Die Massenstreikdebatte gilt als eine der bekanntesten Debatten der deutschen Sozialdemokratie, sie wurde maßgebich zwischen Rosa Luxemburg und Karl Kautzky geführt, die auch für die verschiedenen Pole in der Partei standen. Der erste Beitrag zur Debatte beleuchtet ihre Ursachen, dieser Beitrag soll sich mit den Bedingungen für einen erfolgreichen Massenstreik auseinandersetzen.
Nach den Überlegungen zur Frage, ob und in welcher Form es überhaupt Sinn mache, das Thema zu diskutieren, stellt Kautsky folgende Bedingung auf: Er hält es für unerlässlich, hinsichtlich des Massenstreiks zwischen Demonstrations- und Zwangsstreik zu unterscheiden und möchte gern von Genossin Luxemburg Klarheit darüber, welche Form der von ihr skizzierte Massenstreik haben solle. Die beiden müssten “streng auseinandergehalten” werden, da sie andere Bedingungen voraussetzten und eine andere Taktik erforderten. Ein Zwangsstreik versuche, Regierung oder Parlament zu etwas zu zwingen – gelingt dies nicht, sei er gescheitert. Ein Demonstrationsstreik hingegen sei von begrenzter Dauer und nicht an Resultate gebunden. Letzterer kann lokal beschränkt bleiben, ein Zwangsstreik müsse dagegen allgemeiner Natur sein. Propagiere man den Massenstreik ungeachtet dieser, laut Kautsky notwendigen, Trennung, laufe man Gefahr, “bei lebhafteren Naturen wider unseren Willen den Gedanken des Zwangsstreiks großzuziehen und Aktionen hervorzurufen, die wir nicht beabsichtigen, die weder der Situation noch den Kräfteverhältnissen entsprechen und zu Niederlagen führen. Vergessen wir nicht, dass der Massenstreik als Zwangsstreik unsere letzte (Hervorhebung Kautskys) Waffe ist, die wir einzusetzen haben.” (10)
Sollte Genossin Luxemburg ihn auf Russland 1905 verweisen wollen, falle die dortige Situation unter die Kategorie “Revolution”, was in Preußen nicht der Fall sei. Aus westeuropäischen Ländern ist Kautsky keine Vereinigung von Wahlrechtskampf mit ökonomischen Forderungen bekannt. Dass es dazu nicht kam, ergibt sich für Kautsky daraus, dass die “Verquickung des allen Arbeitern gemeinsamen politischen Kampfesziels mit besonderen, für verschiedene Arbeitszweige verschiedenen gewerkschaftlichen Zielen” ein Mittel böte, “die einzelnen Arbeiterschichten voneinander zu isolieren. Wie dadurch der Massenstreik als Mittel des Wahlrechtskampfes gestärkt werden soll, ist mir nicht ganz klar.” (11)
Illustriert bedeutet diese These: Kombiniert man z.B. die Kämpfe von Grubenarbeitern um ökonomische Forderungen mit der Wahlrechtslosung, würden die Grubenbesitzer den ökonomischen Forderungen nur nachgeben, um die Bestreikung des Betriebes aufzuheben. Dies würden sie jedoch nicht tun, wenn die Werktätigen aufgrund der Wahlrechtsforderungen dann weiterstreiken würden. Somit wären dann die Grubenarbeiter von der Wahlrechtsbewegung isoliert. Der Blick ins Ausland nütze nichts, geht Kautsky erneut auf Russland ein, da die Bedingungen dort andere sind. Auch wenn Luxemburg sich auf die Kämpfe, die in Belgien stattgefunden haben, bezieht, merkt er an, dass diese das gleiche Wahlrecht nicht erfolgreich erstritten haben. “Mit diesem Beispiel kommen wir also auch nicht weit.” (12)
Luxemburg antwortet Kautsky, sein Trennen der Streikarten hätte vielleicht auf dem Papier Bestand, aber auf der Straße, wo das Leben alles durcheinander werfe, nicht. Luxemburg lehnt Kautskys Position ab, dass die russischen Lehren keine Gültigkeit für Deutschland hätten, bloß weil er sie als „Revolution“ etikettiere. Als Beispiel für den fließenden Wechsel zwischen ökonomischen und politischen Forderungen bringt sie die belgische Wahlrechtsbewegung.
