Frankreich am Ende der 5. Republik

Die Kandidatinnen und Kandidaten der Linken und des bürgerlichen Blocks vereinten bei der Präsidentschaftswahl 1981 (aus der François Mitterrand von der sozialdemokratischen Parti Socialiste, PS, als Sieger hervorging) rund 88% der abgegebenen Stimmen, 2017 waren es nur noch 40%. Als 2017 die Gaullisten (heute Les Républicains, LR) und die PS ihre Kandidaten nicht in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen bringen konnten, war auch politisch das Ende des gesamten Parteiensystems der 5. Republik eingeläutet.

Ökonomisch befand sich das Land bereits seit den Weltwirtschaftskrisen 1975 und 1982 und dem Scheitern der Reformpolitik der Linksunion in einem Umbruch. Nach der Abwahl des rechtsbürgerlichen Sarkozy, der sein Aufstiegsversprechen nach der Finanz- und Währungskrise nicht halten konnte, folgte 2012 Lionel Jospins Nachfolger als Erster Sekretär der PS, François Hollande, der an der Unentschiedenheit seiner Partei und der Weigerung der deutschen Großen Koalition scheiterte, seine Reformvorhaben durch neue EU-Strategien (Bankenunion) abzustützen. Das System der 5. Republik war also schon am Ende, als mit Emmanuel Macron 2014 eine neue Lichtgestalt der Modernisierer aus allen politischen Lagern auftauchte.

Die Modernisierungspolitik Macrons zielte darauf, bei lebensfähigen industriellen Kernen gleichwohl das sich verringernde Gewicht des verarbeitenden Gewerbes abzufedern, das Gewicht des staatlichen Sektors durch Privatisierungen zu mindern und damit die durch soziale Rechte verbrieften Ansprüche der Arbeitnehmerschaft zu schwächen. Die „Uberisierung“, die Plattformökonomie von abhängigen Selbständigen nicht nur in Dienstleistungsbranchen, wuchs und mit ihnen Hoffnungen auf soziale Höherpositionierung durch eigene Anstrengung. Die Gestaltungsprinzipien von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität wurden abgeräumt.

Doch vier Jahre später ist Macron entzaubert. Die Wahl der nationalistischen und anti-islamischen Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen im April 2022 ist weder auszuschließen noch ist sie für einen Teil der französischen Linkswähler ein absolutes „No go“. Die Regionalwahlen im Juni 2021 werden eine zersplitterte Linke mit bis zu sieben Parteien auf den Wahlzetteln zeigen, dazu die tief in der Fläche verankerte rechtspopulistische Sammlungsbewegung Rassemblement National (RN) und eine nur in wenigen Metropolen nennenswerte Präsidentenpartei LREM, die überdies oft noch mit den national-katholischen Republikanern (LR) um den zweiten Platz kämpft. Aber das linke und rechte Lager halten sich die Waage, weil Macrons Mitte zerfällt und die Dynamik der Verfassungsinstitutionen die Lagerlogik begünstigt. Die unverhohlene Putschdrohung aus Armeekreisen Ende April, die sich gegen Teile der Bevölkerung und die vermeintliche Laxheit der Regierenden richtete, ist ein Gradmesser für die steigende Spannung im Land.

Post-Pandemie-Wirtschaft

Das Jahr 2021 ist fast zur Hälfte schon Geschichte und das Land ist trotz des angekündigten 100-Milliarden-Euro-Erholungsprogramms für die Wirtschaft weder aus der Rezession heraus noch gar auf dem Weg zu einer runderneuerten Wirtschaft. Dazu fehlte dem Paket die Kraft (siehe Tabelle 1).

Das bis 2027 750 Mrd. Euro umfassende EU-Programm ist gemessen an den Dimensionen des US-amerikanischen Recovery-Programms ebenfalls eher klein bemessen und wird den Ansprüchen an eine eigenständige Rolle Europas, die Macron 2017 mit seiner Sorbonne-Rede formuliert hatte, kaum gerecht.

Macron ist auf eine „Vertiefung der Europäischen Union“ existenziell angewiesen, da nur diese ihm finanzpolitische Spielräume für makroökonomische, antizyklische Politik eröffnet. Nur in europäischer Dimension lassen sich Unternehmen zusammenschließen, die in einzelnen Weltmärkten konkurrenzfähig sind (Eisenbahn, Flugzeuge, Chemie) und damit französische Standorte sichern helfen.

