Protest in Beirut

Massenproteste und die revolutionäre Linke im Libanon – Im Gespräch mit Farah Kobaissy

Über den Libanon wird in Deutschland eigentlich nur berichtet, wenn es zum Krieg kommt oder keine Regierungsbildung möglich ist. Abseits der europäischen Medien fanden daher in den letzten Jahren große Demonstrationen gegen Armut, Korruption und Verwahrlosung statt. Wir sprachen mit Farah Kobaissy, Mitglied des Sozialistischen Forums im Libanon, über die Protestbewegung „Ihr stinkt“, die arabische Revolution und Le Pens Besuch in Beirut.

Die Freiheitsliebe: In den letzten zwei Jahren gab es große Massendemonstrationen im Libanon mit zehntausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ausgelöst durch die ökologische Kampagne „Ihr stinkt“. Werktätige waren daran beteiligt und haben die Protestbewegung auf soziale Kämpfe ausgeweitet. Wie entwickelte sich die Bewegung, welche politischen Plattformen waren darin involviert und was hat sie bereits erreicht?

Farah Kobaissy: Die Bewegung begann als eine Reaktion auf das staatliche Versagen das vermehrte Aufkommen von Müll zu entsorgen. Die Kampagne „Ihr stinkt“ wurde durch zivilgesellschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten organisiert, die in sozialen Medien stark präsent waren und eine ökologische Lösung der Müllkrise forderten. Der Aufruf zu den Protesten fand Widerhall in der allgemeinen Öffentlichkeit, die auf die Straße zog um die Korruption der Verantwortlichen anzuprangern. Als der Staat auf die Demonstrierenden am 29. August 2015 mit massiver Polizeigewalt reagierte, schlossen sich größere Zahlen von Demonstrierenden aus den ärmeren Vierteln in Beirut und den Außenbezirken der Bewegung an. Die Bewegung erhob eine Reihe neuer Forderungen, den Rücktritt des Umweltministers und des Innenministers, der für die Polizeigewalt verantwortlich gemacht wurde. Schließlich wurde der Rücktritt der gesamten Regierung gefordert und Stimmen wurden laut, die sich gegen das gesamte sektiererische Regime richteten. Die Bewegung mobilisierte Menschen aus den verschiedensten sozialen Klassen, darunter Jugendliche aus marginalisierten Gegenden. Mit der Zunahme der Zahl der Demonstrierenden konfrontiert, standen die Organisierenden, die verschiedenen politischen und ideologischen Orientierungen zugehörig sind, vor einem Dilemma. Statt die Bewegung und die Forderungen weiterzuentwickeln, entschieden sich die politischen Kräfte die Bewegung zu unterminieren und ihren eigenen Agenden anzupassen. Das ist das grundsätzliche Problem, das zur Spaltung und Fragmentierung des aufstrebenden Organisationskomitees der Protestbewegung führte. Die Spaltung ist politischer Art. Die beiden Strömungen, die über die Führung der Bewegung kämpften, war einerseits die populistische Linke, die mit einem Teil der herrschenden politischen Elite (die Bewegung des 8. März, im Wesentlichen Hisbollah) ihren Frieden gemacht hat, diese wird von der Front badna nhaseb („Wir verlangen Rechenschaft“) repräsentiert, und andererseits einer reformistischen Strömung, die auf der Behauptung der Unmöglichkeit eines radikalen Wandels basiert. Letztere Strömung wurde hauptsächlich durch die Kampagne „Ihr stinkt“ repräsentiert. Es gab verschiedene Gründe für die Schwächung der Protestbewegung, die langsam und schrittweise abebbte: Die politische Spaltung zwischen den Organisierenden, die massive Polizeigewalt der Regierung gegen die Demonstrierenden, die Militärtribunale, die diese durchmachen mussten um ihr Demonstrationsrecht auszuüben, der Einsatz von Schlägern, die zu den herrschenden politischen Parteien gehören, um die Demonstrierenden zu terrorisieren, das gewissermaßen Nichtvorhandensein starker und verwurzelter linken politischer Parteien, die fähig wären, die Führungsrolle zu übernehmen und die Straßenmobilisierung gegen die Regierung zu gestalten, die scheinbare Abwesenheit von Organisationen der Arbeiterinnen- und Arbeiterklasse wie Gewerkschaften. Trotz der Schwächung der Protestbewegung glaube ich, dass die Bewegung „Ihr stinkt“ und andere Bewegungen, die im Libanon in den letzten zehn Jahren emporkamen, zu einer Atmosphäre des Kampfes beigetragen und den vollständigen Stillstand der Parteienlandschaft verhindert haben.