Dort kam es 1886 zu einem “Sturm wirtschaftlicher Kämpfe”. (13) Erst fand ein Streik der Bergarbeiter statt, dem in fast allen Städten und Branchen des Landes Streiks folgten, in denen Lohnforderungen im Vordergrund standen. Aus diesen ökonomischen Kämpfen entwickelte sich die Wahlrechtsbewegung Belgiens. Zu den Lohnforderungen gesellte sich die Forderung des allgemeinen Wahlrechts. Am 15. August 1886 veranstaltete die belgische Sozialdemokratie, die durch den wirtschaftlichen Kampf erregte Stimmung nutzend, eine Massendemonstration für das allgemeine Wahlrecht in Brüssel.
Ähnlich war es 1891. Ein großer politischer Massenstreik erzwang die Durchsetzung einer Wahlrechtsvorlage. Dieser fand zusammenhängend mit dem Kampf um den Achtstundentag statt, als Produkt einer Reihe gewerkschaftlicher Aktionen und direkt angestoßen durch die vorhergegangene Maifeier. Dieser erste Wahlrechtsmassenstreik vereinte die vorhergehenden Branchenstreiks von Bergarbeitern, Eisen- und Stahlwerken, Tischlern, Zimmerern, Hafenarbeitern u.a., die im Kampf um den Achtstundentag entstanden waren.
Auch nach Beendigung des Massenstreiks – angesichts von Zugeständnissen der Regierung – setzten die Bergarbeiter in Charleroi ihren Streik fort, um eine Verkürzung der Arbeitszeit und Lohnerhöhungen zu erringen. Auch im Folgejahr 1892 fanden vor dem Hintergrund einer latenten Wirtschaftskrise mehrere Streiks zur Abwehr von Lohnkürzungen statt, schließlich am 8. November 1892 ein Demonstrationsmassenstreik und im Dezember 1892 einige Arbeitslosendemonstrationen. Die Bewegung entwickelte sich also, wie Luxemburg betont, “in beständiger Wechselwirkung der Demonstrations- und der ‚Zwangsstreiks’” (14), welche den großen Wahlrechtsmassenstreik im Jahre 1893 vorbereitete.
Auch Beispiele aus Deutschland kann sie anbieten, so Baugewerbekämpfe und die Sympathie zwischen diesen und der Wahlrechtsbewegung. Desgleichen die Mai-Feier, wo der Kampf um den Acht-Stunden-Tag mit Wahlrechtsforderungen verbunden wurde, was nach Kautskys Konzept ein Fehler sei. Was Kautsky vorschlägt, also das Trennen der Kampfformen, macht, so Luxemburg, nur Sinn, wenn man den Kampf rein “im Sinne des bürgerlichen Liberalismus (…) nur als politischen Verfassungskampf“ (15) führen wolle, während dies im Sinne einer proletarischen Taktik, als “Teilerscheinung unseres allgemeinen sozialistischen Klassenkampfes“ (16) als zweckwidrig und unmöglich erscheint. Es hieße, “die Kraft und den Schwung der Wahlrechtsbewegung künstlich lähmen, ihren Inhalt ärmer machen, wollten wir nicht alles in ihr aufnehmen, sie nicht von allem tragen lassen, was die Lebensinteressen der Arbeitermassen berührt, was in den Herzen dieser Massen lebt.” (17)
Dieses „pedantisch-engherzige“ Agieren schadete der deutschen Sozialdemokratie bereits 1908 und 1909, als der “erste Demonstrationssturm der preußischen Wahlrechtsbewegung losbrach und gleichzeitig die Arbeiterklasse eben die Schrecken der wirtschaftlichen Krise zu spüren bekam.“ (18) Die zahlreichen, durch die Krise auf die Straße geworfenen, Arbeitslosen veranstalteten Versammlungen und Demonstrationen. Doch die Führung der SPD trennte diese Kämpfe, anstatt die eine Bewegung durch die andere zu stärken. Nach Kautskys Schema “ein weises Stück Ermattungsstrategie”, wie Luxemburg satirisch anmerkt. Kautsky macht also nichts anderes, als die praktischen Fehler der Partei theoretisch zu untermauern. Jene, die – so Luxemburg – nichts lieber täten, als öffentliche Veranstaltungen nur im kleinen Kreis bereits Organisierter abzuhalten und “die ganze Wahlrechtsbewegung als ein unter strengem Kommando der oberen Instanzen nach genauem Plane und Vorschrift ausgeführtes Manöver” auffassen, “statt in ihr eine große historische Massenbewegung, ein Stück des großen Klassenkampfes zu sehen, der aus allem seine Nahrung schöpft, was den heutigen Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem herrschenden Klassenstaat ausmacht.” (19)
