Plattformökonomie ist einer der Begriffe, unter denen neue Wirtschaftsentwicklungen gefasst werden . Schon in diesem kurzen Satz, der vagen Formulierung, wird deutlich, dass es bei diesem und ähnlichen Begriffen wie Digitalisierung, gig-Ökonomie, Robotisierung um ein Feld handelt, dass einerseits durch viele Facetten mit ganz spezifischen Detailaspekten gekennzeichnet ist, aber andererseits Teil eines komplexen Feldes von Änderungen ist, die das Wirtschaften und die Vergesellschaftung betreffen.
Charakteristisch ist ebenfalls, dass in vielen Fällen eine klare Abgrenzung möglich und auch sinnvoll ist, zugleich aber in einer anderen Perspektive die verschiedenen Bereiche gerade in ihrem Zusammenspiel Teil einer weiteren Entwicklung sind. Dass eine Abgrenzung sinnvoll ist, ergibt sich nicht zuletzt dadurch, dass sich arbeitsrechtliche Fragen nur so klären lassen. Andererseits ist aber eine weitere Betrachtung zumindest durch drei Gesichtspunkte erforderlich: [i] es handelt sich um Teilaspekte der Änderung von Kapitalverhältnissen bzw. der Produktionsweise und in diesem Zusammenhang geht es um die Neuaufteilung der Welt; [ii] dadurch wird deutlich, dass die rein zahlenmäßige Bedeutung etwa der Plattformwirtschaft nur einen Aspekt bildet, die qualitative Seite aber weit darüber hinaus geht; [iii] muss gesehen werden, dass beide Aspekte zusammen in ihrer Widersprüchlichkeit sowohl enorme Gefahren für das Sozialwesen und die soziale Sicherung darstellen als auch Chancen für einen grundlegenden Systemwandel eröffnen.
Die sog. Sharing Economy stellt – auch wenn man sich auf ein weites Verständnis einlässt1 – einen relativ geringen Anteil an der Gesamtwirtschaft dar. Etwas anderes ist in quantitativer Hinsicht allerdings relevant: erstens findet eine hochgradige Konzentration und Zentralisierung statt – Teil dessen ist auch die indirekte Unterordnung und Eingliederung von Unternehmen mit bis dato durchaus relevanter Kapitalgrösse;2 zweitens handelt es sich in enger und weiter Fassung um einen Bereich mit außerordentlich hohen Wachstumsraten; schließlich muss gesehen werden, dass wir es mit einer weiteren sektoralen Verschiebung zu tun haben: die Bereiche, die hier im Zentrum stehen, sind nahezu alle Teil der Dienstleistungs- und Finanzwirtschaft.
Hier allerdings beginnt ein Thema, welches meist unberücksichtigt bleibt, denn die Lage der unmittelbar mit der Erbringung der Leistung Beschäftigten – oftmals unterbezahlt und prekär – und damit das ‚ausbeuterische Verhalten’ der ‚Arbeitgeber’, sind nur ein Aspekt. Ein anderer zentraler Aspekt besteht in der Veränderung der gesamtgesellschaftlichen und betrieblichen Kapitalstruktur. Relevante Bezugsgröße ist die grundlegende Unterteilung in variables (‚Arbeitskraft’ – v) und konstantes Kapital (‚Anlagen’ – c). Wichtig ist zudem, dass an der These von einem tendenziellen Fall der Profitrate festgehalten wird: Profitsteigerung als oberstes Ziel hat als paradoxen Nebeneffekt, dass die Profitrate sinkt: die Profitsumme ergibt mit Bezug auf die Gesamtinvestition die Profitrate. Diese spiegelt das Verhältnis von der überschüssigen zur notwendigen Arbeitszeit plus der ‚Produktionskosten’ wieder.
