Massenstreik und die Lehren aus der Revolution von 1905

Die Generalstreikdebatte in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gilt nicht von ungefähr als zentraler Streitpunkt, an dem sich zunehmend die Differenzen zwischen dem revisionistisch/reformistischen Flügel und der revolutionären Linken manifestierten. Bekannt ist v.a. die erste Zuspitzung der Debatte anlässlich der ersten russischen Revolution und der daraus zu ziehenden Lehren.

Wie der Revisionismus-Streit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, endet die Generalstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie am Parteitag von Jena 1905 wie auch am internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 mit einer Niederlage der Rechten. Die massiven Vorstöße v.a. der deutschen Gewerkschaftsführungen, für die der Generalstreik als „Generalunsinn“ und „undiskutabel“ galt, wurden zurückgewiesen.

Aber sie wurden, wie wir sehen werden, auf inkonsequente Art und Weise – meist über die Vermittlung des Parteivorstandes um Bebel – zurückgewiesen. So wurden die revisionistischen Vorstöße Bernsteins abgewehrt und die Zustimmung der süddeutschen Gliederungen der SPD zu den Staatshaushalten Bayerns oder Württembergs zwar regelmäßig verurteilt, aber die auf Wahlkämpfe und Propaganda und Agitation für den Sozialismus ausgerichtete Parteipraxis blieb davon ebenso unberührt wie die nur auf Verbesserungen der sozialen Lage angelegte Tätigkeit der Gewerkschaften.

Letztere erlebten aufgrund ihres Wachstums, ihrer Erfolge in Lohnkämpfen und gut kalkulierten Teilstreiks einen massiven Aufschwung und überflügelten die Partei an Größe und Finanzkraft und entwickelten noch vor der SPD einen bürokratischen Apparat. Ihre reformistische Tagespraxis, die von einer politischen Zuspitzung des Klassenkampfes nichts wissen wollte, ging auch einher mit einer materiellen Stütze dieser Praxis in der Facharbeiteraristokratie, auf die sich die Gewerkschaften stützten.

Die Generalstreikdebatte war daher ein erstes Kraftmessen mit der Gewerkschaftsbürokratie. Während der Parteitag von Jena 1905 diese Kampfmethode anerkannte, so markierte bereits der Kongress von Mannheim 1906 eine Niederlage der Linken und ein zugunsten der Gewerkschaften verschobenes Kräfteverhältnis. Der Mannheim Kongress revidierte zwar nicht den Beschluss von Jena, aber er sanktionierte praktisch die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von den Beschlüssen der Partei. Er verdeutlichte, dass die Partei zunehmend abhängig wurde von der inzwischen gewachsenen und gefestigten Gewerkschaftsbürokratie, deren Erfüllungsgehilfe der SPD-Parteivorstand zunehmend wurde.

Bevor wir uns näher dem Schwerpunkt des Artikels – der Generalstreikdebatte um 1910, die anlässlich des Kampfes um das Wahlrecht erneut ausbrach – widmen, wollen wir einen kurzen Abriss der vorausgegangenen Debatten bringen.

Historischer Abriss vor 1905

Die Losung des Massenstreiks war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht neu. Ihr gingen jahrzehntelange Diskussionen um seine Anwendung und dessen politischen Inhalt voraus.

In den 1840er Jahren wurde der Massenstreik von der Chartistenbewegung Englands erstmals eingesetzt. Die Chartisten wollten das allgemeine und gleiche Wahlrecht erstreiken, blieben aber unmittelbar erfolglos.

1868 wurde der Generalstreik vom Brüsseler Kongress der I. Internationale als Mittel, künftige Kriege zu verhindern, beschlossen. Eine breitere Diskussion um das Kampfmittel des Generalstreiks erfolgte dadurch jedoch nicht.