Kautsky antwortet Luxemburg, indem er die eigene Position abschwächt: „Aber wann habe ich je geleugnet, dass ökonomische und politische Aktion einander stützen, wann habe ich gesagt, zur Zeit eines Wahlrechtskampfes seien wirtschaftliche Kämpfe als schädlich zu meiden? Gerade in meiner Erwiderung an die Genossin Luxemburg habe ich betont, daß der Wahlrechtskampf aus ökonomischen Gegensätzen und Kämpfen seine stärkste Kraft ziehe“. (20) Genossin Luxemburg renne also offene Türen bei ihm ein. Es handle sich nicht darum, „ob während der Jahre eines Wahlrechtskampfes nicht ökonomische Kämpfe vorkommen und auf jenen zurückwirken können, sondern darum, welcher Art der bestimmte nächste Massenstreik sein soll, den die Genossin Luxemburg erwartet. (…) Will sie behaupten, dass in Westeuropa irgendwo ein bestimmter Streik vorkam, der gleichzeitig mit politischen Forderungen der Gesamtheit des Proletariats an Regierung und Parlament auch ökonomische Sonderforderungen einzelner Arbeiterschichten an einzelne Kapitalistengruppen durchzusetzen suchte?“ (21)
Die Erkenntnis, dass Demonstrations- und Zwangsstreiks einander mitunter folgen, sei unleugbar richtig, biete aber wenig Aufschluss darüber, welcher Art die Parole des Massenstreiks sein solle. Luxemburgs Bild des Massenstreiks sei nicht klar. Wie Faust mit dem Hexentrank im Leibe in jeder Frau Helena sieht, so sehe sie in jedem Streik ein Muster des kommenden Massenstreiks. Seine mechanische Denkweise zeigt sich sehr klar in folgendem Absatz:
“Den Anstoß zur Massenaktion können nicht die Leitungen der proletarischen Organisationen geben, sondern nur die Massen selbst: (…) Diese selbe Massenaktion soll aber nach der Genossin Luxemburg ganz davon abhängen, dass dazu der Masse von der Partei die Parole ausgegeben wird, die einzig den durch sie begonnen Kampf weiter vorwärts treiben kann.
Wird im ‚gegebenen Moment‘ diese Parole nicht gegeben, dann bemächtigt sich der Masse eine Enttäuschung, die Aktion bricht in sich zusammen. Auf der einen Seite kann also der Massenstreik nicht gemacht werden; er entsteht von selbst. Auf der anderen Seite wird er durch eine Parole der Partei gemacht. Zuerst ist die Masse der Ursprung und Träger der ganzen Aktion. Dann wieder vermag die Masse gar nichts, wenn ihr nicht die Parole zugerufen wird.” (22)
Hier offenbart sich sehr deutlich das Unverständnis Kautskys für die Beziehung zwischen Partei und Masse. Wo er nur Widersprüche sieht, existiert ein organisches Verhältnis. Einerseits kann die Partei einen Kampf nicht erfinden oder künstlich beschwören, andererseits kann ein Kampf der Masse in sich zusammenfallen, wird er nicht durch die Partei vorangetrieben, koordiniert und geführt. Lassen wir Luxemburg antworten:
Sie stellt hierzu in “Die Theorie und die Praxis“ (Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band, 1910), mit unmissverständlicher Klarheit fest, dass weder das “geheimnisvolle Aushecken von großen Plänen” noch das “Warten auf Elementarereignisse” die Aufgabe der Sozialdemokratie sei, sondern Massenstreiks nicht auf Kommando gemacht werden, “sie müssen aus der Masse und ihrer fortschreitenden Aktion” sich ergeben. Aufgabe der Sozialdemokratie sei es dann eben, diese Aktion “politisch (Hervorhebung Luxemburgs) im Sinne einer energischen Taktik, einer kräftigen Offensive so vorwärts zu führen, dass die Masse sich ihrer Aufgaben immer mehr bewusst wird”. Zwar vermag es die Sozialdemokratie nicht, künstlich eine revolutionäre Massenbewegung zu schaffen, “sie kann aber wohl unter Umständen durch ihre schwankende, schwächliche Taktik die schönste Massenaktion lähmen.“ (23) Als Beispiel nennt sie die 1902 “abkommandierte” Wahlrechtsbewegung in Belgien.