Die Freiheitsliebe: Welche Rolle hatten die Gewerkschaften genau? Gab es ökonomische Kämpfe, die die Protestbewegung begleiteten?

Farah Kobaissy: Die herrschende Elite hatte über die letzten Jahre Erfolg, die Militanz der Gewerkschaftsbewegung im Libanon auszubremsen und sie zu kontrollieren. Während der Protestbewegung 2015 spielten die Gewerkschaften keine signifikante Rolle.

Die Freiheitsliebe: Werktätige Menschen führten von anderen arabischen Revolutionen bekannte Slogans wie ash-shaab yurid i’sqat an-niz’am („Das Volk will den Sturz des Regimes“) in die Protestbewegung ein, was sich gegen das sektiererische politische System im Libanon richtet. Welche Plattform hat die radikale Linke unterstützt?

Sozialistisches Forum – Quelle: Socialistworker.co.uk

Farah Kobaissy: Der Slogan „Die Volk will den Sturz des Regimes“ wurde zuerst im Zusammenhang der arabischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten laut. Das erste Mal, dass er im Libanon auftauchte, war während der Bewegung gegen das sektiererische Regime 2011, die ebenfalls tausende Menschen auf der Straße mobilisierte. Diese Bewegung wurde durch die Mobilisierung der Massen in der Region inspiriert. Viele Aktivistinnen und Aktivisten haben seitdem diesen Slogan nicht aufgegeben, selbst infolge der Konterrevolutionen in der Region, die die alten Regime zurück an die Macht brachte. Die libanesischen Bewegungen von 2011 und 2015 haben tausende junger Menschen im Libanon radikalisiert. Die radikale Linke im Libanon, mehr denn je, ist heute fähig eine wachsende Zielgruppe für ihre politischen Positionen und Ideen zu erreichen. Während der Protestbewegung 2015 waren wir beteiligt in der Organisierung einer Allianz, die sich ash-shaab yurid „Das Volk will“ nannte und feministische und linke Gruppen von Studierenden mit einschloss. Die Allianz kämpft dafür einen radikalen linken politischen Diskurs und eine Agenda voranzutreiben.

Die Freiheitsliebe: Wie bezog sich die libanesische Protestbewegung auf die arabischen Revolutionen?

Farah Kobaissy: Die Dynamik der libanesischen Protestbewegungen seit 2011, mit ihrem Auf und Ab, wurde durch die regionalen Entwicklungen beeinflusst. Die Revolutionen brachten Hoffnung, dass ein Wandel auch im Libanon möglich ist. Die Bewegung von 2011 bekundete ihre Solidarität mit den sozialen Kämpfen der Menschen in der Region. Mit dem Beginn der syrischen Revolution wurde die politische Spaltung zwischen Aktivistinnen und Aktivisten und unterhalb der Linken deutlicher. Die traditionelle Linke hat sich mit dem syrischen Regime und dessen libanesische und regionalen Bündnispartnern verbündet. Die radikale Linke dagegen steht auf der Seite der Revolution des syrischen Volkes, gegen das Regime und dessen Verbündete. Die syrische Revolution wurde zu einer bedeutenden Trennungslinie, die bis heute Bestand hat.

Die Freiheitsliebe: Die traditionelle Linke hat in der Region durch ihre Volksfrontpolitik lange Zeit keinen großen Einfluss gehabt. Wie schätzt Du die Strategie der traditionellen Linken, die Libanesische Kommunistische Partei, und der Nasseristischen Volkspartei heute ein?