Erstmals mit größerem Gewicht behandelt wurde die Generalstreiklosung nach dem Beschluss des Gründungskongresses der II. Internationale, den 1. Mai 1890 zu einem internationalen Demonstrationstag für den 8-Stunden-Tag zu machen. In Spanien, Österreich und Frankreich wurde gestreikt. Die SPD lehnte den Streik mit der Begründung ab, Bourgeoisie, Militär und Staatsapparat könnten den Generalstreik als Vorwand für einen Staatsstreich und eine Neuauflage der Sozialistengesetze nehmen. Außerdem fürchtete die SPD, man könne die Zustimmung zu diesem Generalstreik als Zustimmung zum syndikalistischen Streikkonzept interpretieren.

Die Sozialdemokraten lehnten die Forderung nach Generalstreiks über Jahre strikt ab. Unter dem Druck praktischer Erfahrungen mit Massenstreiks änderte sie aber ihre Position: Zumindest theoretisch wurden organisierte Massenstreiks erwogen. Im Unterschied zu den Syndikalisten betrachteten sie, v.a. die SPD, Massenstreiks jedoch wesentlich als Abwehrmittel, um bestehende Rechte zu verteidigen oder die eigene Zerschlagung zu verhindern, während die Syndikalisten damit noch nicht erreichte Rechte durchsetzen oder die bürgerliche Republik verteidigen wollten.

Die Schwächen der syndikalistischen Konzeption spielten freilich auch der Ablehnung, die Generalstreikfrage überhaupt zu diskutieren, in die Hände. So wurde 1893 der syndikalistische Antrag auf einen “Weltstreik“ zu Recht abgelehnt. Aber die Veränderung der Klassenkämpfe und die Entwicklung größerer Streikbewegungen bis zum Massenstreik erforderten ein Umdenken. 1896 wurde eine differenziertere Stellungnahme verabschiedet: “Der Kongress hält Streiks und Boykotts für notwendige Mittel zur Erreichung der Aufgaben der Arbeiterklasse, sieht aber die Möglichkeit für einen internationalen Generalstreik nicht gegeben. Das nächste Erfordernis ist die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitermassen, weil von dem Umfange der Organisation die Frage der Ausdehnung der Streiks auf ganze Industrien oder Länder abhängt.” (1)

Während die Frage der Generalstreiks für die Internationale auf Resolutionen beschränkt blieb, fanden in Europa Streiks bis hin zu Massen- bzw. Generalstreiks statt.

In Spanien gab es eine Streikwelle für höhere Löhne, darunter 1901 branchenübergreifende Streiks in Barcelona, die sich auf andere Landesteile ausweiteten, und Streiks der Metallarbeiter Barcelonas 1902. Aus diesen – wirtschaftlich erfolglosen – Kämpfen entstand eine allgemeine Gewerkschaft, die “Solidaridad Obrera”, was ein politischer Erfolg war.

In Belgien streikten 1902 zehntausende ArbeiterInnen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Der Streik wurde schließlich abgebrochen, führte jedoch nicht – wie von der Internationale befürchtet – zur Zerschlagung der belgischen Arbeiterbewegung. Auch in Schweden wurde für das Wahlrecht gestreikt. Das Wahlrecht wurde damit zwar nicht gewonnen, die Demonstration des Kampfeswillens und der Solidarität der ArbeiterInnen war jedoch ein politischer Erfolg – was deutsche Gewerkschafts- und Parteiführer nicht daran hinderte, den schwedischen Kampf als erfolglos zu bezeichnen.

Auch in Holland wurde gestreikt. Grund war die parlamentarische Debatte eines Streikverbotsgesetzes. Die dortige Sozialdemokratie wurde in Folge der Zerschlagung des Streiks durch Polizei und Armee zu einem scharfen Gegner von Generalstreiks.

Der Amsterdamer Kongress 1904 konnte von all dem nicht unberührt bleiben. Der “Massenstreik“ wurde als mögliches Mittel zur Abwehr, ja als das äußerste Mittel, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen, anerkannt (Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Amsterdam 1904, Berlin 1904, S. 24). Hierin ist bereits enthalten, was sich in der späteren Diskussion noch deutlicher zeigen wird: Die Aktion der Massen, der Massenstreik, ist vor allem für die SPD nur das äußerste Mittel, das man einsetzt, wenn es um Sein oder Nichtsein der Arbeiterbewegung geht.

