Israel vor den Wahlen: Radikale Rechte gegen Mitte-Rechts

Nachdem es lange nach einem sicheren Sieg der rechtesten Regierungskoalition der israelischen Geschichte aussah, scheint ein sehr knapper Wahlausgang bei den Wahlen zur 21. Knesset am 9. April wahrscheinlich.

Benjamin Netanjahu, seit nunmehr 10 Jahren Premierminister, steht im Zentrum dieser Wahlen. Ihm drohen jetzt mehrere Anklagen wegen Untreue, Bestechlichkeit und Betrug. Etwa die Hälfte der Bevölkerung steht fest im rechtsnationalistischen Lager und hält die Vorwürfe gegen ihn für eine Verschwörung der Medien und Linken oder für eine Bagatelle angesichts seiner Erfolge. Tatsächlich ist Netanjahu ein überaus erfolgreicher Premier: Ihm gelang das Kunststück den israelisch-palästinensischen Konflikt weitgehend von der internationalen Stellung Israels abzukoppeln und zum Vorbild illiberaler Demokraten und Verfechter des Ethnonationalismus zu werden, etwa der Visegrád-Gruppe oder des US-Präsidenten Trump, dessen Botschaftsverlegung nach Jerusalem Netanjahus Ruf eines Staatsmanns von Weltrang endgültig festigte. Zudem kann er glänzende makroökonomische Wirtschaftsdaten vorweisen: Das Bruttosozialprodukt pro Kopf ähnelt dem Frankreichs, die Wirtschaft wächst, und Israel ist heute erfolgreich in den globalen Lieferketten von Hochtechnologien etabliert.

Dass man Netanjahu mitnichten abschreiben soll, hängt stark mit seiner Fähigkeit zusammen, die schmale Mehrheit seines Lagers (in der jetzigen Knesset 67 von 120 Abgeordneten), aber auch seine Macht gegenüber noch rechteren Kontrahenten abzusichern, indem er zum einen den Likud als Protestpartei der Abgeschriebenen – vor allem der Mizrachim, also der Jüdinnen und Juden aus muslimisch geprägten Ländern, die heute die Hälfte der jüdischen Bevölkerung ausmachen – gegen das alte Establishment um die Arbeitspartei inszeniert und ans rechte Lager bindet, wodurch dieses eine schmale strukturelle Mehrheit hat. Zum anderen dämonisiert Netanjahu äußerst geschickt reale und vorgestellte äußere und innere Feinde, zunächst die Palästinenser, die Linke und das Friedenslager, in den letzten Jahren auch Geflüchtete aus der Subsahara, die Medien und die unabhängigen Gerichte.

Ein stetiger Rechtsruck des gesamten politischen Spektrums ist die Folge. Der Likud ist heute von einer alten Garde gesäubert, die zwar stramm rechts war, aber den Rechtsstaat achtete; gleich drei rechtsradikale Listen, darunter die offen rassistische Nachfolgepartei der verbotenen Kach und eine Partei, die eine Publizistin des internationalen Hetzmediums Breitbart News ins Rennen schickt, können zusammen mit mehr als 10% der Stimmen rechnen.

Auch der öffentliche Diskurs ist davon betroffen: Rabiater Ethnonationalismus ist heute in Israel mehrheitsfähig. Als eine Ministerin schwarzhäutige Geflüchtete als Krebsgeschwür beschimpfte, fand dies in der Öffentlichkeit vorwiegend Zuspruch, ebenso wie das Nationalstaatsgesetz, das demokratische Prinzipien der Gleichberechtigung aller Staatsbürger den Rechten der jüdischen Mehrheitsgesellschaft unterordnet. Auch Konzepte einer illiberalen Demokratie finden Zuspruch, etwa Netanjahus Unterstützung für Orbáns antisemitisch angehauchte Kampagne gegen den Philanthropen Soros oder die Angriffe der Justizministerin auf die Gerichte und von Regierungsmitgliedern auf die Armee, eine bis dato ‚heilige‘ Institution, da diese einen Soldaten vor ein Militärgericht stellten, nachdem dieser einen am Boden liegenden, schwerverletzten palästinensischen Attentäter erschoss.

Das wiederkehrende Motiv des schweigenden Generals

Mit der drohenden Anklage und den zunehmenden Angriffen auf Staatsinstitutionen wächst aber auch das Unbehagen, gerade beim Bürgertum. Das hat sich Blau-Weiß (Hebr.: Kachol Lawan; die Farben der israelischen Fahne) zunutze gemacht, eine bunt gemischte Truppe von vornehmlich männlichen Establishment-Vertretern, darunter gleich drei ehemalige Generalstabschefs, allen voran der schweigsame, aber stattliche Listenchef, Generalstabschef a.D. Benjamin „Benny“ Gantz. Militärs genießen enorme Popularität in Israel, das bewiesen schon die Generalstabschefs Rabin und Barak, die den Likud besiegen konnten, und so konnte sich Blau-Weiß als die Mitte-Rechts-Alternative etablieren und würde laut Umfragen mit über 25% der Stimmen größte Fraktion werden.

Rechtsnationalistische Hegemonie

Trotz des hitzigen Wahlkampfes werden die drei brennenden Fragen des Landes kaum angeschnitten: Der israelisch-palästinensische Konflikt, der dramatischte Abbau des Rechtsstaats sowie eine Austeritäts- und Steuerpolitik, die zur höchsten Armutsquote unter den OECD-Ländern, zur Schrumpfung der Mittelschicht und zur Konzentration von Reichtum bei einigen wenigen führt.

