Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Sanktionen gegen Russland die wirtschaftliche Begleitmusik zum Geschützdonner auf dem Schlachtfeld sind. Von Außenministerin Annalena Baerbock stammt die Aussage, man werde damit die russische Wirtschaft „ruinieren“. Die Kampagne der Bundesregierung, die Importe im Energiesektor möglichst schnell auf null herunterzufahren, verfolgt vorgeblich das Ziel, Russland die Einnahmen aus dem Export von Kohle, Öl und Gas zu entziehen, um die russische Volkswirtschaft auf diese Weise so schwerwiegend zu schwächen, dass sie nicht mehr in der Lage ist, die Kosten zu tragen, die der Militäreinsatz der Volkswirtschaft abnötigt.
Teil 2 eines Dreiteilers um den Konflikt um die russischen Gaslieferungen unseres Autoren Paul Michel vom Netzwerk Ökosozialismus (Teil 1).
Zwei Seiten derselben Medaille
Was Sanktionen betrifft, gibt es in Teilen der Linken und in der Friedensbewegung eine grundsätzlich kritische Haltung. Sanktionen treffen in der Regel die unbeteiligte Zivilbevölkerung – die ärmsten der Armen. Im Fall der Sanktionen gegen Nordkorea sind Hunderttausende Menschen im Land durch Hunger und medizinische Unterversorgung ums Leben gekommen, das Regime ist jedoch weiterhin unerschüttert an der Macht. Auch in anderen Ländern mit Diktatoren haben Sanktionen nichts bewirkt, außer der Zivilbevölkerung noch mehr Armut, Hunger und Tod zu bringen. Ob Haiti, Serbien, Syrien – trotz Sanktionen blieben jene, die aus dem Amt gedrängt werden sollten, fest im Sattel. Das hat einen einfachen Grund: Politiker*innen in den von Sanktionen betroffenen Ländern können die Situation nutzen, um die Reihen hinter sich zu schließen. Schuld an der miserablen Situation sind nicht sie, sondern eben ausländische Mächte – der gegnerische imperialistische Block.[i]
NATO-Ziele in der Ukraine
Eine Ablehnung der militärisch motivierten Sanktionspolitik der NATO-Staaten bedeutet keineswegs, die Verantwortung Russland zu relativieren. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig und ist durch nichts zu rechtfertigen. Der russische Staatspräsident Putin hatte den Angriffsbefehl erteilt. Es soll hier auch nicht in Frage gestellt werden, dass die Ukraine das Recht auf Widerstand gegen den Angriff eines militärisch überlegenen Nachbars hat.
Allerdings ist es leider seit dem Scheitern der Gespräche in Istanbul Ende März zwischen der Ukraine und Russland so, dass die schlimmsten Scharfmacher auf Seite der NATO, die USA und Großbritannien, immer stärkeren Einfluss auf den Kriegsverlauf nehmen. Beide Regierungen haben Ende März/Anfang April, nachdem der ukrainische Präsident Selenskyj Vorschläge geäußert hatte, die durchaus geeignet gewesen wären, einen Friedensprozess einzuleiten, interveniert. Boris Johnson warnte Selenskyj in einem Telefongespräch vor einem übereilten Friedensschluss. Gleichzeitig stellte er der Ukraine neue „tödlichere Waffen“ in Aussicht. Die USA haben ein gigantisches Waffenlieferungsprogramm aufgesetzt. Die ukrainische Regierung hat sich aus Gründen, über die wir nur spekulieren können, die strategischen Ziele der USA und Großbritannien zu eigen gemacht. Sie spricht seither nur noch vom Sieg auf dem Schlachtfeld und der Rückeroberung der Region um Cherson und sogar der Krim als Kriegsziel.
Angespornt durch die USA versteigen sich führende ukrainische Politiker und Militärs in die Vorstellung, dass die Ukraine die weit überlegene russische Armee militärisch besiegen werde. Der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, sagte gegenüber der Financial Times: „Jetzt, ermutigt durch westliche Waffen, wird der Sieg für uns in diesem Krieg die Befreiung des Restes unserer Gebiete sein.“ Damit meint Kuleba eine Offensive zur Rückeroberung des gesamten Donbass und möglicherweise der Krim. Die ukrainische Führung wird nicht müde, von der NATO immer mehr „schwerere Waffen“ zu fordern.