Gleichwohl sieht der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire die EU in der Pandemie-Krise nicht geschwächt. Er streitet ab, dass vorrangig die Nationalstaaten agiert haben: „2020 war ein Jahr der großen Fortschritte für die Europäische Union, die uns geschützt hat. Alle Länder haben in gleicher Weise reagiert, indem sie Kurzarbeit, staatlich garantierte Kredite und den Solidaritätsfonds eingerichtet haben. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat besonders geholfen. Und zum ersten Mal in unserer Geschichte haben die Mitgliedstaaten der EU auf Initiative von Frankreich und Deutschland vereinbart, gemeinsam Schulden zu machen, um unsere Volkswirtschaften anzukurbeln. So ist es uns gelungen, eine größere politische Krise zu vermeiden. Seit drei Jahren setzen mein Freund Peter Altmaier (der deutsche Wirtschaftsminister, d. Red.) und ich uns dafür ein, dass die EU den technologischen Wettlauf mit den USA und China annimmt. … Diese Krise hat uns unsere industriellen Schwachstellen bewusst gemacht und uns gezeigt, dass wir gemeinsam stärker sind.“ Doch Altmaier kann sich in der Industriepolitik nicht durchsetzen. Und bei der Reorganisation des Airbus-Konzerns, der mit seinen verteilten Standorten und 25.000 Beschäftigten logistisch, betriebswirtschaftlich und auch ökologisch widersinnig organisiert ist, sowie bei der Aufteilung der Produktionsbestandteile des neuen europäischen Kampfflugzeuges für die 2030er Jahre werden sich beide Länder nicht einig.

Aufgrund der tiefen sozialen Spaltung und des Zurückfallens der unteren und mittleren Einkommen reicht die private Nachfrage nicht für einen Aufschwung. Die seit Jahrzehnten anhaltende Überakkumulation von Kapital lässt die Märkte als gesättigt erscheinen. Und der Staat, der unter dem Diktat des Haushaltsausgleichs ausgedörrt wurde, kann weder durch seinen Staatsverbrauch an diese Stelle treten noch durch ein entschlossenes Umbauprogramm neue Produkte und damit neue Märkte eröffnen, die dem überschüssigen Kapital neue produktive Anlagesphären erschließen. Umweltpolitik, Digitalisierung oder Pharmaindustrie könnten solche Felder für Innovationen sein.

Frankreichs Nationalversammlung hat mit großer Mehrheit für die Aufnahme des Klimaschutzes in die Verfassung gestimmt. „Sie (die Republik) garantiert den Erhalt der Umwelt und der biologischen Vielfalt und kämpft gegen den Klimawandel.“ Nun muss der von der Opposition dominierte Senat über die Verfassungsänderung abstimmen. Nur wenn beide Kammern dem identischen Text zustimmten, komme es zu einem Referendum, hatte Macron Ende vergangenen Jahres erklärt.

Das Gesetz sieht u.a. das Verbot bestimmter Kurzstreckenflüge in Frankreich vor, wenn eine Zugalternative existiert, deren Fahrtzeit nicht länger als zweieinhalb Stunden dauert. Außerdem soll der Straftatbestand des Ökozids geschaffen werden, wenn wissentlich schwer und dauerhaft die Gesundheit, die Flora, die Fauna oder die Qualität der Luft, des Wassers oder des Bodens geschädigt wird. Frankreich hat sich zum Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 40% zu senken.

Das Gesetzesvorhaben geht aus einem Bürgerkonvent zum Klima hervor, den Präsident Emmanuel Macron nach den Protesten der „Gelbwesten“ ins Leben gerufen hatte. Daran hatten sich zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger beteiligt und Lösungsvorschläge in Klimafragen erarbeitet. Im vergangenen Sommer hatte der Konvent die Vorschläge zur Bekämpfung des Klimawandels vorgelegt.