Farah Kobaissy: Die Libanesische Kommunistische Partei und die Nasseristen haben seit dem Ende des Bürgerkriegs im Libanon viel an Terrain verloren und wurden über die Jahre immer unpopulärer, gerade weil sie kein unabhängiges linkes Projekt, um das sich die Leute sammeln könnten, anzubieten haben. Im Gegenteil, sie waren und sind mit einer Seite der herrschenden Elite, Hisbollah und die Bewegung des 8. März, verbündet. Unter einem großen Teil der libanesischen Bevölkerung gibt es die Sichtweise, dass sie keine wirkliche Opposition zum libanesischen Regime darstellen, weil sie mit einer der wichtigsten politischen Mächte verbündet sind, das dieses Regime aufrechterhält. Die Alternative der radikalen Linken ist, ihre eigene unabhängige Organisation und politische Plattform zu bekräftigen und das lastende Erbe des autoritären Sozialismus in der arabischen Region, das die Form des Nasserismus und Baathismus annahm, zu überwinden.

Die Freiheitsliebe: Syrische und palästinensische Flüchtlinge werden unterdrückt in der libanesischen Gesellschaft. Waren sie Teil der Protestbewegung oder haben sie Angst vor Repressionen durch die herrschende Elite?

Farah Kobaissy: Einige syrische und palästinensische Genossinnen und Genossen haben in der Protestbewegung teilgenommen. Der größte Teil der Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten fürchtet jedoch die Repressalien. Über die letzten Jahre hat der libanesische Staat die syrischen Flüchtlinge als Sündenbock für beinahe alle politischen, ökonomischen und sozialen Probleme im Land, einschließlich des Mangels an Arbeitsplätzen, der wachsenden Arbeitslosigkeit und sogar der Luftverschmutzung gemacht! Während der Protestbewegung 2015 sprach die Regierung über Syrerinnen und Syrer als ausländische „Eindringlinge“ in den Protesten. Dies wurde heraufbeschworen um Angst, Misstrauen und eine Spaltung zwischen Inländern und Auswärtigen zu schaffen. Diese konstruierte fremde Bedrohung, die Heraufbeschwörung von Angst und Terror, zielt auf die Disziplinierung der libanesischen und migrantischen Gemeinschaften ab. Migrantische und geflüchtete Gemeinschaften werden durch die Sicherheitskräfte extrem drangsaliert und missbraucht, ihnen wird nicht zugestanden für ihre Rechte zu demonstrieren und sie werden für gewöhnlich unsichtbar gemacht, außer wenn wieder sie als „Eindringlinge“ dargestellt werden.

Die Freiheitsliebe: Wie beeinflusst das Sektierertum von oben den Klassenkampf im Libanon? Es heißt, Hisbollah wurde zwar offiziell nicht unter der Protestbewegung akzeptiert, doch es gab einige, die anstelle von Hisbollah für diese aktiv wurden. Wie verhält sich die radikale Linke und Deine Organisation, das Sozialistische Forum, gegenüber reformistischen Bewegungen des politischen Islams?

Farah Kobaissy: Die Rolle des Sektierertums in der politischen Arena ist immer schon gewesen, einer Krise eine neue Bedeutung in einer neuen ideologischen Form zu verleihen um die Krise der bürgerlichen Gesellschaft zu verdecken. Sektierertum ist daher eine Technik des Herrschens und der Disziplinierung der Gesellschaft als Ganzes und der Klasse der Werktätigen im Besonderen um die Hegemonie der herrschenden Klassen über die Zivilgesellschaft zu erhalten, zu produzieren und zu reproduzieren.

Hisbollah ist eine konterrevolutionäre Kraft und durch ihren Diskurs und ihre blutige Beteiligung in Syrien, an der Seite des syrischen Regimes, hat sie aktiv dazu beigetragen das revolutionäre Potential der syrischen Revolution auszubremsen, durch die Ermordung von Syrerinnen und Syrern, durch die Besatzung und Belagerung syrischer Ortschaften, und letztendlich hat Hisbollah dem Kampf ein sektiererisches Aussehen verliehen.

Eine konterrevolutionäre Kraft im syrischen Kontext kann nicht plötzlich als eine reformistische Kraft im libanesischen Kontext dargestellt oder behandelt werden. Tatsächlich ist das syrische Beispiel ein praktisches Beispiel und bezeugt, zu was Hisbollah fähig ist und welche Position sie einnehmen wird, im Falle einer zukünftigen Revolution im Libanon.

