Feministische Radikalität unter Haushaltsvorbehalt

Kaum ein anderer sozialer Akteur hat in den letzten Jahren weltweit für so viel Aufsehen gesorgt, wie die feministische Bewegung in Argentinien: sie versammelte immer wieder Hunderttausende hinter radikalen und anti-kapitalistischen Forderungen; sie inspirierte feministische Kämpfe in einer Vielzahl von Ländern und ist eine treibende Kraft in einer neuen transnationalen Bewegung; und sie strahlte auf diese Weise in ganz unterschiedliche Räume und Organisationen aus. Heute kommt in Argentinien kaum jemand am Feminismus vorbei – auch nicht die neue Mitte-Links-Regierung. Doch die Verbindungen mit institutioneller Politik wird die große Herausforderung für die feministische Bewegung in nächster Zeit sein.

Weltweit wurde die argentinische Bewegung erstmals 2015 wahrgenommen, als das Kollektiv NiUnaMenos riesige Demonstrationen gegen Femizide organisierte. Als Reaktion auf einen besonders brutalen Femizid wurde innerhalb einer Woche der erste feministische Streik am 19. Oktober 2016 organisiert, der Massen bewegte und Impulse für weitere und immer breitere Mobilisierungen setzte. Das meint nicht nur die folgenden internationalen Streiks am 8. März jeden Jahres, die die Arbeitsbedingungen von Frauen im so genannten produktiven und reproduktiven Bereich beleuchteten und gleichzeitig diese Spaltung in Frage stellten. Sondern es bezieht sich auch auf die so genannte „marea verde“ (dt. grüne Welle). Nachdem die Nationale Kampagne für das Recht auf legalen, sicheren und freien Schwangerschaftsabbruch seit mehr als 12 Jahren entsprechende Gesetzesvorlagen eingebracht hatte, wurde diese Vorlage schließlich 2018 im Kongress debattiert. Das ging einher mit Massenmobilisierungen und Aktionen, die leuchtend grün eingefärbt waren. Das Gesetz wurde nach einer ausführlichen politischen und gesellschaftlichen Debatte im Parlament zwar verabschiedet, aber der weitaus konservativere Senat lehnte es schließlich doch ab. Die grünen Halstücher, das Zeichen der Kampagne, sind aus dem öffentlichen Bild nicht mehr wegzudenken.

Doch das feministische Aufbegehren in dieser gleichzeitig radikalen und massiven Weise ist nicht spontan, sondern setzte lange Aufbauarbeit voraus und aktualisiert historische Kämpfe. Dazu gehören laut Véronica Gago, Mitglied von NiUnaMenos, sowohl die Mütter des Plaza de Mayo, die sich seit der Diktatur in den 70er Jahren für Menschenrechte einsetzten, die seit 1986 jährlich stattfindenden Plurinationalen Treffen von Frauen, Lesben, Trans-Personen und Travestis (früher: Nationale Frauentreffen), die von anfänglich 1000 auf zuletzt 250.000 Teilnehmerinnen angewachsen sind; die Piquetero-Bewegung gegen die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise ab 2001, in der ebenfalls Frauen eine zentrale Rolle gespielt haben; und schließlich die lange Geschichte der queeren Emanzipationsbewegungen.

„Ahora que si nos ven“ (dt. Jetzt, wo sie uns endlich sehen), ein weit verbreiteter Slogan in feministischen Mobilisierungen und Debatten, kennzeichnet die starke Position der Bewegung ebenso wie ihr Selbstvertrauen. Es ist daher eine Neuheit, aber nicht überraschend, dass die neue Mitte-Links-Regierung von Alberto Fernandez und seiner Vizepräsidentin Cristina Kirchner, die im Dezember 2019 ihr Amt aufnahm, von Anfang an erklärte, eine feministische Perspektive als tatsächlichen Querschnitt durch alle Politikbereiche zu ziehen. Überwacht wird dies vom neuen Ministerium für Frauen, Geschlecht und Vielfalt, das sich aus renommierten feministischen Aktivist*innen zusammensetzt. Die Ministerin Elizabeth Gómez Alcorta hat große Pläne: die Entwicklung eines umfassenden Ansatzes auf das weiterhin grassierende Problem männlicher Gewalt, der zudem einen klaren Unterschied zu der auf Strafe fixierte Politik der Vorgängerregierung von Mauricio Macri darstellen soll; die Umsetzung eines „Nationalen Plans für Sorgearbeiten“, um die strukturellen Ungleichheiten, denen Frauen und Queers ausgesetzt sind, zu mildern; die Förderung von sexueller Vielfalt, insbesonder die Verabschiedung eines Gesetztes für eine Beschäftigungsquote für Trans*personen im öffentlichen Sektor; und schließlich verpflichtende Weiterbildungen für die Staatsbediensteten auf allen Ebenen zu Geschlecht und Gewalt (festgeschrieben im sogenannten Ley Micaela). Mit diesem letzten Vorschlag wurde bereits begonnen, wobei der Präsident selbst an der ersten Maßnahme teilnahm.