In einer bahnbrechenden Entscheidung im Februar hatte ein Gericht bestimmt, dass Frankreich mehr tun muss, um den Klimawandel zu bekämpfen. Das Pariser Verwaltungsgericht hat den Staat wegen „sträflicher Unterlassungen“ bei der Umsetzung seiner Politik zur Verminderung des Treibhausgasemissionen für schuldig erklärt. Die Mitglieder des Bürgerkonvents kritisierten dann aber zu Recht, dass der Gesetzesentwurf nicht ehrgeizig genug sei. Gemessen an den Ansprüchen, die Macron bzw. seine Berater formulieren, bietet das Gesetz in der Tat nicht viel. Der Ökonom und Berater von Emmanuel Macron, Philippe Aghion, ist überzeugt: „Man muss dem Wirtschaftswachstum nicht abschwören. Vielmehr lässt es sich umweltfreundlich und inklusiv gestalten.“ (Zit. n. NZZ online, 28.3.2021) Die großen Fortschritte der Menschheit „wurden durch umwälzende Innovationen eingeleitet, etwa die Dampfmaschine oder die Elek­trizität. Die mRNA-Technologie revolutioniert gerade die Impfstoffherstellung. Die kreative Zerstörung ist mitten unter uns.“ Aber diese Disruption bedarf der politischen Steuerung.

Den größten Widerstand sieht Aghion einerseits im Lager jener Unternehmen, die sich durch Mitbewerber bedroht sehen, und andererseits bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die um ihre Jobs bangen. „Es braucht deshalb ein Sozialsystem, das die kreative Zerstörung begleitet. Hier hilft ein ›Flexicurity‹-System, wie es Dänemark aufgesetzt hat.“ (Zit. n. ebd.) Allerdings haben die bisherigen Reformen der Arbeitslosenversicherung und der Altersversorgung, der Nachrangigkeit von Flächentarifverträgen und der Abschaffung des Arbeitnehmerstatus in den öffentlichen Unternehmen eher den Eindruck erweckt, es handele sich um Angriffe auf den Lebensstandard. Der hierdurch ausgelöste Widerstand führte zu einer autoritären Wende mit Notstandsgesetzgebung und Repressalien.

Die Innovation selbst gerät allerdings schnell ins Stocken, wie auch Aghion feststellt: „Während eines Jahrzehnts sorgten Firmen wie Google, Amazon, Apple oder Facebook in den USA für starkes Wachstum. Aber nachdem sie sich in der Wirtschaft breitgemacht hatten, verringerte sich das Innovationstempo. Es braucht deshalb eine neue Wettbewerbspolitik: Wenn die Wettbewerbsbehörde über Fusionen und Übernahmen entscheidet, muss sie im Blick haben, ob dadurch die Innovation beeinträchtigt und Markteintritte erschwert werden. Wir haben kein Ökosystem für Innovationen, wie es die USA haben. Ich denke etwa an die National Institutes of Health in Washington, an risikobereite Venture-Kapitalisten oder an die Agentur der US-Regierung, die die biomedizinische Forschung fördert, und zwar von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung. … Wenn man eine Produktion unterstützt, die auf Grundlagenforschung aufbaut, kann dies hilfreich sein. Wichtig ist aber die Kofinanzierung durch den Privatsektor. Wenn das Projekt nichts taugt, wird man keine privaten Partner finden, oder sie steigen aus. Industriepolitik sollte zu Markteintritten animieren.“ (Ebd.)

Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sieht für Europa eine eigenständige Rolle neben den USA und China. Dazu brauche es mehr industriepolitische Investitionen. Die Schweiz, als Pharmastandort und im Gesundheits- und Biotechnologiesektor bedeutsam, möchte er verstärkt in strategische Projekte einbinden.

Nach den massiven Gelbwestenprotesten traut sich Macron umweltpolitisch keine Maßnahmen mehr zu, mit denen die privaten Geldbeutel belastet werden könnten, denn zu Ausgleichsmaßnahmen fehlen ihm die finanzpolitischen Spielräume. So bleibt es hauptsächlich bei symbolischen Akten wie der Verfassungsänderung. Im eigenen Lager macht sich Enttäuschung breit. Bereits im vergangenen Jahr verließ eine liberal-ökologische Abgeordneten-Gruppe in Fraktionsstärke die LREM in der Nationalversammlung. Die liberale Transformation des Gesellschaftsgefüges wird von den Regierungen Macrons mit wachsender Repression durchgesetzt. Kleinere Parteien, die nun zur Mehrheitsbildung nötig sind, verweigern bei wichtigen Vorhaben die Gefolgschaft, gehen auf Konfrontationskurs (so das Mouvement démocrate, Modem, das sich für die Einführung des Verhältniswahlrechts einsetzt) bzw. zeigen seit den EU-Wahlen Auflösungserscheinungen (Union des démocrates et indépendants, UDI).