Kurz nach Ende des Kongresses brach in Italien ein heftiger Massenstreik aus – ohne Zutun von Parteien oder Gewerkschaften. Auslöser waren zwei Blutbäder der Polizei unter streikenden Bauern und Bergarbeitern in Sizilien. Solidaritätsstreiks breiteten sich über ganz Italien aus. Dieser Generalstreik blieb jedoch, allen Befürchtungen oder Lobpreisungen zum Trotz, beschränkt und führte weder zur sozialen Revolution noch zur Zerschlagung der italienischen Arbeiterbewegung. Er wurde nach Versprechungen der Regierung, die Polizei bei Streiks nicht mehr einzusetzen, abgebrochen.

Die russische Revolution 1905

Die wichtigsten Erfahrungen mit Streiks brachte 1905 die Revolution in Russland. Seit der Jahrhundertwende nahm in Russland die Zahl der Streiks stark zu. Ein Massenstreik brachte auch das Zarenregime ins Wanken. Am 22. 1. 1905 zogen 200.000 ArbeiterInnen vor das St. Petersburger Schloss. Das von Soldaten unter den friedlichen DemonstrantInnen angerichtete Gemetzel ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein. Binnen weniger Tage wälzte sich eine Serie von Massenstreiks durch ganz Russland.

Bedeutender Faktor für die Diskussion der westeuropäischen Sozialdemokratie waren diese Ereignisse deswegen, weil diese Streiks nicht das Machwerk von Anarchisten oder Anarchosyndikalisten war, sondern völlig spontan entstanden waren und von der russischen Sozialdemokratie unterstützt wurden. Rosa Luxemburg führte trefflich ins Feld, dass die russischen Erfahrung eine “gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus” erforderlich macht, nach der “es wieder nur der Marxismus (sein werde), dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen.” (2)

Die russische Revolution vereinte wirtschaftliche wie politische Forderungen – zwei Aspekte, die in der Diskussion der Sozialdemokratie bislang getrennt waren. Russland bewies, welche Kraft und welchen organisatorischen Nutzen Massenstreiks haben konnten. Sie offenbart den Massenstreik als Kampfform. Die Sozialdemokratie Westeuropas hatte sich im Gegensatz dazu auf Machtvergrößerung im parlamentarischen Spielraum und stetige gewerkschaftliche Aktivität beschränkt.

Sie nahm die russische Revolution von 1905 aber nicht als Anlass, ihre Fehler zu korrigieren. Die Generalstreikdebatte kam vielmehr mit der Niederlage der russischen Revolution zum Ende. Jedoch bekam die Frage nach Massenstreiks im Rahmen einer anderen Debatte erneut Relevanz: Diese Frage war, wie am besten gegen den Militarismus gekämpft werden könne. Im Rahmen dieser Antimilitarismus-Diskussion war es erneut die deutsche Sozialdemokratie, die im Gegensatz zur französischen Massenaktionen ablehnte. Nur aus Furcht vor einer erneuten Illegalisierung, wollte man zu Massenstreiks greifen. Auf dem Internationalen Sozialistenkongress 1907 wurde schließlich beschlossen:

“Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Mitteln dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.” (3)

Dieser Beschluss tauchte in der Folgezeit jedoch weder propagandistisch noch praktisch auf. Die Bedeutung dieses Beschlusses lag jedoch darin, dass die Linken im Ersten Weltkrieg und die entstehenden kommunistischen Partei daran anknüpfen konnten.

Die Debatte 1910

1905/06 hatten in der deutschen Sozialdemokratie Rosa Luxemburg und Karl Kautsky, trotz mitunter unterschiedlicher Schärfe in der Argumentation, an einem Strang gezogen. Sie waren Teil des linken, marxistischen Flügels in der Partei und Internationale, der viel zur Heranbildung einer klassenbewussten, revolutionären Arbeiterschaft beitrug. Wir wollen damit keineswegs die Fehler Kautsky’s vor 1910 abstreiten (wie auch jene Luxemburgs keineswegs „irrelevant“ sind). Wir bestehen aber darauf, dass sie ein Beitrag zur Formierung eines revolutionären Flügels der Sozialdemokratie vor dem Hintergrund eines Epochenwechsels – vom Übergang der Epoche des klassischen Kapitalismus hin zur Epoche des niedergehenden, imperialistischen Monopolkapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts – waren. So nahm Kautsky bis 1907 zweifellos an der Formierung des Linken aktiv teil und seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ ist wohl auch der Text, wo Kautsky am weitesten nach links ging und einen der ersten Texte überhaupt vorlegte, die versuchten, die Frage der Machtergreifung im Kontext einer neuen Periode zu beantworten.

