Lebensmittelproduktion – Ausbeutung mit Systemrelevanz

Ein Ende der Ausbeutung auf Spargelfeldern und in Fleischfabriken setzt die Überwindung des institutionalisierten Rassismus ebenso voraus wie die Einschränkung der Marktmacht der Supermarktkonzerne. Das Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in Schlachthöfen ist dazu nur der erste Schritt.

Die Berichte von haarsträubenden Arbeitsrechtsverletzungen an migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern aus Osteuropa reißen nicht ab. Vor dem Erdbeer- und Spargelhof Ritter bei Bornheim protestierten Anfang dieser Woche die rumänischen Saisonarbeiter*innen. Statt des vereinbarten Lohns erhielten sie über Wochen nur ein geringes Taschengeld und verschimmeltes Essen zugeteilt und es mangelte an grundlegender hygienischer Versorgung und warmem Wasser. Zeitgleich werden täglich neue Corona-Fälle in Schlachtfabriken von Müller Fleisch, Westfleisch und Tönnies festgestellt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden in Massenunterkünften untergebracht und arbeiten am Schlachtband mit geringen Abständen im Akkord. Die körperlich anstrengende Arbeit macht es schwer, rund um die Uhr die Gesichtsmasken zu tragen. So wird der Arbeitsplatz zu einem Ort des besonderen Übertragungsrisikos.

Das Absurde: Gerade zu Coronazeiten wurde von Seiten der Regierung wochenlang immer wieder die Systemrelevanz der Beschäftigten im Ernährungssystem betont, zugleich jedoch das bestehende Arbeitsrecht aufgeweicht. Obwohl es in den Tarifverträgen längst eine weitreichende Flexibilität gibt, entschied die Bundesregierung, in der Ernährungswirtschaft die gesetzliche Höchstarbeitszeitregelung außer Kraft zu setzen und die Maximalarbeitszeit auf 12 Stunden pro Tag zu erhöhen. Erst in dieser Woche ging die Regierung eines der Kernprobleme an: Sie verbietet ab 2021 die Ausbeutung über Werkverträge in der Fleischindustrie. Für Werkverträge besteht keine Meldepflicht, weshalb das bisherige Ausmaß schwer zu erfassen ist. Eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung kam bereits 2013 zu dem Ergebnis, dass 57 Prozent der Nicht-Stammbelegschaft in der Ernährungsindustrie über Werkverträge bei Subunternehmen angestellt wurden. Werkvertragsarbeiterinnen erhielten pro Stunde 6 Euro weniger als die Stammbelegschaft. Diese Form der Scheinselbständigkeit ist in jeder Hinsicht inakzeptabel. Während sie sich in anderen Branchen aber auf zugekaufte Servicebereiche beschränkte (also beispielsweise die Gebäudereinigung in Fabriken), kamen die Fleischkonzerne jahrelang damit durch, die Kerntätigkeit in ihren Fabriken – das Zerteilen der Tiere – als externe Dienstleistung einzustufen. Ein absurdes Konstrukt.

In der Landwirtschaft wären ähnliche Schritte der Regulierung überfällig, doch das Gegenteil ist der Fall. Mit der Coronakrise setzte der Bauernverband auch hier eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 12 Stunden am Tag durch. Auch wurde der Zeitraum, in der Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter ohne Sozialversicherung beschäftigt werden dürfen, von 70 auf 115 Tage verlängert. Direkt vom Rollfeld der Flughäfen werden die Arbeiterinnen in die Unterkünfte transportiert, koordiniert von Bauernverband und Bundespolizei. Dies macht es der Agrargewerkschaft IG BAU unmöglich, sie über ihre Rechte zu informieren. Laut Verfügung des Agrarministeriums ist es weiterhin möglich, bis zu 20 Arbeiterinnen in eine Unterkunft zu pferchen. Schon in den letzten Jahren erhielten Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Papier den Mindestlohn, faktisch aber wurden ihnen für Massenunterkünfte, Anreise mit dem Bus und manchmal selbst für Arbeitsutensilien Teile des Lohns abgezogen. Kontrolle üben Betriebe oft aus, indem sie Pässe der Arbeitenden einbehalten, einen Arbeitsvertrag nur auf Deutsch ausstellen, oder, wie beim Betrieb Ritter in Bornheim vorgesehen, die Löhne erst bei Abreise der Arbeiterinnen und Arbeiter auszahlen.