Die Republikaner, die sich wirtschafts- und finanzpolitisch als das Lager der Vernunft, des ausgeglichenen Staatshaushalts und der kulturellen Tradition inszenieren, können sich dem Sog Le Pens nicht entziehen: Einige ihrer einflussreichen Hoffnungsträger aus den Regionen wie Xavier Bertrand oder Nicolas Estrosi, denen es gelungen war, Brandmauern gegen RN zu errichten, haben die Partei verlassen.

Rechte Reaktion

Die Gelbwesten waren eine temporäre Allianz von prekärem Dienstleistungsproletariat und Kleingewerbetreibenden. Beide Gruppen waren empört, dass ihnen die „Privilegien“ tariflicher Absicherung und Mindestsicherungen von Sozialeinkommen nicht offenstanden, und bei den Kleingewerbetreibenden ging es auch darum, dass ihre wirtschaftliche Existenz durch Urbanisierungsprozesse, neues Konsumverhalten und Umweltgesetze verloren gehen könnte.

Dies schließt die Verteidigung parasitärer Anteile am Mehrprodukt ein, die durch die Umverteilung zugunsten der obersten 5% verlustig gingen. Der kleine Mittelstand bildet auch heute den Kern der Beunruhigung. In der Verschuldungsfrage kumulieren die Bedrohungsgefühle der Mittelschichten, auch darum traut sich Macron ein großes wirtschaftliches Erholungsprogramm nicht zu. Daher polemisiert Marine Le Pen auf allen Kanälen gegen Globalisierung, Innovation sowie gegen Umwelt- und Verschuldungspolitik.

„Meine Partei war es, die den großen Konflikt zwischen Globalisierern und Patrioten aufgedeckt hat – das hat die alte Trennlinie zwischen Linken und Rechten ersetzt.“ Einerseits sät sie Zweifel: „Wir wissen nicht, wie groß der Anteil des Menschen am Klimawandel ist.“ Andererseits instrumentalisiert sie den Umweltgedanken für die Zwecke des RN und schürt die Illusion einer national autarken Wirtschaft: „Ich finde, jeder Patriot muss ökologisch denken. … Unser ultraliberales Wirtschaftsmodell führt uns in den Abgrund. Solange unsere Produkte in zehntausend Kilometer Entfernung produziert und dann hierher transportiert werden, kann sich niemand rühmen, ökologisch zu handeln. Die Produkte müssen hier hergestellt und verarbeitet werden, nicht in den armen Ländern der Welt.“

Und zum Dritten verteidigt sie die Weigerung, traditionelle Lebens- und Konsumweisen zu ändern: Sie persönlich sei gegen eine „bestrafende Ökologie“ und habe ihren Fleischkonsum nicht reduziert, weil die Landwirtschaft einen großen Teil der französischen CO2-Emissionen verursache. Ebenso verweigert sie sich neuen Mobilitätskonzepten: „Wir können nicht von einem Tag auf den anderen sagen: Ihr dürft nicht mehr dieses oder jenes Auto produzieren. Die Industrie muss planen können. Das ging alles zu schnell, und ich will nicht, dass die Fabrikanten ihre Leute entlassen müssen und die Menschen verarmen. Dann haben wir niedrigere CO₂-Werte, aber die Leute sind arbeitslos, und ihre Kinder leiden. Ich schaue auf das Wohlergehen des Volkes.“

Neben diesem Versuch, Anschluss an die umweltpolitischen Diskurse zu finden, bleibt Le Pen ihrem rassistischen Ansatz treu und unterläuft dabei den von ihr selbst seit zehn Jahren ihres Parteivorsitzes betriebenen Versuch der Entdiabolisierung des FN bzw. RN. Einerseits bleibt sie sehr entschieden gegen die Einwanderung, die sie ins Zentrum von Referenden stellen will: „Zum Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft. Zu Abschiebungen derer, die hier arbeitslos sind. Wenn die Leute hier keinen Job finden, müssen sie zurück in ihre Heimat.“

Sie fordert zudem weiterhin das Verbot des Kopftuchs im öffentlichen Raum. „Das Kopftuch ist eine Störung der öffentlichen Ordnung. Es ist Ausdruck des Islamismus, den wir ausradieren müssen. So wie wir den Nationalsozialismus ausradiert haben, so wie wir den Rassismus ausradiert haben.“