Der Beginn der Niedergangsepoche des Kapitalismus, der imperialistischen Ära, machte jedoch die „alte“ Programmatik und Methodik des Erfurter Programms – die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm – zunehmend obsolet. Ein Festhalten an dieser Methode führte mehr und mehr dazu, dass das Maximalprogramm zu einer vorgeblich „marxistischen“, aber leeren Rechtfertigung der reformistischen Praxis und Anpassung an den imperialistischen Staat verkam.

Natürlich besaß die gesamte Linke in der internationalen Sozialdemokratie keineswegs eine fertige Alternative zum Minimal-Maximal-Programm. Aber ihr revolutionärer Flügel versuchte – insbesondere im Angesicht der russischen Revolution, die die Frage der politischen Machtergreifung als Tagesfrage aufwarf – das Korsett des Minimal-Maximal-Programm zu sprengen, wenn auch z.T. ohne sich selbst der politischen Konsequenzen völlig klar zu sein.

Die Diskussion um den Generalstreik 1910 markiert hier einen Wendepunkt. Angestoßen wurde die Debatte durch eine massenhafte Wahlrechtsbewegung in Deutschland, von Massendemonstrationen in zahlreichen Großstädten bis hin zur illegalen Demonstration im Berliner Tiergarten mit 150.000 TeilnehmerInnen am 6. März 1910. Rosa Luxemburg und der gesamt radikale Flügel der Partei hatte großen Anteil daran, dass diese Bewegung zustande kam und sich weiter entwickelte.

Zugleich konnte sich auch der Parteivorstand, dem die Sache über den Kopf zu wachsen drohte, der Bewegung und der Massenagitation nicht direkt entgegenstellen. Die Parteiführung – und noch mehr die Gewerkschaften – wollten auf keinen Fall, dass sich die Bewegung radikalisierte und zum Mittel des politischen Massenstreiks griff, wie Luxemburg, aber auch sehr viele Grundorganisationen und die linken Ortsverbände in Preußen forderten.

Der Parteivorstand versuchte offen, die beginnende Debatte zu unterdrücken. Artikel und Stellungnahmen, die sich für den Massenstreik aussprachen, durften im Zentralorgan nicht veröffentlicht werden.

Das hinderte Luxemburg nicht, sich an die politische und theoretische Spitze der Unterstützer des Massenstreiks zu stellen und dafür zu agitieren. Sie versuchte, durch Agitation und Aufklärung bei den Massen die Versäumnisse der Parteiführung wettzumachen. Dies war der Zündfunke für eine öffentliche Debatte zwischen Luxemburg und Kautsky in der „Neuen Zeit“. Karl Kautsky, ein „Linker“, wurde zum wichtigsten Kontrahenten Luxemburgs in der Debatte.

Die Generalstreikdebatte 1910 markiert also auch einen offenen Bruch innerhalb der Linken zwischen einem opportunistischen, rechts-zentristischen Flügel um Kautsky, Hilferding u.a., dem „Zentrum“ sowie der revolutionären, radikalen Linken um Luxemburg, Zetkin und Mehring. Es ist daher kein Zufall, dass die Debatte rasch über das Thema Generalstreik hinausging und auch Grundfragen der Strategie und Taktik der Partei umfasste.

Soll man das Thema Massenstreik öffentlich diskutieren?

