Gesellschaftliche Produktion von Verachtung

Bei der vorliegenden Arbeit von Stefan Welgraf „Hauptschüler“ mit dem Untertitel „Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung“, handelt es sich um eine Dissertation. Dennoch sollte man sich nicht vom wissenschaftlichen Anspruch dieser Arbeit abschrecken lassen, da das Thema verständlich und sehr gut recherchiert vorgestellt wird.

Die Arbeit basiert auf einer anderhalbjährigen Feldforschung mit Hauptschülern in West- und Ostberlin in den Jahren 2008/9. Im Jahre 2010 wurde dann in Berlin die Hauptschule abgeschafft. In einigen Bereichen zieht der Autor zum Vergleich Gespräche mit Schülern eines Berliner Gymnasiums heran.

Wellgraf unterteilt seine Studie in zwei Schwerpunkte „Selbstwahrnehmungen und kulturelle Praktiken“ sowie „Repräsentationen – Macht – Kritik“. Der erste Schwerpunkt „Selbstwahrnehmung und kulturelle Parktiken“ beruht zu einem großen Teil auf Gesprächen mit den Schülern. So hinterfragt der Autor im Kapitel „Soziale Beziehungen“ die Vorstellungen der Schüler von Freundschaft, Liebe und Anerkennung . Hierbei stellt der Autor fest, dass Liebesbeziehungen für die Schüler eine zentrale Rolle für ihr Selbstverständnis spielen. Diese helfen, das Gefühl der Ausgrenzung zu kompensieren und stellen eine „Ressource emotionaler Wertschätzung“ dar.

Besonders interessant war das Kapitel „Nach der Schule – Wege und Zukunftsvorstellungen“ in dem verdeutlicht wird, wie die Schüler den Übergang von der Hauptschule ins Berufsleben erfahren. Ein Satz der bezeichnend für die Situation der Hauptschüler in Deutschland ist, steht gleich zu Beginn des Kapitels, … „dass an dieser Schule seit zehn Jahren kein Schüler einen Ausbildungsplatz gefunden habe“.

Gegensätzliche Zukunftshoffnungen

Diese Tatsache steht in krassem Gegensatz zu den Zukunftshoffnungen der Schüler, die sich hauptsächlich einen gesicherten Arbeitsplatz, ein festes Einkommen und eine eigenen Familie. Wünsche, die wie der Autor feststellt, fast anachronistisch wirken, aber Ausdrucksformen eines Lebens sind, bei dem die grundlegenden sozialen und ökonomischen Bedürfnisse in Frage stehen. Die gleichaltrigen Gymnasiasten hingegen träumen von Weltreisen und Abenteuern im Ausland.

Auch jugendliche Migranten sehen nur äuβerst selten ihre Zukunft im Herkunftsland, dieses spielt eher als Reiseland in ihren Vorstellungen eine Rolle. Der Autor erkennt, dass sich unabhängig von der ethnischen Herkunft, die Zukunftsträume um familiäre Geborgenheit, berufliche Sicherheit und ein Leben in Wohlstand ohne Existenzsorgen drehen. Der Konflikt zwischen diesen Wünschen und der Realität der beruflichen Zukunftschancen wird im Folgenden eingehend an Beispielen dargestellt. Sehr deutlich aufgezeigt wird auch das Verhalten von Lehrern, die den Schülern häufig Desinteresse, Dummheit und oft auch kriminelle Ambitionen unterstellen. Die Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern ist deutlich gestört. Es wird festgestellt, dass die Zeit nach dem Verlassen der Schule von „Sorgen, Misserfolgen und Demütigungen geprägt“ ist.

Im letzten Kapitel des ersten Hauptteiles, das mit „Bürgerlichkeit“ überschrieben ist, unternimmt der Autor einen Vergleich zwischen den Lebensformen von Berliner Hauptschülern und Gymnasiasten. Er betrachtet verschiedene Lebensformen, Interessen und auch Geschmack in Bezug auf Kleidung. Auch untersucht er die Frage, ob es Kontakte zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten gibt und wie diese wahrgenommen werden.

Der zweite Schwerpunkt „Repräsentation – Macht – Kritik“ beschäftigt sich weitgehend mit der Frage, welche Einflüsse die Medien auf die Stigmatisierung der Hauptschüler haben und wie diesen begegnet wird. Darüber hinaus wird die Frage untersucht, welche politische Dimension Emotionen und Affekte haben sowie Ideologie und Mythos im Bildungssystem.

