum über den Wohlfahrtsstaat. Dieser brauche mehr Geld und es müssten vernachlässigte Strukturprobleme beseitigt werden, weshalb höhere Steuern nötig seien.

Schwedens Wirtschaft brummt, und war daher auch kein Wahlkampfthema – oder höchstens dann, wenn es für die rot-grüne Regierung darum ging, die eigenen Verdienste in den Vordergrund zu stellen. Das reale Wachstumdes Bruttoinlandprodukts (BIP) wurde für das erste Halbjahr 2018 auf 3,3%gegenüber der vergleichbaren Vorjahresperiode veranschlagt. Prognosen von Beobachtern für das ganze Jahr laufen auf einen Wert zwischen 2,5% und 3%hinaus. Die Arbeitslosenquote sank per Mitte 2018 auf rund 6%, wobei insbesondere bei der Jugendarbeitslosigkeit und der Arbeitslosigkeit von Zuwanderern relativ gesehen Erfolge erzielt wurden.

DieEinkommensverhältnisse haben sich nicht im gleichen Maße entwickelt, die schwedische Gesellschaft ist ungleicher geworden. In Schweden gilt die Regulation der Einkommensverteilung als wichtige staatliche Aufgabe. Und dennoch hat Schweden in den vergangenen Jahreneine bemerkenswerte Entwicklung weg von der Wohlfahrt für alle hin zum Wohlstandfür wenige vollzogen. In keinem anderen westlichen Industriestaat sind laut OECD die Einkommensunterschiede so schnell gestiegen wie in Schweden.

Die wohlhabenden Gesellschaftsmitglieder profitierten seit den 1980er Jahren von einer Reihe politischer Maßnahmen. Erstens erfolgten sowohl unter sozialdemokratischen als auch später unter bürgerlichen Regierungen zahlreiche Steuersenkungen, die dieWettbewerbsfähigkeit Schwedens stärken sollten, von denen aber vornehmlich die Reichen profitierten. Den bedeutendsten Einschnitt stellte dabei die Anfang der1990er Jahre von den Sozialdemokraten durchgeführte „Steuerreform des Jahrhunderts“ dar. Die bürgerlichen Regierungen führten den von den Sozialdemokrateneingeschlagenen Weg anschließend fort.

Im Herbst 2014 wurde die bürgerliche Allianzaus dem Amt gewählt. An ihre Stelle trat eine Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Grünen. Trotz einer Anhebung des Arbeitslosengeldes und einer anschwellenden Debatte über ein Ende der Sparpolitik konnte die rot-grüneRegierung keinen wirklichen Politikwechsel durchsetzen.

Entscheidend aber: Die Steuern sind nach vier Jahren rot-grüner Regierung hoch wie eh und je, doch die Leistungen stimmen nach Ansicht einer wachsenden Anzahl von Bürgerinnen und Bürger nicht mehr. Grob zusammengefasst heißt das: Die sozialen Dienstleistungen und damit die öffentliche Infrastruktur entsprechen nicht den Ansprüchen der Mehrheit der Bevölkerung. Drei Problemfelder ragen heraus:

•          Erstens geht es um die Gesundheitsversorgung. Die vom Staat abgegebene »Pflegegarantie«, die Patientinnen und Patienten mit ernsthaften Problemen zusichert, innerhalb von 90 Tagen einen Spezialisten sehen oder eine Behandlung beginnen zu können, konnte im Juni 2014 in 44.000 Fällen nicht eingehalten werden, im Juni dieses Jahres waren es bereits 86.000 Fälle.

•          Zweitens stehender eklatante Lehrer- und Lehrerinnenmangel und die Situation des Schulsystems im Fokus. In den Gemeinden (die für das Schulwesen in Schweden zuständig sind). In den nächsten Jahren werden Zehntausende qualifizierter Lehrerinnen und Lehrer fehlen. Außerdem gibt es einen Konflikt über die Rolle der privat geführten sogenannten freien Schulen. Diese werden, wie die kommunalen Schulen, mit einem Staatsbeitrag pro Schülerin und Schüler finanziert. Im Gegenzug dürfen sie kein Schulgeld verlangen. Weil sie oft effizienter geführt sind als die kommunalen Schulen, sind sie bei bildungsnahen Eltern beliebt, weshalb zum Teil jahrelange Wartezeiten bestehen und Kinder für die beliebtesten Schulen quasi bei ihrer Geburt schon in die Warteschlange gestellt werden müssen.

•          Drittens geht es auch auf dem Terrain öffentliche Sicherheit um einen Personalmangel.

Der gemeinsame Nenner der Probleme im öffentlichen Sektor –Gesundheits-, Schul- oder Polizeiwesen – sind die finanziellen Ressourcen zumAusbau der öffentlichen Infrastruktur. Die sozialdemokratische Regierung machte die fehlenden Investitionen aus der Zeit der konservativ geführten Vorgängerregierung dafür verantwortlich und antwortete erst im Laufe des Wahlkampfes mit einem umfangreichen Investitionsprogramm für Infrastruktur und Personal. Doch angesichts der unterminierten politischen Glaubwürdigkeit stand diese Ausrichtung der Kampagne gegen die rechtspopulistische Erzählung von den modernen Sündenböcke – weniger Migrantinnen und Migranten und weniger Leistungen für sie.

Schlussfolgerung: Deutliche Korrekturen in der Verteilungspolitik  und Investitionen in den Wohlfahrtsstaat könnten künftig in Schweden ein Ansatzsein, dem Niedergang  des Sozialstaates gegenzusteuern. Allerdings muss dazu das politische Patt durchbrochen werden.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der November-Ausgabe von »Sozialismus«, ein monatlich erscheinendes Forum für die Debatte der gewerkschaftlichen und politischen Linken in Deutschland. (Probe-)Abos können unter www.sozialismus.de bestellt werden.


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