Nach mehreren – bürokratisch unterbundenen -Versuchen Luxemburgs, in der „Neuen Zeit“ für den Massenstreik zu werben, veröffentlichte Kautsky darin den Artikel “Was nun?“ (28. Jahrgang, 2. Band 1910), mit dem er einem “Angriff” Luxemburgs auf Mehring beantworten wollte, mit dem er “in dieser Frage vollkommen übereinstimme”. Ob eine Diskussion des Massenstreiks zweckmäßig sei, hänge davon ab, in welchem Sinne diese geführt werde. Der Massenstreik käme natürlich allgemein in Frage, dies sei ja bereits am Jenaer Parteitag beschlossen worden. Die Diskussion, ob er in der gegenwärtigen Situation angebracht ist oder nicht, solle man jedoch nicht in der Öffentlichkeit führen, da man dadurch dem Feind seine Schwachstellen offenbare. “Die ganze Diskussion wäre ebenso zweckmäßig, als wollte man einen Kriegsrat darüber, ob man dem Gegner eine Schlacht liefern soll, in Hörweite des Feindes abhalten” (4), schreibt er.

Diskutiere man die Frage des Massenstreiks “unter sich” sei es etwas anderes. Kautsky hoffte, Luxemburgs Artikel habe nicht den Erfolg, in der Parteipresse eine Diskussion zu der Frage zu entfachen, in welcher “die eine Seite ihre Gründe für die augenblickliche Aussichtslosigkeit des Massenstreiks auseinandersetzte”. Ob sie Recht hätten oder nicht – eine derartige Diskussion wirke keinesfalls anfeuernd für die Aktion der Massen. Anstelle dieser Frage will Kautsky sich vielmehr damit auseinandersetzen, ob es für die Sozialdemokratie nun notwendig ist, den Massenstreik “mit allen Mitteln schon für die nächste Zeit anzustreben”. (5)

Luxemburg antwortet Kautsky darauf (Ermattung oder Kampf? Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band 1910), das Thema Massenstreik sei nicht von ihr erfunden, es wurde davor bereits diskutiert und dazu publiziert. So wurde in Halle in formellen Anträgen dem Parteivorstand die Befassung mit der Frage des Generalstreiks nahegelegt. In Königsberg, Essen, Breslau und Bremen wurde beschlossen, Vorträge mit Diskussionen über den Massenstreik abzuhalten. In einer öffentlichen Versammlung hatte Genosse Pokorny vom Bergarbeiterverband in Essen den Massenstreik in Aussicht gestellt und die Hoffnung ausgesprochen, dass in den kommenden Aktionen den Bergarbeitern eine führende Rolle zufalle. Auch bei den Versammlungen, wo Luxemburg selbst gesprochen hatte, fand die Losung des Massenstreiks stürmischste Zustimmung unter den ArbeiterInnen. Kampfesstimmung und der Wille zum Kampf sind also unter den ArbeiterInnen gegeben, nur ignoriert dies das Parteizentralorgan.

Es wurden für die „Neue Zeit“ sogar Sätze aus Berichten gestrichen, die mit dem Massenstreik zu tun hatten. Es besteht, so Luxemburg, “ein so gespanntes Interesse für die Idee des Massenstreiks, wie noch nie bis jetzt in Deutschland”. (6) Eine Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden – was nicht zum ersten Mal versucht werde – sei unmöglich. Aus dem einfachen Umstand, dass die Sozialdemokratie keine Sekte ist, sind alle vergangenen Versuche gescheitert, die Diskussion des Massenstreiks zu verbieten (Kölner Gewerkschaftskongress 1905, Salzburger Parteitag 1904). Betrüblicher als der Versuch, die Diskussion zu unterbinden, sei – so Luxemburg – die allgemeine Auffassung, die vom Massenstreik herrscht.

Die Erfahrungen der Russischen Revolution werden ignoriert und v.a. das ganze Konzept, das sich der Parteivorstand offenbar unter einem Massenstreik vorstellt, ist ernüchternd. Dieser sei kein Werkzeug, das man zur Hand nehmen und wieder zusammenklappen könne, er entstehe nicht durch einen geheimen Vorstandsentschluss. Kraft und Schwäche hingen von den politischen und sozialen Verhältnissen ab. Kautskys Formulierung eines “Kriegsrats in Hörweite des Feindes” zeige dieses Verständnis auf, nach dem der Massenstreik “demnach ein schlau ersonnener Coup” (7) wäre.