Mit diesem Kulturkampf macht sie zugleich den schon von ihrem Vater als Parteivorsitzenden gepflegten Antisemitismus wieder hoffähig, weil sie generell das Verbot religiöser Symbole und Kleidung im öffentlichen Raum fordert, also auch das Verbot der Kippa. „Ja, ich habe die Juden um dieses Opfer gebeten. Denn wir müssen gegen das Kopftuch etwas tun, es gibt davon inzwischen hier so viele. Und in Frankreich kann man keine Gesetze gegen eine bestimmte Religion erlassen. Ich weiß, dass das ein Opfer für manche Juden ist, kein kleines, ein großes Opfer, um das ich bitte. – Und wenn die Juden das Opfer nicht bringen wollen? Le Pen: Wenn wir ein Gesetz verabschieden und die Leute Nein sagen, brechen sie das Gesetz, ganz einfach.“

Mit dieser Forderung spaltet sie die liberale und linke Öffentlichkeit, die sich der religiösen Neutralität des Staates verpflichtet fühlt (Laizismus). Hier liefert sich Frankreich nicht erst seit der Ermordung des Lehrers Paty eine heftige Debatte, ob der Islam zu Frankreich gehört und ob der Islamismus unterschätzt werde. Für Le Pen ist die Sache klar: Zuviel Einwanderung fördert die Islamisierung und Parallelgesellschaften, die wiederum zu Brutstätten des Islamismus werden, der wiederum den Nährboden abgibt für Terror.

Ein Teil der Linken hält dagegen und sieht sich dem Vorwurf des „Islamo-Gauchismus“ ausgesetzt. Macrons Kabinett reiht sich in diese Polemik ein, um Le Pen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Bildungsminister Jean-Michel Blanquer sagte im Sender Europe 1: „Das, was man ›islamo-gauchisme‹ nennt, richtet verheerende Schäden in den Universitäten an.“ Dort würden Ideologien verbreitet, die im Grunde zur Gewalt führen.

Seit die Ministerin für Hochschulbildung, Forschung und Innovation, Frédérique Vidal, eine Untersuchung des „Islamo-Gauchisme“, der vorgeblichen Allianz von Linken und Islamisten, an den französischen Universitäten angekündigt hat, ist die Aufregung dort groß. Dass Vidal sich unverfroren diesen „Klassiker“ der rechtsradikalen Le-Pen-Polemik zu eigen macht, stößt wie zu erwarten auf Widerstand. In einer Petition sprachen sich 600 Intellektuelle für Vidals Rücktritt aus, darunter der Ökonom Thomas Piketty und die Soziologin Dominique Méda. Die Motivation Vidals entbehre jeder empirischen Grundlage. Immer wieder taucht in den Wortmeldungen die Analogie zum NS-Kampfbegriff des „Judéo-Bolchévisme“ auf, unter dem auch die französischen Universitäten ab 1940 von jüdischen Mitgliedern „gesäubert“ wurden.

Dem widersprach die Konferenz der Universitätspräsidenten (CPU), woraufhin etwa 100 Forscherinnen und Forscher dem Minister mit einem Beitrag in Le Monde beisprangen und das Unvermögen vieler Universitäten, den Islamismus als verantwortlich für den Mord an Paty zu bezeichnen, anprangerten. Im Februar dann meldete sich Frédérique Vidal zu Wort und sagte im Sender CNews, dass der „›islamo-gauchisme‹ nicht nur die Universitäten“, sondern „die Gesellschaft“ vergifte.

„In Dekolonialismus und Postkolonialismus, Intersektionalität, Antirassismus und Gendertheorien glauben die Kritiker des ›islamo-gauchisme‹ neue Gegner entdeckt zu haben. Ihr Vorwurf lautet im Grunde: Diese Theorien vermischen Wissenschaft und Aktivismus. Sie seien blind gegenüber menschenfeindlichen Auffassungen jener, die sie als ›Subalterne‹ ausmachen, und sie untergraben somit die Werte des Westens, Freiheit, Universalismus und den Glauben an Geschichte, Subjekt und Fortschritt. Die Gegenseite sieht sich in solchen Angriffen eher bestätigt, denn was sollen das für westliche Werte sein, in deren Namen der Globus kolonial unterworfen wurde und die bis heute dazu dienen, den Herrschaftsanspruch des Westens zu untermauern. … Was auch damit zusammenhängt, dass durch die Grundlagen in der Sprachphilosophie die Arena der politischen Ausein­andersetzung vom Klassenkampf in den Diskurs verschoben wurde.“