Das ukrainische Militär macht sich von Tag zu Tag stärker von den USA und Großbritannien abhängig. NATO-Staaten liefern der ukrainischen Armee Waffen und Munition sowie militärische Aufklärung, sie bilden die ukrainischen Soldat*innen aus und bezahlen mittels finanzieller Militärhilfen an die Ukraine den Sold der Soldaten. Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen dadurch längst nicht mehr nur zur Verteidigung des Landes gegen die russische Invasion, sondern im Dienst des westlichen Militärbündnisses. Dessen vorrangiges Interesse besteht in einer langfristigen Schwächung des imperialistischen Konkurrenten Russland.
Das mutet umso befremdlicher an, als seit einigen Wochen die russischen Truppen im Donbass in der Offensive sind. Die ukrainischen Truppen mussten inzwischen wichtige Städte räumen und erleiden dort schwere Verluste. Angesichts dieser Umstände wirkt das von der ukrainischen Regierung in den letzten Wochen ständig herausgestellte Ziel, mit den neuen NATO-Waffen und einer Million Soldaten im Süden die verlorenen Gebiete zurückerobern zu wollen, nur noch verstörend. Sollte es je dazu kommen, so wäre das nur unter schwersten Verlusten unter den Soldaten beider Seiten und der ukrainischen Zivilbevölkerung vorstellbar – ganz zu schweigen, dass dabei die Infrastruktur der betroffenen Gebiete in Schutt und Asche gelegt würde.
Die Kriegsrhetorik beider Seiten und vor allem das militärische Geschehen und die weiterlaufenden Waffenlieferungen sprechen eine klare Sprache: Der Kreml wie auch das Regime in Kiew denken nicht an die Aufnahme von Friedensgesprächen oder wenigstens an einen Waffenstillstand.
Die Waffen nieder!
Die Bilanz des Krieges nach sechs Monaten ist verheerend: Zehntausende Tote (und das Sterben nimmt kein Ende, und zwar auf beiden Seiten), unzählige Verletzte, Millionen Geflüchtete und zerrissene Familien, zerstörte Häuser und Wohnungen, über weite Strecken zerstörte Infrastruktur, ökologische Verwüstungen. In der aktuellen Situation ist es dringend erforderlich, dem gegenseitigen Schlachten ein Ende zu setzen.
Italien hat am 18. Mai einen Plan für eine Friedenslösung vorgelegt, der eine Grundlage dafür hätte sein können, dass das Töten, Sterben und Zerstören beendet wird. Der Plan umfasst vier Phasen:
- Waffenstillstand in der Ukraine und Entmilitarisierung der Frontlinie unter UN-Aufsicht.
- Verhandlungen über den Status der Ukraine, die einen Beitritt des Landes zur EU, aber keinen Beitritt zur NATO vorsehen. Als offenkundigen Anreiz für die Ukraine, gegebenenfalls auf Teile ihres bisherigen Territoriums zu verzichten, sieht der Plan ein beschleunigtes Aufnahmeverfahren für das Land in die EU vor.
- Ein bilaterales Abkommen zwischen der Ukraine und Russland über die Krim und den Donbass: Auf Vorschlag der italienischen Regierung sollen die „umstrittenen Gebiete“ volle Autonomie erhalten und das Recht haben, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, während Kiew die Souveränität über die Regionen behält.
- Ein multilaterales Abkommen über Frieden und Sicherheit in Europa, das Abrüstung und Rüstungskontrolle, Konfliktprävention und vertrauensbildende Maßnahmen umfasst. Danach soll der Abzug der russischen Truppen aus dem ukrainischen Gebiet erfolgen.
Von westlicher Seite – auch von der deutschen Regierung – blieb die Unterstützung für den italienischen Vorschlag bisher aus. Die ukrainische Seite äußerte sich sehr ablehnend.
[i] Siehe Artikel von Yaak Pabst auf marx21.