Die Freiheitsliebe im Gespräch mit dem belgischen Gewerkschafter und Abgeordneten im Europäischen Parlament, Rudi Kennes.
Rudi, du bist Opelaner und seit ein einigen Wochen Abgeordneter des Europäischen Parlamentes. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise gibt es nicht viele Arbeiter in den Parlamenten. Wie kommt also ein Arbeiter der Automoilbranche ins Parlament?
Mein Mutter war Kommunistin, mein Vater Sozialdemokrat – ich bin also politisch groß geworden in der belgischen Sozialdemokratie. Aber als die in Antwerpen mit den flämischen Rechtsnationalisten gemeinsame Sache machten, habe ich mich von ihr verabschiedet. Damals arbeitete für unseren Nationalpräsidenten der ABVV, der sozialistischen Gewerkschaft, und ich habe mit den Kolleginnen und Kollegen gegen Rechtsnationalismus gearbeitet. Weiterhin Mitglied dieser Partei zu sein, war für mich ausgeschlossen. So stieß ich zur Partei der Arbeit (PTB). Da ich bei Opel über viele Jahre stellvertretender Vorsitzender des Eurobetriebsrates war, hat mich meine Partei irgendwann gefragt, ob ich Spitzenkandidat werden möchte. Eine unserer großen Ziel ist es, Arbeiter ins Parlament zu bringen. Warum? Weil sie Storytelling betreiben und ihre Erfahrungen in die Parlamentsarbeit einbringen. Damit wollen wir die Perspektive aus der Welt der Arbeit in den Parlamenten stärken. Aus meiner Sicht ist das eine der ganz großen Stärken meiner Partei.
Das heißt, du siehst dir gar nicht als Abgeordneter, sondern als Gewerkschafter im Europaparlament?
Ja, klar. Ich sehen die Arbeit als Fortsetzung meiner Arbeit in den europäischen Gewerkschaften. Und ich kann glücklicherweise noch immer auf die Netzwerke von damals zurückgreifen. Auch wenn es schon 15 Jahre her ist, dass mein Werk geschlossen wurde, bestehen die Kontakte fort und ich arbeite noch immer mit einigen der Kolleginnen und Kollegen von damals aus Spanien, England oder anderswo eng und respektvoll zusammen, auch wenn viele von uns inzwischen andere Positionen besetzen. Unser Anspruch ist es, der Arbeiterklasse eine Stimme im Parlament zu geben – den Gewerkschaften und den sozialen Organisationen.
Versteht ihr euch auch als Bollwerk gegen den drohenden Aufstieg des Faschismus?
Ich glaube, die einzige Strategie gegen die autoritäre Rechte sind die Gewerkschaften. Wir sind die letzte Reihe – wenn es ihnen gelingt, uns zu brechen, dann ist der Weg zur Machtübernahme frei. Solange die Gewerkschaften da sind, kann man die Arbeiterklasse nicht brechen.
Und wie schaust du auf den Rechtsruck, der sich bei den Eurowahlen gerade abgebildet hat?
Der Schaden ist glücklicherweise nicht so groß wie wir befürchtet hatten. Wir sind von Schlimmerem ausgegangen. Und im Unterschied zu weiten Teilen Europas gewinnt die belgische Linke kontinuierlich an Zustimmung. In meiner Heimatstadt Antwerpen haben wir 22 Prozent bekommen. Die PTB wächst, sie wächst fast ein bisschen zu schnell.
In Deutschland haben 34 Prozent der Arbeiter die AfD gewählt, nur noch drei Prozent Die Linke. Was macht die PTB anders als die anderen Linksparteien?
Wir haben weder die Wahrheit gepachtet, noch wollen wir den Eindruck erwecken, als wüssten wir es besser als alle anderen. Deshalb vielleicht nur ein Gedanke: Ich war im letzten Jahr einige Male bei den Streikposten der Amazon-Beschäftigten in Bremen und Hamburg. Als ich dort erklärte, wo ich herkommen und wie wir arbeiten, sagten einige der Kollegen: so eine Partei brauchen wir in Deutschland auch.