Zusammensetzung des Kapitals
Insgesamt wird von folgenden Tendenzen ausgegangen – der Bezug auf ‚Tendenzen’ bedeutet, dass wir es nicht mit einer linearen, widerspruchslosen Entwicklung zu tun haben:
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Verdienstleistung – zunehmend finden sich Aktivitäten im Dienstleistungssektor, dort in Bereichen mit geringem Bedarf an (c), d.h. wir haben es mit einem hohen und zunehmenden Anteil an (v) in der Perspektive des Einzelkapitals sowie in jener des gesellschaftlichen Gesamtkapitals zu tun, bei im Großen und Ganzen unverändertem Anteil von (c)
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Zunehmende Produktivität – mit einem abnehmenden Anteil von (v)
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in der Perspektive des Einzelkapitals sowie in jener des gesellschaftlichen Gesamtkapitals Reduktion von (v)
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erhöhte Ausbeutung (verschlechterte Arbeitsbedingungen, erhöhter Arbeitsdruck, verzögerte Lohnangleichungen, …)
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‚Auslagerung’ durch Sozialisierung (etwa sharing-, gig-Arbeiter, solo-Unternehmer …, die traditionelle Unternehmen entlasten; Sozialleistungen als notwendige Ergänzung bei geringen Einkommen …) – ein Sinken von (v) vor allem in einzelbetrieblicher Perspektive
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Privatisierung von ehemals öffentlichen Diensten und damit die extreme Spaltung zwischen ‚Diensten für die Massen und Diensten für die Bessergestellten’
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Verschlechterung der Produktqualität, etwa durch Massenproduktion – damit werden Produkte eher erschwinglicher und es findet sich indirekt eine Senkung von (v)
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zugleich Teil auch schneller Wandel von Produkten, moralischer Verschleiß und in gewisser Weise geringe Qualität der auf Austausch ausgerichteten Produktion – damit auch die ideologisch-ökonomische Orientierung auf ‚Befriedigung jetzt’.
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das Gesamtkapital in globaler Perspektive ist immer noch durch die Dominanz der Produktion von traditionellen Industriewaren sowie durch einen steigenden Anteil von (c) gegenüber (v) charakterisiert. Dies gilt auch in den sogenannten Schwellenländern, in denen sich die Tendenz zur Automatisierung, Digitalisierung und Robotisierung verstärkt.
Konkret bedeutet dies eine enorme Spaltung zwischen den Kapitalgruppen, die aber gerade nur durch das Zusammenspiel ein Überleben dieses Kapitalismus ermöglichen – freilich bedeutet dieses ‚Spiel’ für viele in einem bitteren Konkurrenzkampf schlicht das Überleben zu verteidigen. Vorgeschlagen wird, vor allem zwischen folgenden Gruppen zu unterscheiden:3
Traditionelle Industriepro-duktion |
IT-Produktion |
Produktionsbe-zogene Dienstleistungen |
Sonstige Dienstleistungen |
Familien- und Handwerksbetriebe | Solo-Unternehmer und gig-Unternehmer | Familien- und Kleinstbetriebe | Solo-Unternehmer und gig-Unternehmer |
KMU | Solo-Unternehmer und gig-Unternehmer | KMU | Abhängige Solo-Unternehmer [Lieferanten, uber-Fahrer, Gelegenheits-Airnbnb-Vermieter] |
Großunternehmen | Grossunternehmen, nicht zuletzt als Verflechtung [schein-]selbststständiger Einheiten | Grossunternehmen | Großunternehmen, nicht zuletzt als Verflechtung [schein-]selbststständiger Einheiten |
Überblick 1:
Durch diesen Überblick wird nicht zuletzt ermöglicht, ein differenzierteres Verständnis der einzelnen Bereiche und Unternehmen zu entwickeln.
Bedeutsam ist in einer solchen Perspektive die Neuordnung von Kapitalanlage- und Mobilisierungssphären mit zwei Hauptmomenten. Erstens eröffnen bestimmte Teil des infrage stehenden Sektors neue Anlagesphären – es ist zu bedenken, dass viele der Unternehmen als start-ups gegründet werden und trotz der hohen Börsen-Notifikation [für lange Zeit] nicht profitabel sind – im schlimmsten Fall bedeutet eine solche Investition also eine günstige Abschreibungsmöglichkeit. Bedeutend ist in diesem Zusammenhang auch, dass der ‚Gewinn’ solcher Investitionen nicht nur in direktem Profit besteht, sondern auch in der Tatsache, dass hier informations-technologische Neuerungen stattfinden und zugleich variables Kapital (v) besonders günstig mobilisiert wird – es bleibt extern und ist oftmals durch Selbstausbeutung gekennzeichnet. Zweitens findet umgekehrt eine Kapitalmobilisierung statt: neben dem relativ geringen Einsatz von Computern incl. software, Fahrrädern und anderen Fahrzeugen, Büroplatz etc. – zumindest gesamtgesellschaftlich eine riesige Kapitalsumme – ist hier die Mobilisierung durch Franchising zu nennen: schließlich wird auch hier ‚geteilt’: das ‚Konzept’ von Backwerk, Subway o.a. ist durchaus mit der ‚Uber-App’ vergleichbar und der jeweilige Bäcker, der die Backrohlinge nur noch in den Ofen schiebt, hat etwas von der Position des Fahrers etc.