Dieser Gedanke wird auch von Leo Trotzki im Vorwort zu “Geschichte der russischen Revolution” beschrieben:
“Nur auf Grund des Studiums der politischen Prozesse in den Massen selbst kann man die Rolle der Parteien und Führer begreifen, die zu ignorieren wir am allerwenigsten geneigt sind. Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf.” (24)
Niederwerfungs- vs. Ermattungsstrategie
Den Kernpunkt in Kautsky’s erster Argumentation – wir werden noch sehen, dass er diesen Kernpunkt später zu anderen Argumenten verlagert – bildet die “Ermattungsstrategie”. Kautsky definiert diese mit Anleihen militärischen Vokabulars folgendermaßen: “Bei der Ermattungsstrategie dagegen weicht der Feldherr zunächst jeder entscheidenden Schlacht aus; er sucht die gegnerische Armee durch Manöver alle Art stets in Atem zu erhalten, ohne ihr Gelegenheit zu geben, ihre Truppen durch Siege anzufeuern; er strebt danach, sie durch ewige Ermüdung und Bedrohung allmählich aufzureiben und ihre Widerstandskraft immer mehr herabzudrücken und zu lähmen”. Und: “Zur Ermattungsstrategie wird sich ein Feldherr nur dann verstehen, wenn er keine Aussicht hat, durch die Niederwerfungsstrategie zu seinem Ziele zu kommen.” (25)
Die Zeiten der Niederwerfungsstrategie seien vorbei, so Kautsky. Sie passten bei einem politischem Zustand, wo eine Großstadt dominiert, bei schlechteren Transportmöglichkeiten, “die es unmöglich machten, rasch große Truppenmassen aus dem Lande zusammenzuziehen” sowie bei Straßenbau und Militärtechnik, die Chancen für den Straßenkampf boten. Durch allgemeines Wahlrecht, Koalitionsrecht, Pressefreiheit und Vereinsfreiheit sei nun aber die Grundlage gelegt, für “die neue Strategie der revolutionären Klasse”, wobei sich Kautsky vor allem auf Engels´ Vorwort zu den “Klassenkämpfen in Frankreich” von Karl Marx beruft. Natürlich räumt Kautsky ein, dass eine unbestimmte letzte Schlacht notwendig sein werde. “Die Ermattungsstrategie unterscheidet sich von der Niederwerfungsstrategie nur dadurch, dass sie nicht, wie diese, direkt auf den Entscheidungskampf losgeht, sondern ihn lange vorbereitet und sich ihm erst dann stellt, wenn sie den Gegner genügend geschwächt weiß.” (26) Kampfaktionen wie den Massenstreik hält Kautsky für angebracht, wenn “unsere Gegner, durch das unaufhaltsame Wirken unserer Ermattungsstrategie zur Verzweiflung gebracht, eines schönen Tages einen Gewaltstreich versuchen.” (27) Dadurch könne der Massenstreik ein Mittel werden, um von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstrategie überzugehen.
Die Frage, ob man auf den Ausbruch eines Massenstreiks hinarbeiten solle, sei daher die Frage, ob es angebracht ist, von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstra-tegie überzugehen. In Kautskys Worten: “ob die Fortführung der bisherigen Ermattungsstragie unserer Partei jetzt schon unmöglich geworden ist oder unsere Partei schwer bedroht ist.” (28)
Um diese Frage zu beantworten, stellt Kautsky Bedingungen für den sinnvollen Übergang von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstrategie auf. Wenn der Feind “uns von unserer Basis abzuschneiden oder diese selbst wegzunehmen” droht, “wenn sie die eigenen Truppen demoralisiert und entmutigt, wenn wir in eine Sackgasse geraten sind, in der wir nur die Wahl haben zwischen Niederwerfung des Feindes und schimpflicher Kapitulation.” (29)
Den Beschluss des Parteitages von Jena legt er so aus, dass der Massenstreik dann ins Auge gefasst werden solle, wenn die erste dieser Bedingungen erfüllt ist. Auch werde der Massenstreik nicht notwendig, weil nur durch stete und rasche Steigerung der Aktionsmittel “die Massen an unsere Fahne geheftet werden könnten.“ (30)
Als Beispiel einer „glänzenden Massenbewegung“ ohne Zuspitzung nennt Kautsky Österreich, wo von 1894 bis 1905 eine solche in Gang gehalten worden wäre, „und doch verschwand nicht ihr Elan, brach ihre Aktion nicht zusammen.“ (31)
“Wenn die Sozialdemokratie von ihren Anfängen an die Ermattungsstrategie akzeptierte und zur Vollkommenheit entwickelte, so geschah es nicht bloß deshalb, weil die damals gegebenen politischen Rechte ihr eine Basis dazu boten, sondern auch deshalb, weil die Marxsche Theorie des Klassenkampfes ihr die Gewähr gab, dass sie auf das klassenbewusste Proletariat stets rechnen kann, solange sie seine Klasseninteressen energisch verficht, mag sie die Massen durch Erfolge oder neue Sensationen begeistern oder nicht.” (31) Die Gefahr, dass die Massen enttäuscht werden, dass „Erschlaffung und Mutlosigkeit” eintritt, sei dann gegeben, wenn die Sozialdemokratie “mehr verspricht, als sie zu leisten vermag”. Würde die Partei, wie Kautsky es Luxemburg unterstellt, Propaganda für den Massenstreik entfalten und erklären, Straßendemonstrationen genügen nicht, eine rasche stete Steigerung der Mittel der Massenaktion sei erforderlich, dann werde man in kürzester Zeit vor dem Dilemma stehen, “entweder die Massen aufs tiefste zu enttäuschen oder mit einem gewaltigen Satze dem Junkerregime an die Gurgel zu fahren, um es niederzuwerfen oder von ihm niedergeworfen zu werden.” (32) Diese Situation sei aber nicht gegeben, man sei noch frei in der Wahl seiner Mittel.