Der Vorwurf trifft einen der wundesten Punkte einer Linken, die sich seit dem spektakulären Niedergang der kommunistischen Partei (PCF) in den 1980er Jahren in einer Dauerkrise befindet. In früheren klassischen PCF-Hochburgen wie dem Pariser Vorort Saint-Denis veränderte sich infolge der Migration aus den Ex-Kolonien Libanon, Algerien, Marokko und Tunesien die soziale Zusammensetzung stark. Traditionell „antiimperalistisch“ positioniert, umwarb anstelle der durch die Verwaltung der Missstände diskreditierten und ihrer traditionellen Wählerbasis entkernten Kommunisten die radikale Linke die neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Parolen, die sich oberflächlich wenig von den islamistischen Diskursen ihrer Heimatländer unterschieden. Identitäre Politik wird für rechte wie linke Opposition zum Ersatz für ökonomische und institutionelle Reformstrategien.

Macron sucht die Konfrontation mit Le Pen, was wenig Platz für die Republikaner lässt, und nur in einzelnen Regionen kommt es zu Absprachen zwischen seiner Bewegung und den Republikanern. Deren Versuch, sich am vermeintlichen Linksradikalismus zu profilieren, hat bisher als einigendes Band wenig genutzt. Der Streit zwischen Modernisierern und jenen, die zur Kooperation mit den Rechtspopulisten bereit sind, eskaliert im Vorfeld der Regionalwahlen erneut.

Die pulverisierte Linke

Die Linke hatte die Instrumente aus der Nachkriegsperiode mit dem Konzept der Planifikation modifiziert, mit dem die Gaullisten Frankreich ins Wirtschaftswunder der „Trente Glorieuses“, der dreißig goldenen Jahre, geführt haben und den Anschluss an die Weltmärkte fanden. Der Pakt der Résistance, der den Klassenantagonismus in einen institutionellen Rahmen goss, müsste auf Basis der völlig neu strukturierten Gesellschaft und Wirtschaft mit weitreichenden Zugeständnissen an die Lohnabhängigen erneuert werden. Die Gewerkschaften, nicht die politischen Parteien der Linken, waren damals die „Vertragspartner“.

Von den Bürgerinnen und Bürgern, die 2017 für Macron gestimmt haben, sind heute nur noch 62% entschlossen, dem Präsidenten zu einer zweiten Amtszeit zu verhelfen. Demgegenüber verzeichnet Marine Le Pen den Zulauf vieler Französinnen und Franzosen, die von Macrons Reformen und seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik enttäuscht sind oder deren Opfer wurden. Beispielsweise wollen 42% der Arbeiter für sie stimmen und 35% der unter 30-Jährigen, von denen viele vergeblich den Einstieg in ein stabiles Berufsleben suchen.

Angesichts ihrer oft sehr unterschiedlichen Positionen zu innen- und europapolitischen sowie wirtschafts- und sozialpolitischen Themen zeichnet sich zwischenzeitlich eine Teilung der Linksparteien in zwei Lager ab. Das eine bezeichnen Beobachterinnen und Beobachter als „grün-rosa“. Es umfasst die Grünen, die Sozialisten und ihnen nahestehende Kräfte. Das zweite, „tiefrote“, wird durch La France insoumise repräsentiert. Der LFI-Kandidat Jean-Luc Mélenchon kann den Umfragen zufolge auch als bestplatzierter Linker im ersten Wahlgang nur mit 10% der Stimmen rechnen, während es bei der letzten Wahl immerhin 19,58% waren.

In diesen Auseinandersetzungen bleibt die Linke nicht zuletzt deshalb in der Defensive, weil sie keine Zukunft beschreiben kann, in der die Kategorien des „Klassenkampfes“ wieder eine Rolle spielen. Sie verfügt über keinen Entwurf zur Modernisierung der Gesellschaft, die das Gefühl des Zurückgesetzt-Seins, der sozialen Benachteiligung kompensiert und individuelle Entwicklungschancen in einer solidarischen Gesellschaft möglich erscheinen lässt. Sie hat vor allem keine Vorstellung von der Rolle des Staates in diesen Prozessen.