Das hängt vornehmlich mit einer rechten Hegemonie im Land zusammen: Auch die Mitte, bis hin zur sozialdemokratischen Arbeitspartei akzeptieren die (neo-)liberale Ausrichtung der Wirtschaft als alternativlos. Ebenso verhält es sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt: Auch hier konnte die Arbeitspartei, in Umfragen mit 5-8% der Stimmen auf einem Tiefpunkt angelangt, keine Alternative bieten, da sie selbst sich nicht zu hinreichenden Konzessionen gegenüber den Palästinensern durchringen kann und verkündet, es gebe keinen palästinensischen Partner zum Frieden. Somit bleibt auch Netanjahus Beschwörung, Israel müsse ewig „mit dem Schwert leben“, alternativlos.

Auch Blau-Weiß stellt diese hegemonialen Vorstellungen nicht infrage. Sie erwähnt eine Zweistaatenlösung mit keinem Wort und verspricht, sich nie aus dem Jordantal und Ostjerusalem zurückzuziehen – de facto eine Absage an einem lebensfähigen Palästinenserstaat. Auch an der wirtschaftlichen Ausrichtung soll nicht gerüttelt werden. Immerhin findet sie klare Worte gegen Korruption und für die Stärkung des Rechtsstaats und der Meinungsfreiheit.

Die Linke

Die einzige Ausnahme stellt die israelische Linke dar, die aber nach wie vor ein Nischendasein führt. „Links“ wird auf israelischen Schulhöfen mittlerweile so verwendet, wie in Deutschland das Wort „Opfer“. Meretz, die auf ihr linkes Profil stolz ist, steht nach wie vor für einen historischen Kompromiss mit den Palästinensern, für soziale Gerechtigkeit und eine progressive Geschlechter-, Verkehrs- und Umweltpolitik, bangt um den Einzug in die Knesset. Ihre Kandidatenliste – mit zwei Palästinensern und einer aus Äthiopien stammenden Aktivistin – stellt einen Kompromiss dar zwischen der Pflege ihrer tradierten, aber schwindenden linksliberalen, bildungsbürgerlich-europäischen Wählerschichten und dem Bestreben breitere Schichten anzusprechen.

Wahlplakat der Gemeinsamen Liste; (unten rechts auf arbabisch und hebräisch: „Meine/Unsere Antwort auf Rassismus“, auf der Wand steht: „Araber Raus!“, )

Dramatischer ist die Spaltung und damit das Ende der Gemeinsamen Liste, des vielleicht interessantesten progressiven Projekts der letzten Legislaturperiode. Diese schloss vier unterschiedliche Parteien, die die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel vertreten, und damit sehr unterschiedliche politische Positionen – von sozialistischen bis zu liberalen und islamisch-konservativen – ein. Vor allem die sozialistische jüdisch-arabische Chadasch/al-Dschabha sorgte dafür, dass die Gemeinsame Liste ein wahrlich progressives Projekt wurde, das ein gesamtgesellschaftliches politisches Angebot hatte und für ein Ende der Besatzung und für mehr soziale Gerechtigkeit eintrat. Mit 13 von 120 Abgeordneten ist sie drittgrößte Knesset-Fraktion, doch sie wurde durchgehend aus dem politischen Spiel ausgeschlossen. Zu diesem Frust gesellten sich personelle Querelen, vor allem der Anspruch des bekannten Politikers Ahmad Tibi auf die Führung der Liste, was schließlich zur Spaltung führte. Zu den Wahlen stellen sich die vier Parteien nun in zwei Listen, die programmatisch völlig willkürlich zusammengesetzt sind: Die Sozialisten zusammen mit Tibi, und die islamisch-konservative Partei zusammen mit der palästinensisch-nationalen, sozialdemokratischen Balad/al-Tadschamu.

Aussichten

Gewinnt das rechtsnationalistische Lager die Wahlen, so wird die jetzige Politik fortgeführt oder intensiviert, etwa die Annexion von Teilen der Westbank oder eine Vertiefung rechtsnationalistischer und sogar messianischer Inhalte im gesamten Bildungsbereich. Hat das rechte Lager keine Mehrheit, käme es zu einer recht komplizierten Regierungsbildung unter Beteiligung von Parteien aus dem jetzigen Regierungslager, wahrscheinlich unter Führung von Blau-Weiß, denn sie verkündete mit den arabischen Parteien nicht zu koalieren. Eine Regierungsbeteiligung von Blau-Weiß könnte aber den fortschreitenden Abbau der Demokratie aufhalten, die Kolonisierungsprozesse in der Westbank verlangsamen und die Rhetorik gegen den Iran abschwächen.

Die rechte Hegemonie im Lande grundsätzlich infrage zu stellen bleibt damit eine Aufgabe kommender Generationen.

Ein Beitrag von Tsafrir Cohen, Leiter des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Wer mehr über Mizrachim, Geflüchtete, Linke oder Gewerkschaften in Israel aus progressiver Sicht lesen möchte, dem empfehlen wir die Webseite des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung www.rosalux.org.il, zudem die beiden wunderbaren Reader, die Ihr frei Haus bestellen könnt unter: http://www.rosalux.org.il/publikationen/.


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