Zentralität der ideologisch-ökonomischen Orientierung als Teil des Umbruchs
Es wurde bereits auf die Bedeutung der ideologisch-ökonomische Orientierung hingewiesen, die – wenngleich Überbau – essentiell für die Durchsetzung und das Funktionieren der neuen Kapitalstruktur ist. Diese ist essentiell Bestandteil des Gesamtprozesses, da die relevante Kapitalstrukturierung ganz wesentlich auch auf bestimmte Mechanismen angewiesen ist. Die Bedeutung ergibt sich schon daraus, dass nur so eine schnelle Umschlagzeit des Kapitals gesichert werden kann; dass eine urbane Lebensweise sich konstituiert, die schnelle Umschlagzeit ermöglicht, aber ebenso die neue Art des ‚Solo-Unternehmers’ erlaubt – der Einsatz etwa als Uber-Fahrer, foodora-Lieferant, dog-walker oder gig-Dienstleister, der ja oft auch mit einem Kapitaleinsatz verbunden ist,4 lohnt sich eben nur, wenn eine relevante Nachfrage zumindest potentiell auch vorhanden ist. Ein weiterer ideologisch-ökonomischer Faktor ist in der Sicherung einer engen Identifikation und Personalisierung zu sehen – dies bezieht sich auf die Identifikation des einzelnen Produzenten mit dem einzelnen Produkt, mit dem Unternehmen und ebenso bedeutet es eine Neu-Interpretation des Kunden: er wird als König vom Thron gestoßen und auf die Stufe einer Art Freund und Experte in eigenen Angelegenheiten erhoben. Das heißt auch: Selbstkontrolle und gegenseitige Überwachung werden zu einem internalisierten Muster. Und selbst weitergehend findet sich der Unternehmensanspruch, nicht schlicht Anbieter einer Dienstleistung zu sein, sondern ‚Teil und Bereitsteller eines Sozialraumes’. Branding5 – Gerade an diesem Beispiel zeigt sich in besonderem Maß, dass es nicht nur um Kapitalverflechtungen im traditionellen Sinn geht, sondern vor allem um Funktionskomplementaritäten.
Es ist davon auszugehen, dass eine Art Aushandlungs- oder Abwägungsprozess stattfindet, bei dem folgende Linien im Streit liegen:
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Qualität versus Quantität
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Massenproduktion/-konsum versus Nischen-Produktion/-Konsum
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Nachhaltige Entwicklung versus Orientierung auf windfall profits
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Kleinräumigkeit versus Globale Märkte
– die jeweilige ‚Marktposition’ ist oft mit der Kapitalordnung, wie sie am Ende des letzten Abschnittes aufgezeigt wurde, verbunden: es reicht einerseits vom Blumenhändler, der im Blumenstand übernachtet, aber möglicherweise in ein ‚Netz’ eingebunden ist6 bis hin zum CEO eines großen start-ups im ‚Valley’.
Oft handelt es sich um sehr widersprüchliche Muster auch gerade bei den Nutzern – so sind vielfach neue Trends der Ernährung, insbesondere die Reduzierung des Fleischkonsums, durchaus auch kritisch zu betrachten, denn zunächst bedeutet dies auch eine Verringerung der Kosten für Nahrungsmittel – ist damit auch ein Teil der Verringerung des Preises der Ware Arbeitskraft, zum anderen erhöht sich in der Folge die Konkurrenz in diesem Sektor, was dann nicht nur zu Preiserhöhungen führt, sondern schnell auch zu einem Schub der Massenproduktion mit der Folge erforderlicher Qualitätsreduktion und damit schließt sich dann der Kreis mit der Frage, wie denn gesunde Nahrungsmittel für alle bereitgestellt werden können.