Die Freiheitsliebe: In seinem aktuellen Buch „Hezbollah: The political economy of Lebanon’s party of God“ (Pluto Press, 2016) argumentiert der revolutionäre Sozialist Joseph Daher, dass Hisbollah sich zum politischen und militärischen Repräsentanten der aufstrebenden Shi’a-Bourgeoisie im Libanon entwickelt hat. Du hast die sektiererische Politik Hisbollahs erwähnt, die Organisation rekrutiert auch unter der armen werktätigen schiitischen Bevölkerung in Außenbezirken wie Südbeirut Kämpfer für den Krieg in Syrien. Wegen ihrer Beteiligung an der Konterrevolution in Syrien hat Hisbollah viel ihrer einstigen Popularität eingebüßt. Was sagst Du zu jenen Teilen der Europäischen Linken, die Hisbollah immer noch als „antiimperialistisch“ begreifen?

Foto: Jakob Reimann
CC BY-ND 2.0

Farah Kobaissy: Ich antworte, indem ich sage, dass Imperialismus ist nicht unser einziges Brot und Salz in diesem Teil der Welt. Damit meine ich, dass unsere Gesellschaften viel komplexer sind und es gibt Ebenen verschiedener Kämpfe, einschließlich des Klassenkampfs und des Kampfs gegen Militarisierung und Diktatur, die Teile der europäischen Linken übersehen. Diese Linke sieht die Situation in der arabischen Region durch eine Linse von antagonistischen Dichotomien. Die Revolutionen werden demnach entsprechend ihrer Nähe zu einer bestimmten regionalen oder internationalen Allianz und ihrer Distanz zu einer anderen bewertet. Entsprechend wird ihnen Legitimität oder keine zugeschrieben, je nachdem wo sie im Kampf gegen regionale oder globale imperialistische Mächte stehen. Diese Linke untergräbt, dass Kämpfe in dieser Region nicht ausschließlich auf einen Kampf gegen Imperialismus reduziert werden können. Historisch haben sich in dieser Region im Namen dieses Kampfes die blutigsten Diktaturen verfestigt und Formen des Neoliberalismus im Eiltempo stattgefunden. Heute findet dies im Namen des „Kampfs gegen den Terror“ statt. Unter diesem Slogan finden sich dieser Teil der europäischen Linken und Ägyptens Sisi, Syriens Assad, Trump, Putin, Hisbollahs Nasrallah im gleichen Camp wieder.

Die Freiheitsliebe: Letztens war die Parteiführerin der neofaschistischen französischen Partei Front National, Marine Le Pen, im Libanon um Präsident Aoun, der Hisbollah nahesteht, und den Premierminister Hariri, der dem saudischen Regime nahesteht, zu treffen. Bei einem eingeplanten Besuch des Muftis Scheich Derian kam es zum von Le Pen provozierten Eklat. Was, denkst Du, war die politische Absicht ihres Besuchs? Wie wurde er in der libanesischen Bevölkerung wahrgenommen?

Farah Kobaissy: Das Sozialistische Forum hat mit einem Sitzstreik gegen Le Pens Besuch demonstriert. Ihr Besuch zielt darauf ab, die Stimmen der 17.000 französisch-libanesischen Stimmberechtigten in der französischen Präsidentschaftswahl für sie zu sichern. Etwa 70% von diesen haben in der französischen Präsidentschaftswahl 2012 für rechte und extrem-rechte Kandidaten gestimmt.

Die Freiheitsliebe: Es scheint, zahlreiche europäische extrem-rechte Parteien erklären momentan ihre Unterstützung für das syrische Regime. Le Pen meinte letztens, Assad sei die „Lösung“ für Syrien. Sie teilte außerdem mit, dass im Falle ihres Wahlsiegs und ihrer Präsidentschaft, sie sich mit Iran anstelle von Saudi-Arabien als „regionalen Partner“ verbünden wolle. Denkst Du, das ist eine reale Option oder bloße Rhetorik?

Farah Kobaissy: Der libanesische Präsident Michel Aoun, der engste Verbündeter von Hisbollah, war das erste Staatsoberhaupt, das einem Treffen mit Le Pen zustimmte. Dieser Besuch fand nicht in Isolation vom benachbarten Syrien statt. Tatsächlich fand es statt, weil sowohl Le Pen als auch Aoun bereit sind, ein internationales Solidaritätsnetzwerk um das Regime Assad zu formen, dieses würde natürlich auch Iran miteinschließen.

Die Freiheitsliebe:Danke dir für das Gespräch.

Foto:  Victor Choueiri / CC BY-NC

Foto: xqwzts

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