Was hast du ihnen erzählt?
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir nicht über die Menschen reden, sondern mit ihnen. Als wir beispielsweise im Wahlkampf vor den Betrieben in Antwerpen Flyer verteilten, gab es ein großes Interesse. Warum? Weil wir nicht nur im Wahlkampf dort stehen und Material verteilen, wir sind immer da. Diese kontinuierliche Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und die regelmäßigen Torverteilungen schaffen Verankerung und machen uns stark.
Mit welchen Strukturen stellt ihr die Gewerkschaftsorientierung der Partei sicher? Leistet sich die PTB eine Abteilung Gewerkschaftspolitik?
Ja, natürlich. Diese Abteilung nennt sich „Welt der Arbeit“. Ich weiß nicht wieviele da arbeiten, aber es ist mehr als eine Person. Es gibt Koordinatoren und Zuständigkeiten für den französischen und für den flämischen Teil. Außerdem ziehen wir unsere Stärke nicht aus der bevorzugten Zusammenarbeit mit nur einer Gewerkschaft, wir arbeiten mit allen zusammen, egal ob sozialistisch, christlich oder liberal. Die Arbeiterklasse ist eins.
Wenn ich es noch richtig im Kopf habe, dann fragt ihr die Neumitglieder, ob sie im Stadtteil oder im Betrieb aktiv werden wollen? Was versprecht ihr euch davon?
Ich kann natürlich nicht für die gesamte Partei reden, aber in meiner Region verpflichten wir niemanden zu allem gleichzeitig: Du musst Hausbesuche machen! Du musst vor den Betrieben stehen! Du musst dies oder jenes! Stattdessen fragen wir, was machst du gerne. Dahinter steht die Erfahrung, dass man das auch macht, was man gerne macht. Und man macht es gut. Das habe ich schon in der Gewerkschaft so gemacht. Neu gewählten Funktionären habe ich nie gesagt, das sie dies oder jenes tun sollten. Stattdessen habe ich gefragt, was sie gerne machen, und sie haben selber entscheiden.
Und wo steht die extreme Rechte? Wieviel Prozent hat Flaamse Belang?
Derzeit 25 Prozent.
Sie sind also auch relativ stark…
Ja, aber wir sehen jetzt, dass sie geschlagen werden können. Sie haben beispielsweise in Antwerpen fünf Prozent verloren. Dafür ist die PTB zweitstärkste Kraft. Bei der letzten Wahl gingen die Proteststimmen zu Flaamse Belang. Das hat sich inzwischen geändert. In meinem Betrieb waren 99,4 Prozent der Mitarbeiter gewerkschaftlich organisiert. Jeder war Mitglied. Aber bei den Wahlen hat trotzdem jeder Vierte die Faschisten gewählt.
Wie hat sich das geändert?
Ich habe mit vielen Kolleginnen und Kollegen gesprochen. Mein Eindruck war, dass sie nicht alle Rassisten oder Rechtsextremisten sind. Aber sie haben das Gefühl, im Stich gelassen werden. Vor gar nicht mal so langer Zeit, sind die Bürgermeister noch ein- oder zweimal in der Woche in der Kneipe gegangen, um mit den Menschen zu sprechen. Das war das Netzwerk des kleinen Mannes, um seine Meinung über das eine oder andere politische Projekt zu sagen. Inzwischen erleben wir, dass die Gewerkschaften, die Krankenkassen, alle diejenigen, die Dienstleistungen anbieten, auf digitale Kommunikation umstellen und damit einen Teil der Menschen von der Kommunikation ausschließen.
Und das befördert die Entfremdung weiter, oder?
Ja. Genau. Viele fühlen sich im Stich gelassen. Einen Parlamentarier zu treffen, ist schwieriger als eine Audienz beim Papst zu bekommen. Auch das macht die PTB übrigens anders. Wir sitzen im Parlament nur für Abstimmungen. Alles andere findet auf der Straße und in den Betrieben statt. Und in den sozialen Netzwerken. Hinzu kommt, dass wir Parlamentarier die Abgeordnetendiäten bis auf einen Betrag von 2.500 Euro abgeben. Der Rest geht in einen Sozialfond.