Selbst hier entwickelt sich ein Paradox: die Massenproduktion eröffnet einen neuen Massenmarkt, namentlich den für Individualität. Der Solo-Unternehmer muss ebenso für die Selbstvermarktung sorgen wie jeder einzelne es täglich muss: Die Märkte für Ratgeberbücher, Selbstfindungs- und lifestyle-kurse sowie für ‚Schutz-Schalen’ für Mobiltelefone sind nur Beispiele dafür, wie aus dem Verkauf der ideologischen Peitsche auch noch Geld aus den Gepeitschten gepresst wird. Über allem weht ein Hauch von Sozialdarwinismus, denn behauptet wird, dass ‚(d)ie Zukunft (…) den Mutigen (gehört), sowie Erfolg den Tüchtigen vorbehalten ist. Backwerk bietet Ihnen dazu ein schlüsselfertiges und über Jahre erprobtes sowie erfolgreiches Geschäftsmodell.’7
Kapitalverwertung
Ein Teil der Entwicklung fußt in zumindest drei Momenten, die i.e.S. i Rahmen auch der traditionellen Wirtschaftswissenschaft immer wieder diskutiert werden:
Erstens, handelt es sich darum, dass Kapitalverwertung – scheinbar – nicht an Produktivität und nicht einmal an Produktion gebunden ist. Dies darf freilich nicht im Sinn der Entwicklung eines unabhängigen Finanzkapitals gesehen werden. Vielmehr geht es um die folgende widersprüchliche Entwicklung: Wenngleich die Profitrate gesunken ist, hat sich die Profitsumme enorm gesamtgesellschaftlich und zumindest oftmals einzelbetrieblich erhöht. So besteht zugleich die Suche nach Anlagemöglicheiten. Solche bieten sich in sog. ‚startups’: Neugründungen in Bereichen, die sich durch hohen Innovationscharakter, großes Risiko und schließlich außerordentliches Wachstumspotential auszeichnen. Aus Sicht des Anlagekapitals bedeutet dies zwar einerseits ebenfalls Risiko, andererseits aber in kapitaltheoretischer Sicht – eine Auslagerung des Risikos, denn (v) als variables Kapital wird schließlich nicht in ein normales Arbeitsverhältnis eingeordnet, sondern trägt den Groß-, weil existentiell bedeutsamen Teil des Risikos – oft in der Hoffnung, dann irgendwann durch den Investoren ‚eingegliedert’ zu werden. Das Investitionsrisiko ist oftmals in quantitativer Sicht gering. Zudem kann in vielen Fällen über Abschreibungen, Steuererleichterungen, staatliche Subventionen etc. der mögliche Verlust weiter begrenzt werden. Ebenfalls spielt die Zinspolitik hier oftmals eine Rolle, die solche ‚Risikoinvestitionen’ fördert.
Es ist in weitergehenden Arbeiten zu diesem Thema zu diskutieren, ob und in welchem Maß es gerechtfertigt ist, von einem Renten-Kapitalismus zu sprechen. Auf der Ebene der Investitionen kann wohl davon ausgegangen werden, dass es sich um eine Art pervertierten Keynesianismus handelt. Was ist unter Pervertierung zu verstehen? Keynes geht bekanntlich davon aus, dass auch unproduktive Wirtschaftsaktivitäten sinnvoll sind, soweit sie insgesamt zu einem Aufschwung führen und so auf einem Umweg den gesellschaftlichen Wohlstand fördern.8 Eine solche Belebung erfolgt – so vereinfacht die Annahme – durch nun wieder Nachfrage in verbundenen Bereichen,9 einsetzende Steuerannahmen von Seiten der Produzenten und Verbraucher und somit die Begründung eines neuen Kreislaufs von Nachfrage und Angebot. Hier allerdings liegt der Irrtum bzw. die Perversion: zwar finden sich auch hier vermehrte Wirtschaftsaktivitäten, aber an Stelle der positiven Einflüsse finden sich eher negative Konsequenzen: staatliche Subventionen bedeuten in diesem Fall zumeist Entzug von Mitteln für sicherere und nachhaltige Investitionen, versäumte Steuereinahmen durch Abschreibungen einerseits, durch das Entstehen von nicht-steuerpflichtigen Beschäftigungsverhältnissen etc. andererseits bedeuten im Grunde nichts anderes, als dass die positiven gesamtwirtschaftlichen Effekte, von denen Keynes ausging, rein privat angeeignet werden. In etwas verkürzter Form: ‚Privat-Eingriff als öffentliche Wirtschafts-Struktur-Politik, die Privat-Profite direkt an die Stelle von Steuereinnahmen setzt.’10 – Am ehesten ist diese Konstellation wohl nachvollziehbar, wenn man sich die Szene des Brunnenverkaufs aus dem Film Totòtruffa ’62 aus dem Jahr 1961 anschaut: Jemand erhebt unbegründet den Anspruch Besitzer eines der Meisterwerke der Brunnenarchitektur zu sein, verkauft diesen an einen Passanten, der mit Mühe die Investition tätigt, um so eine Einnahmequelle zu haben – der vermeintliche Verkäufer macht sich mit der Anzahlung aus dem Staube, während der ebenso vermeintliche Käufer für geistesgestört gehalten wird, als er die ihm angekündigten Einnahmen für sich beantragt.11
