Linke Organisierung in der Coronakrise

Die plötzliche Ausnahmesituation der Corona-Pandemie schuf dringlichen Bedarf, als Linke – und: als DIE LINKE – in der Krise Bausteine einer linken Organisierung zu testen und zu nutzen. Ich beschränke mich in diesem Beitrag auf den Aspekt der methodischen Organisierung. Selbstverständlich ist allerdings, dass uns die Krise inhaltlich ebenfalls vor Herausforderungen stellt, weil sie einen – zunächst temporären, vermutlich aber auch in die Post-Corona-Zeit nachwirkenden – Wechsel der Betriebsweise erzwingen wird.

Denn auch, wenn diese Betriebsweise noch unscharf ist und umkämpft sein wird, ist eines klar: Es wird nicht umstandslos ein Zurück zur neoliberalen Betriebsweise der Deregulierung, Privatisierung und Vermarktung aller Lebensbereiche geben können, da diese Form die notwendigen stabilen Rahmenbedingungen nicht gewährleisten kann, in denen staatsinterventionistische Eingriffe und Absicherungen weiterhin erforderlich sein werden. 

Aber zunächst ist festzuhalten: 

Erstens: über-individuell. 

Eine linke Organisierung ist immer über-individuell. Sie spiegelt den gesellschaftlichen Konflikt, der ebenfalls kein individueller ist, sondern ein struktureller, auf der organisatorischen Ebene wieder. Wenn also unsere Gesellschaft durch eine strukturelle – nicht individuell bedingte – Ungleichheit bestimmt ist, die die Entfaltung der Individuen erheblich hindert, so muss sich auch eine linke Organisierung, die sich hiergegen stellt, auf Strukturen stützen, die die individuelle Aktivität aufnehmen aber diese Aktivitäten über eine Struktur des kollektiven Neins auf eine höhere qualitative Stufe heben, nämlich die der Gegenmacht. So richtig es ist, dass wir für den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung und für die Emanzipation viele Menschen gewinnen wollen, so unzureichend ist allein die häufig in diverse alternative Poesiealben geschriebene Methode, dass angeblich nur „viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, das Gesicht der Welt verändern” könnten. Das können Sie tatsächlich nicht. Sondern sie können dies erst dann, wenn dieser Aktivität eine Richtung gegeben wird. Das ist die Struktur des Widerstands. Das ist die – in unserem Fall: linke – Organisation.

Zweitens: real

Eine linke Organisation ist immer Teil der realen Welt. Auch hier spiegelt sie den gesellschaftlichen Konflikt wider, der nicht allein auf der Ebene sprachlicher oder virtueller Diskurse angesiedelt ist, sondern in handfesten materiellen Abhängigkeiten und damit Machtverhältnissen. Dabei wird nicht bestritten, dass institutionelle gesellschaftliche Redeweisen das Handeln der Menschen bestimmen. Zudem sind linke Organisationen, solange sie nicht in der Lage sind, die materiellen Abhängigkeiten zu wenden, also tatsächlich „die Machtfrage zu stellen” – also in ganz überwiegender Zeit ihrer Existenz – überwiegend damit beschäftigt, auf verfestigte gesellschaftliche Denk- und Redeweisen der Bevölkerung Einfluss zu nehmen. Gleichwohl sind sie – soll ihr Handeln nicht völlig folgenlos bleiben – darauf angewiesen, dass diese Einflussnahme mindestens an der Schnittstelle zu den tatsächlichen „gesellschaftlichen Stellschrauben” erfolgt: in den Betrieben, Bildungseinrichtungen, Vereinen, Gewerkschaften und ständigen Interessenvertretungen, den öffentlichen Verwaltungen vom Sozialamt bis zur Polizei und zum Militär, aber auch den Kultureinrichtungen, natürlich den Parlamenten und so weiter.

Ziel einer linken Organisierung ist es also, das individuelle „Nein” politisch und real wirksam zu organisieren: Es geht um den Gewinn der „kulturellen Hegemonie” durch die linke Organisation – häufig in Form einer klassischen „Partei”, durchaus aber auch als Form eines Netzwerks, einer Zeitung, eines politischen Zusammenhangs, der es gelingt, als „kollektiver Intellektueller” das Alltagsbewusstsein und hierbei auch die realen Machtverhältnisse zu verändern, deren tragender Bestandteil selbstverständlich die Eigentumsverhältnisse sind, weiterhin aber auch mit diesen verbundene, tief verwurzelte Unterdrückungsverhältnisse, etwa Rassismus oder Sexismus.

Es wird auf Dauer keine virtuelle Partei geben.

Aus diesen beiden Thesen ergibt sich für die Frage der linken Organisierung in der Corona-Krise dann folgendes:

Beide Notwendigkeiten – über-individuelles und reales Agieren – werden in der Zeit der Corona-Krise auf eine Belastungsprobe gestellt und stellt uns vor schwierige Aufgaben. Als Linke halten wir hier Gesundheitsschutz, Rationalität und Wissenschaftlichkeit hoch – im Gegensatz zu den fahrlässigen und gefährlichen Bestrebungen, unter Inkaufnahme von Gesundheit und Leben Produktionsabläufe am Laufen zu halten oder Schulen wiederzueröffnen. Erst recht stehen wir unmissverständlich im Gegensatz zu den geradezu irrwitzigen Theorien über angebliche Manipulation oder Verschwörungen mittels Corona. Aber gleichzeitig ergibt sich aus dem oben Aufgeführten, dass Kernpunkt unserer politischen Aktivität in organisierter Form weiterhin der reale Austausch, die praktische Auseinandersetzung in den beschriebenen Orten der Zivilgesellschaft und auch in der unmittelbaren Sphäre der Produktion bleibt. Oder kurz: Es wird weder über einen längeren Zeitraum, erst recht nicht auf Dauer, eine virtuelle Partei geben.