Ein Dilemma, dass die Massen sich von der Partei abwenden, greift sie nicht zu schärferen Mittel, besteht also laut Kautsky so lange nicht, wenn die Partei nicht selbst Erwartungen schaffe, die über ihr Vermögen hinausgingen. Nur eine Situation sieht Kautsky, in der er es für sinnvoll hält, zur Niederwerfungsstrategie überzugehen: Wenn die Regierung in einer “Klemme sich befände, die es gelte, aufs rascheste auszunutzen”. Von dieser, für ihn “entscheidenden Frage” (33), hänge ab, ob eine Durchführung des Massenstreiks im gegebenen Moment zweckmäßig sei.
Erst nachdem die Partei eine Massenpartei geworden war und diese Massen in größte Erregung geraten waren, so Kautsky, sei es möglich, dass die Straßendemonstration “ihren gewaltigen Umfang und ihre tiefe Wirkung erreicht”, “Begeisterung und Ermutigung in den Massen, Verwirrung und Kopflosigkeit bei der Regierung und den Regierungsparteien hervorgerufen” (34) haben. Ursachen für diese Erregung sind z.B. die Teuerung der Lebensmittel, das Wettrüsten und Wachstum des Steuerdrucks. Aus all dem bleibe der Bourgeoisie nur der Krieg als Weg. Diese Verhältnisse führen international zu wachsender Erregung der Massen und zu “wachsenden Gegensätzen der herrschenden Klassen untereinander”, wobei er konkret “Kleinbürger, Intellektuelle, Händler und kleinere Kapitalisten” nennt, die in Widerspruch zu “Grundbesitz, hohe Finanz und große industrielle Monopolisten” (35) geraten würden. Das preußische Junkertum verdanke mehr der brutalen Gewalt als jede andere Klasse Europas und kehre diese gegenüber dem Proletariat und seiner Klassenpartei besonders heraus. Aber auch “die bürgerlichen Massen und Parteien” bekommen diese in “immer höherem Grade” zu spüren, wobei er sich auf ökonomische Momente bezieht. Das Junkerregime treibe v.a. die arbeitenden Schichten in den Schoß des Wahlmandats der Sozialdemokratie. “Das sind die Gründe, (…) die die allgemeinen Reichtagswahlen im nächsten Jahre zu einem furchtbaren Tage des Gerichts für die Regierung der preußischen Junker und deren ganze oder auch nur halbe Bundesgenossen zu machen droht. Gegnerische Wahlstatistiker rechnen bereits mit der Möglichkeit, dass wir bei den kommenden Wahlen 125 Mandate erobern.” (36)
Es sei auch kein Grund zur Annahme vorhanden, die wirkenden Ursachen für die Empörung der Massen und ihrer Begeisterung für die Sozialdemokratie würden bis zu den nächsten Jahren verrauchen. Es sei genauso falsch zu behaupten, mit dem Schwinden der Arbeitslosigkeit werde auch der Kampfeswillen der Arbeiter schwinden, da diese auch bei wirtschaftlichem Aufschwung nur Teuerung zu spüren bekämen, wie zu behaupten, in Zeiten der Krise seien die Arbeiter zaghaft und kampfunfähig, da sie dann froh sein müssten, eine Arbeit zu haben. Richtig sei, dass “jede Aktion des Proletariats Hindernisse findet, sowohl zur Zeit der Krise wie zur Zeit der Prosperität, die sie beeinträchtigen.” (37) Darauf müsse ein proletarischer Politiker Rücksicht nehmen bei der Wahl seiner Kampfmittel. Kautskys Rezept lautet: “In der Zeit der Krise werden große Straßendemonstrationen leichter durchzuführen sein als Massenstreiks. In der Zeit der Prosperität dürfte der Arbeiter sich für einen Massenstreik leichter begeistern als während der Krise.” (38)