Zweitens, Marginalität im Konsum und der Distribution spielen ebenfalls eine tendenziell neue Rolle. Zum einen findet sich eine ‚Wende’: auch wenn die Produktion von Tauschwerten nach wie vor den Kern der kapitalistischen Profitgenerierung bildet, so gilt doch zugleich, dass Distribution und Austausch zunehmend zu einer tatsächlich dominanten ‚Wertquelle’ werden. Dies bedeutet, dass einerseits wert-theoretische Überlegungen neu durchdacht werden müssen – auf den ersten Blick bestätigt sich hier die bürgerliche Theorie, dass Wert durch engagierte Unternehmer mit Erfindergeist, Instinkt für gute Kapital-Anlagen und guten Vermarktungsstrategien geschaffen wird – ganz im Sinne auch der subjektiven Wertlehre. Der facettenreiche Gesamtbereich der Digitalisierung nimmt bei diesem nicht zuletzt auf Macht basiertem und auf Macht orientierten Kampf eine zentrale Rolle vor allem mit Blick auf die Verteilung von an anderer Stelle zu schaffenden Werten ein. Wieder stellt sich die Frage nach dem Renten-Kapitalismus und damit die Frage, ob es überhaupt noch gerechtfertigt ist, von Kapitalismus i.e.S. zu sprechen. Folgt man Marx und der bei ihm zu findenden Betonung des Merkmals eines Äquivalenten-Tauschs als einer Konstellation, bei der jede beteiligte Person mit der anderen zumindest formal in ein gleichberechtigtes Verhältnis tritt, so ist das heutige System davon weit entfernt: (i) der Wert der Ware Arbeitskraft ist nicht Maßstab der Aushandlung von Arbeitseinkommen; (ii) die Aushandlung ist zu einem ganz großen Teil ausdrücklich machtbasiert – die Ent-Gewerkschaftlichung, als Verbot der Organisierung durch sog. Arbeitgeber, aber auch als Ergebnis der Suche nach Einzellösungen zwischen den konkurrierenden Arbeitskräften, ist als herausragendes Beispiel zu nennen; (iii) in außerordentlichem Maß zunehmend ist die einzelbetriebliche Lohnfindung von gesellschaftlichen Leistungen, nicht zuletzt staatlichen Transferzahlungen abhängig; (iv) schließlich bedeutet dies auch, dass ein starker Druck auf den Wert der Ware Arbeitskraft ausgeübt wird, der zugleich aber in mancher Hinsicht durch verschiedene Scheinverbesserungen, nicht zuletzt die erhöhte Produktivität, teils durch verringerte Qualität erwirkt, aufgefangen wird. – Gerade für die kritische Diskussion in einer linken Perspektive ist dies bedeutsam: es gilt klar herauszuarbeiten, in welcher Weise es ein Zusammenspiel zwischen verschiedenen Mechanismen, den Anteil des variablen Kapitals (v) zu reduzieren, gibt: teils geht es um die Beeinflussung des Verhältnisses von (v) zu (c), d.h. dem ‚Anlagevermögen’; teils geht es schlicht um die Verringerung des Wertes von (v). Schnell wird dabei leider vergessen, dass etwa die Qualitätsverschlechterung bei bestimmten Produkten zum Teil auch bedeutet, dass bestimmte Produkte nun für weitere Kreise der Bevölkerung verfügbar sind, als dies zuvor der Fall war. Ebenso wird schnell dabei vergessen, dass Preise und Werte verschiedene Größen darstellen.
Drittens, die economies of scale nehmen gewisse neue Formen an: Ein mehr oder weniger geringer Kapitaleinsatz von (c) erlaubt es bereits in zweierlei Hinsicht, von einer ‚lohnende Investition’ zu sprechen: die Großanbieter, die mit der Bereitstellung der App nur eine Vermittlungsposition einnehmen, mobilisieren vornehmlich externes (v): von ihnen abhängig, aber nicht von ihnen bezahlt; die tatsächlich Arbeitenden müssen nur relativ geringe Investitionen in (c) vornehmen und gleichsam keinerlei Investitionen in (v), da … – es ist ja ‚Arbeit in die eigene Tasche’.