Als 1981 die Linksunion unter dem Staatspräsidenten Mitterand ihre Chance bekam, den Fordismus zu modernisieren, scheiterte sie jedoch mitten in der Weltwirtschaftskrise an explodierender Inflation, Wechselkursschwankungen nach dem Zusammenbruch des dollar-gebundenen Systems von Bretton Woods und dem mit Reagan und Thatcher überall obsiegenden Dogma der gesunden Staatsfinanzen sowie letztlich an der eigenen Angst, in die Verteilungsverhältnisse einzugreifen. Umverteilung durch Arbeitszeitverkürzung und Stärkung der Massenkaufkraft wurden zu zaghaft angegangen. So bleibt auch die Verstaatlichung vermeintlicher Schlüsselindustrien lediglich ein Formalismus.

Die Konzepte zum Aufbau von „Zukunftsindustrien“ (Luftfahrt, Hochgeschwindigkeitszüge, flächendeckender Ausbau der Atomkraft usw.) hatten linkssozialistische Intellektuellen-Zirkel wie CERES ausgearbeitet bzw. weiterentwickelt. Gemessen am damaligen Stand der innerlinken Debatte sind die heutigen Diskussionen nicht auf der Höhe der Zeit und knüpfen auch nicht am Problemverständnis der modernen Arbeitnehmerschichten an.

Aber auch Macron droht zu scheitern, denn es ist ihm nicht gelungen, eine gesellschaftliche Allianz für seinen Modernisierungskurs zu schmieden. Marine Le Pen hat deshalb eine nicht zu unterschätzende Chance, im Jahr 2022 Präsidentin der Republik zu werden, vorausgesetzt, dass mindestens eine der folgenden drei Bedingungen erfüllt ist: dass sie in der öffentlichen Meinung ausreichend „entdämonisiert“ wird; dass sich eine größere Porosität bei den Wählerinnen und Wähler von Les Républicains manifestiert, und dass Emmanuel Macron mindestens gleichwertig abstoßend erscheint.

Die von Marine Le Pen verfolgte Strategie der Entdämonisierung trägt Früchte: Die Meinung der Bürgerinnen und Bürger über die RN-Kandidatin hat sich seit Beginn der Amtszeit von Emmanuel Macron weitgehend verbessert. Auf der anderen Seite hat sich das Programm des Rassemblement National dem der Republikaner angenähert.

Auch wenn die Wählerschaft derzeit noch recht unterschiedlich ist, deutet die Annäherung, die in kulturellen (Innere Sicherheit, Rassismus usw.) Fragen stattgefunden hat, mindestens auf die Möglichkeit von Stimmenübertragungen im zweiten Wahlgang hin. Schließlich weckt Emmanuel Macron eine deutliche Ablehnung in der restlichen Bevölkerung, was zu Befürchtungen einer signifikanten Enthaltung im Falle eines Duells gegen Marine Le Pen führt. Diese Dynamik zu stoppen, ist unabdingbar, und dazu muss nach Einschätzung der Jean-Jaurès-Stiftung eine Diskussion um die folgenden drei Achsen eingeleitet werden:

