In den vergangenen Jahren wurde die deutsche Asylgesetzgebung verschärft, dadurch wurde neue Staaten zu sogenannten sicheren Herkunftsländern und Afghanistan, zu einem Land, in das abgeschoben werden darf. Diese Verschärfungen wurden auch mit Hilfe der grünen Landesregierungen durchgesetzt, die hessische Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk ist deswegen aus der Grünen Fraktion ausgetreten und soll nun aus der Partei ausgeschlossen werden. Wir haben mit ihr über Asylrechtsverschärfungen, die Rolle der Grünen und Abschiebungen nach Afghanistan gesprochen.
Die Freiheitsliebe: Im vergangenen Jahr bist du aus der grünen Landtagsfraktion in Hessen ausgetreten, wie kam es dazu?
Mürvet Öztürk: Ich bin aus der grünen Landtagsfraktion ausgetreten, weil es mit meinem Gewissen nicht vereinbar ist, dass mit grünen Stimmen aus Hessen die Asylrechtsverschärfung im Bundesrat beschlossen worden ist. Die Balkan-Staaten sind zu sicheren Herkunftsländern eingestuft worden, und damit wurde das faktische Asylrecht für Geflüchtete aus dem Balkan abgeschafft bzw. Wir GRÜNE waren immer gegen die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, weil dies eine politische Bewertung von eigentlich unsicheren Ländern bedeutet, nur um abgelehnte Asylbewerber leichter abschieben zu können. Statt dieser restriktiven Asylpolitik der 90er Jahre habe wir jahrelang für eine progressive Asyl- und Flüchtlingspolitik gekämpft, die auch jenen Menschen eine Bleibeperspektive geben sollte, die man als sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ disqualifiziert. In dieser Asylrechtsverschärfung wurde eine politische Spaltung von Geflüchteten mit „guter und schlechter“ Bleibeperspektive konstruiert und damit bei der Bevölkerung die Unsicherheit weiter verstärkt. Dies war für mich politisch nicht tragbar. Die Konsequenz dessen für mich war, auszutreten.
Die Freiheitsliebe: Du kritisiert vor allem die Asylrechtsverschärfung, hätte man dafür die Koalition riskieren sollen?
Mürvet Öztürk: Ich habe nicht in den Koalitionsrunden zwischen GRÜNE und CDU in Hessen gesessen und kann daher nicht beurteilen, wie die internen Diskussion gelaufen sind und ob die Ablehnung der Asylrechtsverschärfung ein tatsächlichen Koalitionsbruch bedeutet hätte. Ich denke, wenn der eine Koalitionspartner dem anderen signalisiert, dass eine Asylrechtsverschärfung für sie der Bruch mit ihren Grundwerten und ihrer Identität ist, dann hätte man den Koalitionspartner überzeugen können. Wenn dem nicht so gewesen ist, dann ist es eh der falsche Koalitionspartner. Es bringt ja nichts, wenn zu Beginn der schwarz-grünen Koalition gesagt wird, beide Parteien sollen ihre Identität bewahren können und im Falle der Asylpolitik geben die Grünen ohne wenn und aber nach. Das ist nicht schlüssig für mich. Das würde im Umkehrschluss bedeuteten, entweder gehört dieser Punkt nicht mehr zur grünen Identität in Hessen und daher brauchte der Koalitionspartner darauf keine Rücksicht zu nehmen? Oder der Koalitionspartner – die CDU war nicht ehrlich, als sie zu Beginn der Koalition gesagt hat, beide Seiten sollten ihrer Kernidentität treu bleiben können? Für mich war die Beantwortung dieser Frage nicht mehr möglich. Ich war an dem Punkt, an dem ich entscheiden musste, ob ich der Koalitionsraison folge oder meinem Gewissen. Ich habe mich für mein Gewissen entschieden, denn mit mir und meinem Gewissen möchte und muss ich länger leben als mit einer politischen Koalition. Mit dem Koalitionspartner lebt man hingegen nur eine Legislaturperiode – wenn man unglaubwürdig wird als Politikerin, dann bleibt es auch bei diesen fünf Jahren und danach wählt dich niemand mehr.
Die Freiheitsliebe: Wie siehst du die Asylpolitik der letzten Jahre?