Mehr als eine Täuschung?
Die letzte Formulierung ist freilich folgenreicher, als dies auf den ersten Blick erscheint, denn das ‚in die eigene Tasche arbeiten’ hat ja einen Hauch von ‚in eigener Kontrolle’. Unter den gegenwärtigen Umständen ist diese Kontrolle eine fundamentale Fremd- und Selbsttäuschung, im besseren Fall besteht sie in nur faktisch sehr begrenzter Weise. Gleichwohl sollte man nicht übersehen, dass auch die andere Seite der Medaille Begrenzungen aufweist: Verwertungsgrenzen scheinen tendenziell erreicht. Zwar finden sich immer weitere Lücken für eine ursprüngliche Akkumulation, wie Rosa Luxemburg schon früh eindringlich klar gemacht hat und auch Joseph Schumpeter mit seinem Hinweis auf die Privatisierung der Luft verdeutlichte.12 Aber dies sind keine strukturellen Lösungen – und die strukturellen Lösungen, die sich derzeit finden, liegen eben außerhalb der kapitalistischen Wirtschaft i.e.S.: Selbst diese Formen der Akkumulation sind ja nicht zuletzt durch bestimmte Formen der Gewalt begründet. Die oft bemühte Diskussion um sinkende Marginalitätskosten13 hat sicher ihre Berechtigung, deckt aber nur einen Teil der Problematik ab. Wichtiger ist der insgesamt tatsächliche Fall der Profitrate, der Hand in Hand mit einer in verschiedener Weise begründeten enormen Konzentration der insgesamt wachsenden Profitsumme einhergeht. Das bedeutet, dass wir in einer Zeit permanenter Überproduktion nicht nur von Waren leben, sondern mehr noch in einer Zeit permanenter Überakkumulation von Kapital. Einer der wichtigen Widersprüche dieser Konstellation, der gerade auch für möglichen gesellschaftlichen bedeutsam ist, besteht darin, das es einen Überlebensdruck gibt, dessen Lösung nur darin bestehen kann, die Kosten dieser Überakkumulation tatsächlich wieder als realen Teil des Verwertungsprozesses anzuerkennen. Dies baut auf der Tatsache auf, dass wir zwar gesellschaftlich gesehen ein dramatisches Wachstum der Profitsumme zu erleben scheinen, dieses aber stark dadurch relativiert wird, dass Ungleichheit selbst unter jenen stark ausgeprägt ist, die nicht von Einkommen aus unselbstständiger Arbeit leben, sondern von Profit-Einkommen. Damit aber wird im Grunde zugleich die gesamte kapitalistische Struktur von neuer Seite infrage gestellt.
Ein Eindruck vom mehrfachen Druck
Ein Eindruck sei hier am Schluss gegeben – dies meint auch: eine eindrückliche Verdeutlichung des Gesamtzusammenhanges. Es handelt sich um ein persönliche Erfahrung des Autors – gemacht im August 2017: Ziel des Fußweges war die mehr oder weniger zentrale Geschäftsstelle einer Krankenkasse in einer größeren deutschen Stadt. Der Weg führte an den verschiedenen Geschäften der Ketten vorbei: einschließlich etwa Esprit,14 TK, Starbucks, Karstadt, H&M, s.Oliver,15 Victorinox, Subway, Zara, Primark, Nespresso, Manufactum, O2 – auch der ‚discounter’ Lidl, alle nun auch in den Zentren mehr oder weniger reicher Städte Deutschlands zu finden.
