Dass Migration auf eine demokratische Weise machtvoll ist, und nicht nur ein problematischer Ausdruck von Elend, und Armut, ist kaum aussprechbar. Dabei prägt und demokratisiert Migration unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten in ihrem Vermögen, exkludierende Grenzen zu überwinden.
Alle Menschen mit Migrations- und Rassismuserfahrung wissen, dass Grenze nicht die Mauer um ein Land ist, sondern dass Grenze der versperrte Übergang von der Grundschule aufs Gymnasium ist, die Unmöglichkeit eine Wohnung zu bekommen, auch wenn man sie bezahlen kann, die Unmöglichkeit eines Lebens, das nicht durch racial profiling und Dauerkontrollen im öffentlichen Raum eingeschränkt wird. Grenzen sind nicht dafür da, Menschen draußen zu halten, sondern ihnen bestimmte Plätze in einer auf Hierarchie und Ausbeutung fußenden Gesellschaft zuzuweisen. Grenze regelt, wer an dem doppelten Axiom von Recht und Repräsentation teilhaben kann und wer weniger, noch weniger oder gar nicht partizipieren kann.
Aus dieser entrechteten und prekären Situation kämpfen Migrantinnen und Migranten um ihre Rechte und erinnern so an das demokratische Versprechen auf Teilhabe und Gerechtigkeit. Unabhängig von den unterschiedlichen Zuschreibungen – sei es als Gastarbeiter, Vertragsarbeiter, Wirtschaftsflüchtling, Asylsuchende, Illegale, Refugees, Pendel- oder Bildungsmigrantinnen und -migranten – teilen sie die Erfahrung ihrer strukturellen und ausdifferenzierten Unterordnung, sowie die Erfahrung mit Rassismus, der diese Hierarchisierung überhaupt erst durchsetzt.
Aber sie alle eint auch eine Erfahrung der Solidarität in ihren Communities, mit anderen Migrantinnen und Migranten und mit solidarischen Netzwerken. Das Ziel aller strukturell Diskriminierten ist die Durchsetzung von Rechten – Bürgerrechte, politische Rechte, Recht auf würdiges Wohnen, auf angemessene Bezahlung, auf Bildung, auf Diskriminierungsfreiheit und Anerkennung. Unabhängig ihrer jeweiligen politischen Einstellung weiten sie auf diese Weise den demokratischen Raum aus. Sie beziehen sich dabei auf eine zukünftige Gesellschaft, die es noch gar nicht gibt.
Als 2015 über eine Million Menschen machtvoll einen Korridor in dieses Land schlugen, erzeugten sie einen ungeheuren Affekt der Solidarität. In einer historisch nie dagewesenen Dimension organisierten Millionen von Bürgerinnen und Bürgern Formen eines post-migrantischen Kommunitarismus, der auf Teilhabe, Vielheit, Empathie und Gerechtigkeit ausgelegt war. Auch heute sind noch acht Millionen Menschen daran beteiligt, den öffentlichen Raum und die Selbstorganisierung von nachbarschaftlichen oder lokalen Belangen auf inklusive Art in ein Verhältnis zueinander gestellt. Auch das ist die Macht der Migration.
Im Gegensatz zu der Zeit nach dem Mauerfall in den frühen 1990er Jahren, mit den unzähligen Brandanschlägen und den vielen Toten, gibt es heute trotz der neuen Konjunktur rassistischer Gewalt dennoch in wirklich jedem noch so kleinen Ort Menschen, die es als eine Bereicherung empfinden, wenn Leute zu ihnen kommen, die ihnen als fremd erscheinen. In der Öffnung des sozialen Raums findet eine umfassende Demokratisierung statt. Wenn sich die Menschen in der sog. Willkommenskultur fragen „Wie wollen wir zusammen leben?“, statt nach Identität zu fragen, also danach „wer wir sind und wer die anderen sind?“, entstehen demokratisierende Impulse, Gefühle der Empathie und Affekte der Solidarität, und eine Wiederbelebung des politischen Gemeinwesens. Die Alteingessenen sind dazu fähig, weil sie von den Migrantinnen und Migranten und ihrer Entscheidung, woanders ein neues Leben zu beginnen und sich ein Recht auf Teilhabe zu erkämpfen, berührt wurden.
Für eine Linke, die sich daran macht, eine inklusive Gesellschaft für alle zu schaffen und Migrationspolitik auf der Höhe der Zeit zu betreiben, ist eine postmigrantische Perspektive unabdingbar. Im Gegensatz zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Wünschen nach einer homogenen Gemeinschaft, zeugt die Geschichte der Migration nicht nur von der Unmöglichkeit einer starren Gesellschaft, sondern dass Gesellschaft ohne Migration gar nicht möglich wäre. Die Rechten erkennen die Macht der Migration, denn sie steht ihrem Projekt unmittelbar entgegen. Der neonazistische Terror des NSU sowie das Eingewöhnen an das massenhafte Sterben im Mittelmeer verfolgen weniger den Zweck, die 20 Millionen Migrantinnen und Migranten aus unserer Gesellschaft zu entfernen, als sie vielmehr auf subordinierte Plätze in der gesellschaftlichen Hierarchie zu verweisen. Wollen wir dem rechten Streben etwas entgegensetzen, an dem es scheitern wird, dann ist das eine empathische Haltung gegenüber Migration, die der Ungleichheit und Ausbeutung stets einen Impuls der Gerechtigkeit entgegenhält.
Das Buch „Macht der Migration“ hat sich diesem Impuls verschrieben. Es versammelt Texte und Interviews, die Gesellschaftspolitik aus einer postmigrantischen Perspektive beschreiben und Argumente für eine Gesellschaft der Vielen liefert.
Ein Gastbeitrag von Massimo Perinelli, Referent für Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das Buch Macht der Migration wurde auf dieser Seite auch rezensiert.