Das ist bei der KPÖ ähnlich. Was finanziert ihr daraus?
Wir finanzieren daraus unterschiedliche soziale Projekte. Außerdem organisieren wir die „Ärzte fürs Volk“. Sie stellen sicher, dass die Menschen medizinische Hilfe in Anspruch nehmen können, ohne dafür bezahlen zu müssen. Auch als die Hochwasserkatastrophe in Belgien große Schäden anrichtete, war die PTB mit ihren Solidaritäts-Teams vor Ort war. Wir waren die ersten im Flutgebiet.
Was genau habt ihr da gemacht?
Alles. Dämmung und Sandsäcke stapeln. Hinterher aufräumen und den Wiederaufbau unterstützen. Das Geld dafür kam aus dem Sozialfonds. Und als sich wenig später in der Region Antwerpen eine Gasexplosion ereignete, kamen die Menschen aus Wallonien, denen wir in der Flutkatastrophe geholfen hatten, vorbei, um zu unterstützen. Diese Erfahrung ist unbezahlbar. Hinzu kommt natürlich auch, dass der Parteiaufbau Geld kostet. Wenn die Medien dich boykottieren, musst du deine eigenen Medien schaffen und auch so Formate wie Tiktok nutzen.
Das heißt, über diesen Weg ist es der PTB gelungen, sich stärker in der Bevölkerung zu verankern?
Es sieht ganz danach aus. Als wir vor fünf Jahren an die Türen der Menschen klopften und sagten, wir sind von der Partei der Arbeit, da mussten wir erstmal zehn Minuten lang erklären, wer wir sind. Jetzt erleben wir, dass sie Partei wächst und dadurch bekannter wird. Allein unser Jugendverband Red Fox hat in nur einem Jahr 3.000 neue Mitglieder bekommen.
Wie wichtig ist für dich als Arbeiter das Thema Frieden?
Sehr wichtig. Frieden ist Sicherheit für jeden. Soldaten sind Arbeiter in Uniform. Sie kennen einander nicht, sollen aber aufeinander schießen für Menschen, die einander sehr gut kennen, aber sich nie auf dem Schlachtfeld begegnen werden. Wir Arbeiter sind im Krieg immer die Verlierer.
Spielt das Thema Frieden für die PTB eine Rolle?
Wir sind die Einzigen, für die es eine Rolle spielt.
Und diskutiert ihr das mit den Kollegen in den Betrieben?
Klar. Dabei kritisieren wir vor allem die Doppelmoral. Beim Genozid in Gaza wird weggeschaut, aber in Bezug auf die Ukraine werden wir als Putinfreunde verunglimpft. Ausgerechnet wir. Während 20 Jahre lang Russland ein beliebter Geschäftspartner war, haben wir immer kritisiert, dass die Regierung die Interessen der Oligarchen bedienen würde. Also unsere Hände sind sauber. Die der anderen nicht.
Und wie steht es um euer Verhältnis zur NATO?
Die PTB ist die einzige Partei, die den Austritt aus der NATO befürwortet. Wir lehnen auch eine europäische Armee ab. Wir wollen zwar mehr europäische Zusammenarbeit, aber nicht mehr Militarisierung. Unsere Bevölkerung muss geschützt werden, aber unter der Fahne der Vereinten Nation, nicht der USA. Und wir wollen, dass beim Militär eingespart wird. Man kann Streitkräfte zusammenlegen. Braucht jedes Land eine eigene Marine, eine eigene Luftabwehr – wir wollen eine Landesverteidigung, die auch den Namen verdient und nicht eine Angriffsarmee. Ein anderes Europa im Interesse der Arbeiterklasse ist möglich. Wir sagen, wenn die Suppe versalzen ist, sollte man kein Salz dazu gegen – aber das Gegenteil passiert.