Vor dem Discounter kniet ein Bettler, im danebenliegenden Kaffee wird der Verkäufer der Straßenzeitung von der am Tresen stehenden Verkäuferin vertrieben, in der Geschäftsstelle der Krankenkasse wird die Summe des Versicherungsbetrages genannt – es handelt sich um mehr als 16% des Einkommens. Im Falle der Einkommenslosigkeit sind es immer noch um knapp 180 €. – Glücklich, wer da noch beim discounter kaufen kann oder gar auf andere Weise den Wert der eigenen Ware Arbeitskraft senken kann, etwa durch die Inanspruchnahme des Foodora- oder Uber-Dienstes, möglicherweise bei einem Urlaubsaufenthalt, erschwinglich durch den solo-Unternehmer, der als Pilot arbeitet und die Airbnb-reduzierten Unterkunftskosten – die letzte Warnung: spätestens wenn der Trevi-Brunnen oder Ähnliches zum Verkauf angeboten wird,1 sollte man sich fragen, ob die Grenzen nicht wirklich überschritten sind. – Déjà vu, das letzte Geschäft, welches ich nun auf dem Rückweg sehe – wohl Zufall, ebenso Zufall, wie die aufschimmernde Erinnerung an einen Platz in Rom, den ich vor einigen Jahren überquerte – selbst im Zentrum des katholischen Wohlgefallens ist bekannt, dass Wohlfahrt in der Konkurrenzgesellschaft Grenzen hat.
Ein Beitrag von Peter Herrmann, er lehrt als Sozialphilosoph in Rom. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac.
1 Vom Teilverkauf in der Form von Besichtigungskosten, gig-sightseeing-tours etc. abgesehen.
1 In einem Artikel in der Sozialwirtschaft 3/2017 werden beispielsweise Airnbnb, Amazon, Uber, Ebay oder die App-Stores von Apple oder Google als ‚Beispiele für digitale Plattformen, die sich an Privatkunden richten’ und damit als Teilnehmer auf einem ‚digitalen Marktplatz’ genannt. (Dokumentation: Digitale Marktplätze; in: Sozialwirtschaft 3/2017: 15 – DOI: 10.5771/1613-0707-2017-3-15)
2 etwa der Verkauf von Rossmann-Produkten nun über Amazon, was einen Durchbruch von Amazon in eine neue Branche bedeutet – s. Kläsgen, Michael, 11.8.2017: In der Amazon-Welt; in: Süddeutsche Zeitung, 184: 4
3 Wichtig wäre letztlich auch, den Landwirtschaftsbereich einzubeziehen
4 Computer, einschließlich software; Fahrzeug …
5 branding ist das magische Konzept, welches apple beispielsweise mit systematischer Überlegung und Riesensummen entwickelt; https://www.linkedin.com/pulse/why-apples-new-in-store-experience-aims-fuel-everyone-angela-ahrendts?trk=eml-email_feed_ecosystem_digest_01-hero-0-null&midToken=AQFLUeWuvDYaxw&fromEmail=fromEmail&ut=0bFCcTQnCmfnM1; https://youtu.be/m2OvsePTP_I ; 18.08.17
6 Fleurop sollte durchaus als Teil der sharing-economy angesehen werden, denn es ist ja ein Blumenhändler ohne eigenen Blumenladen, weitaus größer und bedeutsamer, als die meisten der ‚teilnehmenden’ Blumenhändler
7 https://www.back-werk.de/franchise/; 18.08.2017
8 In seinem Buch Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (Übersetzung Fritz Waeger, Duncker & Humblot, München/Leipzig 1936) plädiert Keynes dafür, dass es unter Umständen sinnvoll ist, mit Geld gefüllte Flaschen zu vergraben und damit Wege zu einer privatunternehmerischen zu öffnen, namentlich die Flaschen wieder auszugraben. – Hier soll nicht diskutiert werden, ob denn die dahinterstehende Orientierung auf permanentes Wachstum sinnvoll ist.
9 Auch für das sinnlose Flaschenvergraben werden zumindest Schaufeln benötigt.
10 Freilich darf man dabei nicht übersehen, dass es nur teils um etwas grundsätzlich Neues geht, das derzeitige Ausmaß aber wohl erlaubt, von einem qualitativen Sprung zu sprechen.
11 https://youtu.be/_FbT7-TZAcI; 18.08.2017
12 ‘The conquest of the air may well be more important than the conquest of India was—we must not confuse geographical frontiers with economic ones.’ (Schumpeter, Josef A., 1943: Capitalism, Socialism, and Democracy; Introduction by Richard Swedberg; George Allen & Unwin [Publishers] Ltd 1976; Taylor & Francis e-Library, 2003: 117)
13 e.g Paul Mason, Jeremery Riffkin
14 Ja, es ist ein bemerkenswerter Geist, der da über allem schwebt. Und wie Namen, Images und Design eine immer prägendere Rolle spielt, was unter anderem durch Halbbildung ermöglicht wird.
15 Es fehlt nur das an das S angehängte t um dem Ganzen etwas Heiligkeit zu anzuhängen.