Mürvet Öztürk: Die Asylpolitik der letzten Jahre war eine Achterbahn. In den 90er Jahren war sie sehr restriktiv und Asylbewerber oder auch Flüchtlinge wurden eher als eine politische „Last“
wahrgenommen, statt die humanitäre Aufgabe in den Vordergrund zu stellen. Daher war ich mit der Änderung des Artikel 16 im GG nicht einverstanden. Damals wurde schon signalisiert, das „Boot ist voll“ um die Grenzen der Aufnahmefähigkeit zu beteuern. Doch für mich ist klar, wenn es Kriege gibt und wir als Europa und auch Deutschland mit unseren Waffenlieferungen an diesen Kriegen direkt oder indirekt beteiligt sind, dann schaffen wir mit unserer Politik Fluchtursachen. Wenn Menschen aus ihrer Heimat flüchten, dann haben wir eine humanitäre und auch moralische Verantwortung, diesen Menschen Schutz zu gewähren. Daher war ich sehr froh drüber, dass in den letzten zwei Jahren eine sehr offene und positive Stimmung in Sachen humanitäre Aufnahme herrschte. Im Falle Syriens war die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung sehr hoch und viele haben ehrenamtlich geholfen, den Geflüchteten ein neues zu Hause zu bieten. Dies war für die Politik im LINKEN Spektrum ein Fundus, den wir hätten gut in gesellschaftliche Konzepte des friedlichen Zusammenlebens umsetzen können. Dies positive und konstruktive Stimmung ist von rechten Gruppen und Populisten vehement angegriffen worden. Die etablierte Politik im konservativen Spektrum hat statt die positiven Stimmen zu stärken, wieder einmal den populistischen Parolen nachgegeben und ist diesen gefolgt. Heute versucht die Bundesregierung mit einer restriktiven Asylpolitik, mit Kettenduldungen und Sammelabschiebungen, dieses rechtskonservative Lager zu bedienen. Das ist politisch ein sehr riskantes Vorgehen, denn damit vergiftet man das Klima noch mehr. Statt jene zu stärken, die für einen Zusammenhalt der Gesellschaft kämpfen, setzen sich leider die Spalter und Angstmacher immer mehr durch. Die Asylrechtsverschärfung aus 2015 und die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer auf den Balkan waren definitiv falsch. Sollten die Maghreb-Staaten auch zu sicheren Herkunftsländern eingestuft werden oder nun die Abschiebungen nach Afghanistan, dann ist es Zeit, dass man gegen diese Politik aufsteht und auf der Straße protestiert. Denn hier geht es um unsere Werte der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Humanität, die rechte Angstmacher zu diskreditieren drohen. Wenn wir Menschen in unsichere Länder abschieben oder diese politisch pauschal zu sicher erklären, verraten wir unsere Werte ebenfalls.
Die Freiheitsliebe: In Hessen finden dieser Tage die ersten Abschiebungen nach Afghanistan statt, kannst du das nachvollziehen, wieso wurde dein Antrag diese auszusetzen, abgelehnt?
Mürvet Öztürk: Für mich ist mit der Abschiebung nach Afghanistan unter Beteiligung der Hessischen Landesregierung erneut eine Kernidentität der GRÜNEN preisgegeben worden. Die Asylrechtsverschärfung war die erste Überschreitung der Roten Linie, die für mich die Konsequenz hatte aus der Fraktion auszutreten. Die Abschiebung nach Afghanistan ist die zweite Überschreitung der Roten Linie der GRÜNEN Grundsätze. Ein genereller Abschiebestopp nach Afghanistan bei der immer unsicher werdenden Lage, wie diese momentan dort herrscht, ist die eigentliche Position der Grünen. Warum der Antrag der Linken im Hessischen Landtag, der genau diese grüne Position wiedergibt, am Mittwoch abgelehnt wurde, erschließt sich mir nicht.
Die Freiheitsliebe: Die Debatte um Abschiebung dreht sich häufig nur um die Zahl, nicht um die Frage, ob man überhaupt abschieben sollte oder nicht, wie stehst du dazu?
Mürvet Öztürk: Ich finde Zwangsrückführungen unmenschlich und politisch aber auch menschlich nicht tragbar. Es ist wichtig, dass eine freiwillige Rückkehr das politische Ziel bleibt und mit den Betroffenen besprochen wird. Die Gründe der Betroffenen müssen in die Entscheidungsgrundlage mit einfließen. Es gibt oftmals gute Gründe warum Menschen in ihre alte Heimat zurückkehren oder auch nicht zurückkehren möchten. Diese Gründe können unterschiedlicher Natur sein und müssen in die Entscheidung der Behörden und der Gesetzgeber einfließen. Die restriktive Abschiebung von Menschen finde ich nicht richtig. Eine Ausnahme möchte ich jedoch machen, und die wäre bei Personen, die mehrfach schwere Straftaten begangen haben und erst seit kurzem in Deutschland leben.
Die Freiheitsliebe: Die Grünen bereiten grade einen Ausschluss gegen dich vor, weil du häufig mit der Linken stimmst, siehst du dich inzwischen näher an der Linken als bei den Grünen?
Mürvet Öztürk: Mir ist die Sachpolitik wichtig und der Kampf für Menschenrechte, Teilhabe von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Wurzeln. Es geht mir um demokratische Prozesse, um Veränderung und Gestaltung unserer vielfältigen Gesellschaft. Parteien sind für mich nicht das Ziel sondern sie sind der Weg zum Ziel. Es ist wichtig, dass Parteien in schwierigen Lage sind, zu reflektieren und kritische Diskussionen zuzulassen. Parteien, die eine innerparteiliche Demokratie nicht aushalten, werden an der Starre ihrer Strukturen scheitern. Von daher geht es mir in meiner politischen Arbeit in erster Linie um Beteiligung der Menschen am politischen Prozess, um Mitgestaltung und offene Diskussion damit wir zu einer friedlichen, gerechten und demokratischen Gesellschaft werden.
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.