Auf das Verbot der Werkverträge in der Fleischindustrie müssen für die Land- und Ernährungswirtschaft insgesamt weitere Schritte folgen, wenn die Bundesregierung es ernst meint mit der Systemrelevanz des Ernährungssystems. Statt Sonntagsreden braucht es eine Politik, die Sofortmaßnahmen zur Gesundheit am Arbeitsplatz mit Strukturreformen verbindet:  

Erstens – Kontrollen sicherstellen: Arbeiterinnen und Arbeiter in der Landwirtschaft und in der Fleischwirtschaft brauchen in Zeiten von Corona eine Erschwerniszulage, da sie sich besonderen Risiken aussetzen, und sichere Unterkünfte. Obwohl fundamentale Arbeitsrechte auch in den letzten Jahren schon vielfach verletzt wurden, haben Behörden zu Coronazeiten die Inspektionen am Arbeitsplatz runtergefahren. Notwendig ist aber gerade das Gegenteil: flächendeckende Inspektionen in besonderen Risikosektoren.

Zweitens – Rassismus im Ernährungssystem beenden: Land- und Fleischwirtschaft basieren in Deutschland auf der billigen Ausbeutung überwiegend osteuropäischer Arbeitskräfte. Nicht nur die Werkverträge über Subunternehmen in der Fleischwirtschaft, sondern auch die Möglichkeit der saisonalen Beschäftigung ohne Sozialversicherung in Agrarbetrieben ist nichts anderes als in Arbeitsgesetz gegossener Rassismus. Die Menschen, die in Deutschland das Essen produzieren, müssen für diese Zeit auch am Sozialsystem und am gesellschaftlichen Leben teilhaben dürfen. Schon in den Jahren vor dem social distancing durch Corona wurden sie faktisch von der Gesellschaft in Deutschland isoliert. Diese Diskriminierung muss insgesamt durchbrochen werden, und das Verbot der Werkverträge ist ein erster richtiger Schritt. Die Pflicht zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ist überfällig, ebenso wie die strenge Ahndung von Lohnabzügen. Wegweisend ist das neue Mitgliedschaftsmodell der Agrargewerkschaft IG BAU, das Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter auch eine temporäre Mitgliedschaft ermöglicht.

Drittens – die Macht der Supermarktkonzerne regulieren: Es ist richtig, dass viele Agrarbetriebe wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand stehen und dem Preisdiktat der vier großen Supermarktkonzerne EDEKA, ALDI, REWE und der Schwarz-Gruppe (LIDL) ausgesetzt sind. Der Vorschlag des Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck hilft jedoch nicht weiter. Ein Mindestpreis für Fleischprodukte würde durch den Einzelhandel einfach auf die Konsumentinnen und Konsumenten abgewälzt. Notwendig ist eine umfassendere Regulierung. Frankreich etwa hat Ende 2018 ein Gesetz über „ausgewogene Handelsbeziehungen im Agrar- und Lebensmittelsektor“ verabschiedet. Ziel des Gesetzes ist es, Bauern und Bäuerinnen sowie Zulieferern ein angemessenes Einkommen zu ermöglichen. Gleichzeitig dürfen Supermarktketten ihre Produkte nur noch zu maximal 110 Prozent des Einkaufspreises weiterverkaufen, und damit die höheren Preise nicht auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abwälzen. Weitere Bausteine wären wichtig: 2001 schaffte Rot-Grün das Rabattgesetz im Einzelhandel ab und öffnete damit die Schleusen für Unterbietungsschlachten im Verkauf zulasten der Zulieferer. Ein ähnliches Gesetz wäre dringend wieder nötig, ebenso wie ein Verbot unlauterer Handelspraktiken. Ein solches Projekt müsste damit Hand in Hand gehen, dass Essen für alle leistbar ist, angefangen mit einer massiven Erhöhung des Hartz-IV-Satzes.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 19.5. auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er wird hier in leicht aktualisierter Form publiziert.

Zum Autor: Benjamin Luig beschäftigt sich mit Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft. Von 2016 bis 2019 war er Leiter des Programms Ernährungssouveränität der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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