Natürliche gäbe es nicht nur das eine oder das andere, es gibt auch einen Wechsel dazwischen. Und gerade in dieser Periode des Überganges scheinen die Arbeiter am kampfeslustigsten zu sein. Kautsky ist sich sicher, dass die Partei bei den nächsten Wahlen einen großen Sprung vorwärts machen werde, “der die Erreichung der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu einer Frage weniger Jahre macht.” Ein solcher Sieg bedeutet “nichts geringeres als eine Katastrophe des ganzen herrschenden Regierungssystems. Es unterliegt für mich gar keinem Zweifel, dass die nächsten Wahlen dieses System in seinen Grundfesten erschüttern werden.” (39) Dies lasse dem Junkerregime drei Möglichkeiten: Entweder “westliche Methoden zur Abwehr der steigenden Flut des Sozialismus”, womit er “erhebliche Konzessionen” meint, namentlich das Reichstagswahlrecht für Preußen. Oder, was er für wahrscheinlicher hält, brutale Gewaltstreiche. Oder drittens ein kopfloses Schwanken zwischen A und B, wodurch die “Flamme nur angeblasen” werde, die sie ersticken wollten. Wie auch immer, die nächsten Wahlen “müssen eine Situation schaffen, die für unsere Kämpfe eine neue und breitere Basis erzeugt; eine Situation, die, wenn eine der beiden letzterwähnten Alternativen eintritt, allerdings durch ihre innere Logik rasch sich immer mehr zuspitzt zu großen Entscheidungskämpfen, die wir aber auf der neuen, breiten Basis ganz anders auszukämpfen imstande sein werden als heute.” (40)
Und weiter: “Den Schlüssel zu dieser gewaltigen historischen Situation, den überwältigenden Sieg bei den nächsten Reichtagswahlen, haben wir bei der ganzen Konstellation der Dinge heute bereits in der Tasche. Nur eines könnte bewirken, dass wir ihn verlieren und die glänzende Situation für uns verpfuschen: eine Unklugheit von unserer Seite. Eine solche wäre es, wenn wir uns durch Ungeduld verleiten ließen, die Früchte pflücken zu wollen, ehe sie reif geworden sind; wenn wir eine Kraftprobe vorher provozieren wollten auf einem Terrain, auf dem uns der Sieg keineswegs sicher ist.” (41) Gewiss könne ein Feldherr kaum große Triumphe feiern, wage er nichts. Jedoch: “wenn man durch die Gunst der Verhältnisse und ihre geschickte Ausnutzung dahin gelangt ist, einen unzweifelhaften großen Sieg vor sich zu sehen, wenn dieser Sieg durch nichts gefährdet werden kann als durch den Übergang zu einer neuen Strategie, die eine Schlacht auf einem unübersichtlichen und zweifelhaften Kampfterrain provoziert, dann ist es eine gewaltige Torheit, eine der artige Schlacht vor dem sicheren Siege heraufzubeschwören und dadurch diesen selbst zu gefährden.” (42)
Ein Kampf, so Kautsky, kann ein moralischer Sieg sein, trotz einer materiellen Niederlage. “Wenn der Kampf von unserer Seite so glänzend geführt wurde, dass wir selbst dem Gegner Achtung abnötigen, und wenn er unvermeidlich war, uns von den Gegnern aufgenötigt wurde.” (43) Von den Gewerkschaftskämpfen dieses Jahres erwartet er sich eine Steigerung der Verbitterung und eine Verstärkung des Wahlrechtskampfes, auch wenn diese nicht materiell so erfolgreich werden sollten wie gewünscht. Jedoch würde diese Verstärkung in ihr Gegenteil verkehrt, brächte man sich selbstverschuldete Niederlagen bei. “Niederlagen, dadurch hervorgerufen, dass wir aus freien Stücken das Proletariat in schwere Kämpfe mit höchst zweifelhaftem Ausgang verwickelt hätten, ohne es zu müssen, ohne uns darum zu kümmern, ob es ihnen gewachsen sei oder nicht (…).