Wir benötigen die Ansprechbarkeit unserer Mitglieder in den Vereinen, die Treffen unserer Aktiven und Gremien für das notwendige politische „Update” und auch den Streit der Ideen und Meinungen. Und ja, auch für die innerparteiliche Demokratie. Diese ist keineswegs einfach durch Klicks oder Online-Abstimmungen zu ersetzen. Nicht nur in unserer Verfassung ist die Aufgabe der Parteien beschrieben als diejenigen, die zentral sind für die Willensbildung der Bevölkerung; es ist gerade auch für ein linkes Verständnis von Demokratie essenziell, die demokratische Willensbildung (und: -durchsetzung) nicht an große Feldherren der Geschichte, Experten oder auch individualisierte Bürgerabstimmungen zu delegieren, sondern den gesellschaftlichen Konflikt zu „gruppieren” – siehe erstens und zweitens. Für diesen kämpferischen demokratischen Prozess steht die Linke. Unser Verständnis von Demokratie als materiell bezogene Auseinandersetzung ist daher auf die realen Kämpfe – tatsächliche wie symbolische – angewiesen.

Den Digitalisierungsschub nutzen 

Auch und gerade in Corona-Krisenzeiten ist es daher weiterhin unsere Orientierung, Menschen in der Realität für uns zu gewinnen: im Gespräch, in der Aktion, im medialen Meinungskampf. Deshalb wenden wir uns etwa gegen die (temporäre) Entmachtung von Parlamenten und kommunalen Gremien. Wir wenden uns aus diesem Grund gegen das pauschale Verbot von Veranstaltungen, Demonstrationen und Kundgebungen. Jede Beschränkung von Veranstaltungen braucht einen plausiblen konkreten Grund – den gibt es selbstverständlich, wenn und soweit Gesundheitsgefahren drohen. Aber häufig sind praktische Aktionen dennoch möglich: etwa als Fahrrad- oder Motorradkorsos, als dezentrale Aktion mit Sicherheitsabstand, als Straßen-Malaktion mit Sprühkreide, als Verteilaktion in Briefkästen der Nachbarschaft. Oder als praktische Hilfeleistung für besonders gefährdete Gruppen: ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen, Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus und wohnungslose Menschen.

Selbstverständlich aber – und das ist auch eine Erfahrung aus der Krise für die Organisierung der Linken – verändert die Digitalisierung auch unsere politischen Möglichkeiten. Dies war vielfach für uns, gerade als Partei mit ihren spezifischen „althergebrachten” (im mehrfachen Sinne) demokratischen Formen, auch ein „erzwungener Schub”: Niemals wäre unter normalen Umständen die technische und organisatorische Digitalisierung der Partei in diesem Zeitraffer erfolgt wie unter dem Druck der Corona-Krise. In kürzester Zeit mussten sich Gliederungen der Partei damit befassen, wie sie ihre Versammlung als Telefon- oder Videokonferenz abhalten können, öffentliche Veranstaltungen im Internet durchführen oder einfach nur mit Abstand digital über Messengerdienste oder ähnliches effektiv kommunizieren können – und sich Gedanken dazu machen, wie sie dabei den Datenschutz beachten. Oder auch reale Aktionen mit digitalen Aktionen koppeln können.

Neben der tatsächlichen Begrenztheit dieser Kommunikationsformen ist vermutlich aber auch der eine oder andere sitzungssozialistische Zopf abgeschnitten worden: Lange Monologe, Fensterredebeiträge, folgenlose Debatten um des linken Kaisers Bart oder Phrasendreschmaschinengewehre werden jetzt viel deutlicher sichtbar und nach Ende der Kontaktbeschränkungen auch dauerhaft geräuschlos entsorgt – hoffentlich. Gleichfalls ist als Kollateralnutzen vielfach gelernt worden: Präsenzsitzungen sind wichtig – siehe erstens und zweitens. Aber wenn es nur um schlichte Informationsweitergabe geht oder keine intensiven Diskussionen anstehen, kann auch eine Videokonferenz den Zweck zeit- und kostensparend erfüllen. Viele Gremien berichten, dass in digitalen Formaten dieser Art sogar die Beteiligung von Genossinnen und Genossen ansteigt, die sonst nicht zu den häufig dort Gesichteten zählen.

Und nicht zuletzt: Jetzt ist die Gelegenheit, linke Organisierung auch durch einen einfachen, aber viel zu selten genutzten Trick zu verbessern – den klassischen Telefonanruf. Bereits vor Corona haben wir aus einer Umfrage unter LINKE-Mitgliedern erhoben, dass lediglich die Hälfte der Mitglieder persönlichen Kontakt zu anderen Parteimitgliedern haben. Nur etwa ein Viertel besucht Treffen der Partei. Nicht in allen Fällen ist das fehlender Zeit geschuldet, sondern der Tatsache, dass es Mitglied und Partei im hektischen „Tagesgeschäft” nicht gelingt, die – häufig zunächst recht fremde – Welt der Partei gemeinsam zu erschließen. Dazu bedarf es tatsächlich des direkten Kontakts. Und wir als Parteiaktive haben hier die Bringschuld. Denn es geht eben um die reale Welt. Siehe erstens und zweitens.


, .  – der es der Arbeiterklasse erlauben wird, organische Intellektuelle und eine alternative Hegemonie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu bilden.

Folglich stellte sich für Gramsci als politische Hauptaufgabe der Gewinn der „kulturellen Hegemonie“ durch die Partei als „kollektiven Intellektuellen“, die „Übersetzung“ der (marxistischen) Philosophie in Alltagsbewusstsein und ihre Bestätigung als „Philosophie der Praxis“.

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