Mediale Stimmungsmache gegen Hauptschüler

Am Beispiel des Medieninteresses an der Berliner Rütli-Schule, hervorgerufen durch einen offenen Brief der Lehrerschaft, zeigt er auf, wie auch als seriös geltende Zeitungen durch die Wahl von Überschriften, Metaphern und Bildern zur Stimmungsmache gegen Hauptschüler und häufig von Migranten bewohnte Stadtviertel beitragen. Ein sehr interessanter Einblick in die Arbeit von Printmedien. Am Beispiel eines Berichtes in Forntal21 sowie eines Berichtes in Radioeins über Geschehnisse in Kreuzberg zeigt der Autor auf, wie Medien die Stimmung zum Teil bewusst, zum Teil aufgrund unzureichender Recherche beeinflussen.

Der Autor kontastiert: „Die Berichterstattung ist überwiegend negativ konnotiert und wird von einer alarmierenden und bedrückenden Grundstimmung bestimmt. Soziale Problemlagen werden zu Migrationsproblemen…“. Im folgenden geht Wellgraf darauf ein, wie die mediale Berichterstattung von den Hauptschülern wahrgenommen wird und welche Auswirkungen diese auf das Selbstverständnis hat. In einem weiteren Abschnitt wird der zum Teil ironische Umgang der Schüler mit Vorurteilen und Stigmata anhand einiger Beispiele dargestellt.

Der Umgang der Jugendlichen mit den digitalen Medien, mit Chat und Online-Communities wird in einem weiteren Abschnitt einer gründlichen Analyse unterzogen. Hierbei ist interessant, dass die Schüler ihre Präsenz in solchen Online-Communities durchaus kritisch sehen, zum anderen aber das Fehlen von Anerkennung in der realen Welt durch positive Selbstinzenierung in der digitalen Welt zu kompensieren. In den Online-Communities wird beispielsweise der Migrationsstatus, der in der Presse durchweg negativ konnotiert ist, positiv besetzt. Der Autor stellt jedoch auch fest, dass die häufig vertretene Annahme, „das Internet verleihe den Unterdrückten eine Stimme“, für die Berliner Hauptschüler nicht ganz zutreffend ist, da, wie er feststellt „ diese als Gruppe nicht über ein vorformuliertes politisches Programm verfügen“, man müsse vielmehr die Aufmerksamkeit auf die „Formen und Inhalte medialer Selbstpräsentation..jenseits offensichtlicher politischer Parteinahme richten“. Er stellt die Frage nach der politischen Dimension von unpolitisch wirkenden Ausdrucksformen.

Im nächsten Abschnitt beschreibt Wellgraf die sich am autoritären Erziehungsstil orientierende „konfrontative Pädagogik“, wie sie z.B. an der Anna-Seghers-Schule eingesetzt wird. Diese Form der Pädagogik reagiert mit Strafandrohung und Sanktionen bereits auf Kleinigkeiten um so „Groβes zu verhindern“. Sie betont die „väterliche Seite der Erziehung“ und versteht sich als Kritik an der als antiautoritär empfundenen „Feminisierung der Pädagogik“ seit den 70er Jahren. Sie nimmt Jugendliche als potentielle Gewalttäter wahr, basiert also auf einem negativen Menschenbild. Der Autor zeigt am Beispiel der besuchten Schulen auf, dass sich hinter der liberalen Fassade des deutschen Bildungssystems oft willkürliche und autoritäre Züge verbergen. So werden etwa Noten oder der Ausschluss vom Unterricht ebenso wie demütigende Äuβerungen als Bestrafung genutzt.

Die Abschaffung der Hauptschule in Berlin begrüβt der Autor, sieht diese jedoch nicht als Lösung des Problems, da „Respekt und Anerkennung in den westlichen Gegenwartsgesellschaften vor allem an beruflichem Erfolg und sozioökonomischem Status gemessen“ werden.

Diese gelungen und detaillierte Analyse, die auf Hauptschulen/schüler in ganz Deutschland übertragbar ist, ist eine lohnende und aufschlussreiche Lektüre, in deren Anhang sich umfangreiche weiterführende Literatur findet.

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