Im Gegensatz dazu muss die Sozialdemokratie aber ihre Taktik mit den Massen, also öffentlich diskutieren. Dann wendet sie sich Kautsky’s nächstem Argument zu: Eine Debatte über den Massenstreik wirke nicht anfeuernd zur Aktion. Luxemburg erwidert, dass eine öffentliche Diskussion auf jeden Fall sinnvoll ist, da es gut und billig ist, wenn entweder vor den Augen der Massen die Richtigkeit oder die Unrichtigkeit des Anstrebens eines Massenstreiks aufgezeigt wird. Sofern Kautsky verhindern wollte, dass die Gewerkschaftsführer ihre „Kanonen“ gegen den Massenstreik richten, unterliegt diesem Punkt wieder eine falsche Grundlage: ein technisches Verständnis der Macht der Gewerkschaften, wo abermals die Führer geheime Pläne aushecken. Treten in einer solchen Situation der bereitwilligen Kampfesstimmung die Gewerkschaftsführer gegen die Massen auf, so sind es nicht die Massenstreikpläne, sondern die Autorität der Gewerkschaftsführer, um die gefürchtet werden muss. Es könnte – vor dem Hintergrund der großen Kampfesstimmung – gar nichts wünschenswerter sein, als ein öffentliches Auftreten der Gewerkschaftsführer gegen den Massenstreik. Luxemburg betont den Aspekt, dass ein Massenstreik nicht von oben gemacht wird und dass die Arbeiterklasse sich nur selbst befreien kann, was konkret auch bedeutet, dass ein Massenstreik aus der massenhaften Stimmung dafür entsteht. Deswegen befürwortet sie es, dass der Massenstreik möglichst breit diskutiert wird. „Ob ein Massenstreik möglich, notwendig oder angebracht ist, würde sich dann aus der weiteren Situation und aus der Haltung der Masse ergeben“. (8)

Luxemburg beleuchtet, wie merkwürdig es ist, dass Kautsky für mehrere mögliche Szenarien vermerkt, es sei dann notwendig, den Massenstreik anzuwenden. Wenn dem so ist, so Luxemburg, dann „ergibt es sich von selbst, dass es unsere Pflicht ist, auch den Massen alle diese Eventualitäten vor Augen zu stellen, jetzt schon in möglichst breiten Kreisen des Proletariats Sympathie für diese Aktion zu wecken“ (9), damit die Arbeiterklasse nicht überrumpelt wird, nicht blindlings, nicht unter Affekt, sondern vollends bewusst mit sicherem Gefühl der eigenen Kraft und möglichst massenhaft den Kampf beginnt. Die marxistische Auffassung besteht gerade in der Beachtung des Klassenbewusstseins. In diesem Sinne sei ein Massenstreik – wie der Kampf um das Wahlrecht – nur Mittel zur Klassenaufklärung und Organisation dieser. Deswegen sei es unerklärbar, wie man der Masse die Befassung mit dieser Frage vorenthalten kann.

Ein Beitrag aus dem Theoriemagazin „Revolutionärer Marxismus“ von der Gruppe Arbeiterinnenmacht. Der zweite Teil des Beitrags erscheint kommenden Sonntag
Anmerkungen und Fußnoten

(1) Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Zürich 1896, zit. nach Antonia Grunenberg, Einleitung, Grunenberg (Herausgeberin), Die Massenstreikdebatte. Beiträge von Parvus, Luxemburg, Kautsky, Pannekoek, Frankfurt/Main 1970, S. 12

(2) Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Frankfurt 1966, zweite Auflage, S. 147

(3) Protokolle des Internationalen Sozialistenkongresses Stuttgart 1907, zit. nach Grunenberg, a.a.O., S. 18

(4) Kautsky, Was Nun?, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S. 96

(5) Ebenda, S. 97

(6) Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in: Luxemburg, Gesammelte Werk, Band 2, S. 346

(7) Ebenda, S. 347

(8) Ebenda, S. 351

(9) Ebenda, S. 352

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