Die schlimmste Niederlage aber wäre es – und auch diese Möglichkeit ist in Betracht zu ziehen -, wenn wir das Proletariat zum politischen Massenstreik aufriefen und es nicht in überwältigender Überzahl dem Appell folgte.” (44)
Luxemburg erwidert diesem Konstrukt, dass, wenn man Kautskys Argumentation folge, Straßendemonstrationen sogar vehementer als Massenstreiks abgelehnt werden müssten und zeigt, wie bereits seit Jahren auf Parteitagen Anträge zum Streik vorliegen und auch angenommen wurden.
Luxemburg zeigt auf, dass Kautsky im Prinzip will, dass Demonstrationen nicht vorwärts und nicht rückwärts gehen. Er will Massenaktionen, die sich weder zuspitzen, noch abschwächen. Dabei sind Demonstrationen selbst nicht die Lösung eines politischen Problems, sie sind der Anfang, nicht das Ende einer Massenbewegung. Sie werfen automatisch die Frage auf: „Wie weiter?“, sie schaffen eine Zuspitzung. Luxemburg widerlegt – gespickt mit Zitaten aus Österreich – das Beispiel Kautskys, nach dem in Österreich über 12 Jahre eine Massenbewegung ohne Zuspitzung stattgefunden haben soll. In Wirklichkeit gab es in dieser Bewegung 7 Jahre Stillstand, zu Beginn und Ende (inspiriert durch die Kämpfe erst in Belgien und dann in Russland) wahrhafte Massenaktionen, die den Massenstreik ernsthaft und vollends vorbereiteten – und Siege brachten.
Zudem sei man nicht – wie in Österreich über die erwähnten Zwischen-Jahre – in der Situation, eine Kampfeslust in den Massen schaffen oder erfinden zu müssen, diese ist vorhanden. Man müsse sie nur ausnutzen, in politische Losungen fassen und umprägen. Die Massenstreiklosung sei damit ein Mittel, um aufzurütteln, um neue Horizonte zu zeigen und proletarische Anhänger bürgerlicher Schichten herüberzuziehen, die Massen für alle Eventualitäten bereit zu machen und endlich in wirksamster Weise auch für die Reichtagswahlen vorzuarbeiten.
Kautsky will also die bereits auf neuen Bahnen vorgeschrittene Parteibewegung in die alten ausgetreten Geleise des reinen Parlamentarismus zurückpferchen. Luxemburg skizziert, dass die Partei ohnehin großes Gewicht auf Wahlen legt. Kautsky hat nur einen ideologischen Schirm für Zögerer und Nur-Parlamentarier geschaffen. Weitere Aussichten der Wahlrechtsbewegung fordern gerade eine Fortsetzung und machtvollere Entfaltung der Massenaktion. Die Aktion der Gegner ist mit ihrem Latein am Ende, die Aktion des Proletariats muss umso nachdrücklicher erfolgen. Nicht tröstliche Erwartungen und Revanche in 1,5 Jahren sondern jetzt, Schlag um Schlag, müsse man handeln.
Kautsky antwortet Luxemburg darauf, in dem er ihre Argumentation dort rezitiert, wo sie anführt, dass sich die Kämpfe zuspitzen müssen, um Erfolge zu bringen, und neben anderen Staaten auch Österreich nennt. Gerade Österreich sei aber, meint Kautsky, kein Beispiel hierfür, da es einerseits nicht zum Massenstreik gekommen sei und andererseits die Bewegung sich auch nicht zugespitzt habe. Nun verwundert es Kautsky, wie es sein könne, dass Luxemburg Österreich erst als eines der Beispiele nennt, wo der Massenstreik bzw. das Zuspitzen zum Erfolg geführt habe, um dann Österreich als ein Beispiel zu nennen, wo die Massenaktion zusammengebrochen ist, weil sich die Kämpfe nicht zuspitzten. Beides sei aber ohnehin gleich falsch. Wahr ist laut Kautsky, dass die Wahlrechtsbewegung Österreichs aufgrund eines Sieges eine Zeit lang ruhte. Nach Konzessionen im Wahlsystem war es „ganz natürlich“, dass die Massen sich erstmal auf die Wahlen konzentrieren und nicht direkt in Folge für den Kampf um das allgemeine, gleiche Wahlrecht zu gewinnen waren.