  1. Eine moralische Opposition gegen rechtsextreme Parteien kann ein guter Weg sein, um deren Wachstum zu bremsen. Diese Strategie ist jedoch ziemlich unwirksam, wenn diese politischen Formationen bereits stark etabliert sind. Unter diesen Bedingungen erweist sich eine einfache moralische Opposition, eine einfache Stigmatisierung dieser Partei, als ziemlich unwirksam. Es ist also das politische Feld, das Feld der Ideen, in das man wieder investieren muss, um die Entwicklung dieser Partei dauerhaft zu bremsen. Allerdings müssen die so genannten republikanischen Parteien immer eine Art ›cordon sanitaire‹ aufrechterhalten, zumal diese Ablehnung/Reserviertheit gegenüber der extremen Rechten in der öffentlichen Meinung weit verbreitet ist.
  2. Im Laufe der Jahre ist die Stimme für RN eindeutig zur Stimme der Arbeiterklasse geworden, insbesondere derjenigen, die im ländlichen Frankreich leben. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 erzielte Marine Le Pen einen Stimmenanteil von über 30% unter Arbeitern, Angestellten und Arbeitslosen. In der jüngsten Ifop-Umfrage für die Wochenzeitung ›Marianne‹ waren ähnliche Ergebnisse zu sehen.
  3. Es ist recht eigenartig, dass die beiden Kandidaten, die derzeit in allen Meinungsumfragen als Favoriten für die nächste Präsidentschaftswahl ausgewiesen werden, diejenigen sind, die außerhalb ihrer Wählerbasis am meisten abgelehnt werden. Das ist das Problem mit dem Mehrheitswahlrecht, vor allem wenn politische Familien auseinanderbrechen, wie es in Frankreich seit 2017 der Fall ist. Kandidaten wie Emmanuel Macron oder Marine Le Pen, die über eine solide Wählerbasis verfügen, aber in der zweiten Runde keine Unterstützerstimmen generieren können, könnten dennoch in der Lage sein zu gewinnen. Eine Mehrheit der französischen Bevölkerung ist gezwungen, im zweiten Wahlgang für eine Kandidatur zu stimmen, die sie am liebsten gar nicht oder am wenigsten nicht mag. Die Wertschätzung für das vom Rassemblement National vertretene Gesellschaftsmodell ist außerhalb der Wählerbasis von Marine Le Pen in der ersten Runde tatsächlich recht gering.“

Von der Linken erwartet man ein Programm, das Wirtschaftswachstum, Umweltschutz und gesellschaftliche Inklusion vereint, bisher vergebens. Das ist wohl mit ein Grund, warum der Vorsitzende des größten Gewerkschaftsbundes CFDT sich bereit erklärt hat, an der Verbesserung von Macrons Rentensanierungs­plänen mitzuwirken.

Vieles wird bei den Wahlen davon abhängen, ob sich die Wirtschaft erholt, wieviel in der Bevölkerung ankommt und welche Wertschätzung das findet. Die Zahlen des ersten Quartals deuten auf eine Erholung hin.

„Frankreichs institutionelle Architektur erweist sich als inkompatibel mit der Bildung eines neuen herrschenden Blocks.“ Dies hatte die Links-Nationalisten um LFI und Jean-Luc Mélenchon bereits im letzten Wahlkampf dazu veranlasst, die 6. Republik auszurufen, ohne in der Substanz etwas beitragen zu können. Statt mit populistischen Parolen Wählerschichten anzusprechen, die sich von der Linken abgewandt haben, hätte die Linke heute, wo die Umfragen Mélenchon ein Desaster prognostizieren, die Option, sich an „die mittleren und oberen Sektoren des öffentlichen Sektors zu wenden, um den linken Block wieder zu vereinen“. Das hieße, sich in dieser Situation auf Wege zur Überwindung der Pandemie-Krise zu verständigen und die vordringlichsten Aufgaben zum Schutz der benachteiligten Schichten in Angriff zu nehmen. Eine der Herausforderungen einer sich differenzierenden Gesellschaft besteht dabei darin, die ungleiche Behandlung ungleicher Lebensverhältnisse erklärbar und aushaltbar zu gestalten.

Ein Beitrag von Bernhard Sander, er ist Redakteur von Sozialismus.de. Dieser Beitrag erschien im neuen Heft von Sozialismus.

1 Die quantitativen Dimensionen und Branchenimpulse sind dargestellt in: Bernhard Sander, Frankreichs Flughöhe. Wiederaufbau der französischen Wirtschaft, in: Sozialismus.deAktuell, 25.9.2020.

2 NZZ, 6.4.2021

3 Vgl. Bernhard Sander: Strategie der Spannung. „Schlacht für Frankreich“? in: Sozialismus.deAktuell 3.5.2021

4 Vgl. Bernhard Sander, Marine Le Pens politisches Comeback, in: Sozialismus.deAktuell, 6.3.2021.

5 Die Zeit, 6.5.2021

6 Leander F. Badura, Mao mit Mohammed. In Frankreich wird über „islamo-gauchisme“ gestritten, in: Freitag, Ausgabe 11/2021

7 jean-jaures.org/nos-productions/2022-evaluation-du-risque-le-pen (Übersetzt mithilfe von www.DeepL.com/Translator).

8 B. Amable/St. Palombarini: Von Mitterrand zu Macron – Über den Kollaps des französischen Parteiensystems, Berlin 2018, S. 249.

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