Zur Frage von Ermattungs- versus Niederwerfungsstrategie will sich Kautsky nur noch kurz auslassen. Als Ermattungsstrategie bezeichne er jene Taktik, die seit den 1860er Jahren verfolgt werde, die zu einer beständigen Stärkung der Kräfte der Sozialdemokratie und einer beständigen Schwächung jener der Reaktion führte, „ohne sich dabei zu einer Entscheidungsschlacht provozieren zu lassen, solange wir die Schwächeren sind.“ (45) Dazu gehörre nicht nur Parlamentarismus, sondern auch „glücklich ausgefochtene Lohnbewegungen und Straßendemonstrationen.“ Davon, „Nurpalamentarismus“ zu predigen, sei er weit entfernt. Es gäbe jedoch kaum ein Mittel „außer einem siegreichen Massenstreik, das so große moralische Wirkung böte wie ein großer Wahlsieg.“ Nichts sei so erfolgreich wie Erfolg. Je größer die Partei, desto größer ihr Zustrom. „Es gibt aber wenige Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere steigende Kraft dokumentieren, wie Wahlsiege, wie die Eroberung neuer Mandate.“ Die gegenwärtige Situation sei eine solche, die es nun ermögliche, „einen Wahlsieg von einer Wucht zu erkämpfen, die ihn zu einer Katastrophe für das herrschende Regierungssystem gestaltet.“ (46)
Kautsky resümiert: Das Maß der Erregung habe „noch nicht jene Höhe erreicht, die allein unter deutschen Verhältnissen einen siegreichen Massenstreik erwarten lasse”. Sei ein solcher aber unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten, dann gebe es nur ein Mittel, die Aktion über das erreichte Stadium hinauszutreiben: „die nächsten Reichstagswahlen.“ Vor dem Hintergrund eines großen Wahlsieges könne eher eine Massenaktion entspringen, die in einem Massenstreik ende, „für dessen siegreichen Ausgang dann die Vorbedingungen weit günstiger lägen als heute.“ Den Massenstreik habe er nicht für jetzt abbestellt, um ihn für die Zeit nach den Wahlen anzukündigen, er sei ein Elementar-ereignis, „dessen Eintreten nicht nach Belieben herbeizuführen ist, das man erwarten, nicht aber festsetzen kann.“ Luxemburg spreche auch selbst nicht mehr von der Notwendigkeit des Massenstreiks, sondern nur von dessen Erörterung. Für ihn bleibt nur „ein Bündel Fragezeichen“, da er sich nicht erklären kann, ob Luxemburg nun der Meinung ist, der Zeitpunkt zur Anwendung des Jenaer Beschlusses sei gekommen, oder nicht, oder ob sie behaupten möchte, er wäre Anfang März gekommen gewesen, „und nur der Redakteur der ‚Neuen Zeit‘ habe die Revolution im Keim erstickt, indem er sich weigerte, seine ‚Schuldigkeit zu tun‘ und den Artikel der Genossin Luxemburg abzudrucken?“ (47)
Ein Beitrag aus dem Theoriemagazin „Revolutionärer Marxismus“ von der Gruppe Arbeiterinnenmacht. Der erste Teil des Beitrags erschien letzte Woche, der letzte erscheint kommenden Sonntag.
Anmerkungen und Fußnoten:
(10) Kautsky, Was Nun?, S. 98
(11) Ebenda, S. 100
(12) Ebenda, S. 101
(13) Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in: Luxemburg, Gesammelte Werk, Band 2, S. 353
(14) Ebenda, S. 354
(15) Ebenda, S. 355
(16) Ebenda, S. 356
(17) Ebenda, S. 356
(18) Ebenda, S. 356
(19) Ebenda, S. 357
(20) Kautsky, Die neue Strategie, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S 161
(21) Ebenda, S. 162
(22) Ebenda, S. 164
(23) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 418
(24) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1960, S. 13/14
(25) Kautsky, Was Nun?, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S. 101
(26) Ebenda, S. 103
(27) Ebenda, S. 105
(28) Ebenda, S. 105
(29) Ebenda, S. 106
(30) Ebenda, S. 106
(31) Ebenda, S. 108
(32) Ebenda, S. 110
(33) Ebenda, S 111
(34) Ebenda, S. 111
(35) Ebenda, S. 112
(36) Ebenda, S. 114
(37) Ebenda, S. 116
(38) Ebenda, S. 116
(39) Ebenda, S. 117
(40) Ebenda, S. 118
(41) Ebenda, S. 118
(42) Ebenda, S. 118
(43) Ebenda, S. 119
(44) Ebenda, S. 119
(45) Kautsky, Die neue Strategie, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte S. 186
(46) Ebenda, S. 187
(47) Ebenda, S. 189