Allerdings bleiben einige Fragen bezüglich des Ziels des Querschnitts bestehen. Beispielhaft lässt sich das am Problem der Femizide aufzeigen, von denen allein im Januar dieses Jahres 34 gezählt werden mussten. Selbst für argentinische Verhältnisse eine besonders hohe Zahl.  Was bedeutet es, in diesem Bereich politisch wirksam zu sein? Laut den starken Analysen und Forderungen der feministischen Bewegung in den letzten Jahren kann das Problem nicht mit einem einzigen, abgegrenzten Programm angegangen werden, sondern erfordert einen integralen Ansatz, der die Wechselbeziehung und die gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Arten von Gewalt anerkennt. Eine wirksame Politik fordert mindestens eine Revision des Justizsystems auf allen Ebenen benötigen, einschließlich des aktuellen Fokus auf Bestrafung. Gleichzeitig hat die feministische Bewegung die Beziehung zwischen körperlicher und ökonomischer Gewalt herausgearbeitet, weshalb der Kampf gegen Femizide eine wirtschaftliche Debatte unbedingt erfordert. Die tatsächliche Macht des Ministeriums für Frauen, Geschlecht und Vielfalt ist mit Blick auf diese großen Aufgaben noch sehr ungewiss.

Ein weiterer Schlüssel, um über die Herausforderungen nachzudenken, denen sich die Feministen aktuell gegenübersehen, ist zweifellos die Verabschiedung eines Gesetzes über legale Schwangerschaftsabbrüche (Interrupción Voluntaria del Embarazo – IVE), das nicht nur die Entkriminalisierung, sondern auch den freien und sicheren Zugang regeln soll. Der Peronismus – aus dem die neue Regierung stammt – ist in dieser Frage gespalten. Selbst Cristina Kirchner legte während ihrer Amtszeit als Präsidentin (2007-2015) zunächst ein Veto ein und änderte 2018 ihre Position zugunsten von Abtreibungen. Derzeit sind die Signale, die Präsident Fernandez an die feministische Bewegung sendet, zwar positiv, aber nicht ohne Ambivalenzen. Nach seiner Wahl kündigte er an, dass unter seiner Leitung, ein solches Gesetz eingebracht werde. Anders als 2018 legt also das erste Mal in Argentinien eine Regierung selbst einen Gesetzentwurf dem Parlament vor, was die Chancen der Zustimmung erhöht. Die Regierungspartei verfügt über eine Mehrheit im Senat, und es kann erwartet werden, dass sich ihre Abgeordneten stärker für die eigene Maßnahme einsetzen werden, aber in so sensiblen Fragen ist die Abstimmung in der Regel nicht so einheitlich wie in anderen Debatten.

Darüber hinaus war eines der ersten Treffen des Präsident nach Amtsantritt zwar in der Tat mit der Kampagne für das Recht auf Abtreibung, in dem er gemeinsam mit dem Gesundheitsminister und der Frauenministerin versprach das Thema in einen größeren gesundheitspolitischen Rahmen zu stellen. Die Politik von Fernandez ist jedoch viel näher am Dialog mit dem Vatikan als die Vorgängerregierung. Dass der Druck der katholischen Kirche dennoch schon 2018 ausschlaggebend für die Blockade des IVE-Gesetzesprojekts ist deshalb kein gutes Omen.

Ein positives Zeichen ist, dass der Präsident das feministisch renommierte Kabinettsmitglied Vilma Ibarra – die zuvor das Gesetz über Geschlechtsidentität und das Gesetz über die „Ehe für alle“ entworfen hatte – mit der Ausarbeitung des Gesetzestextes beauftragte und damit großen Einfluss auf eine Schlüsselfrage gab: Bleibt es bei einer Entkriminalisierung stehen, oder geht es in Richtung Legalisierung.

Im Moment unterstützt die Kampagne ihr eigenes IVE-Gesetz, das in jahrelanger Arbeit, Debatte und Auseinandersetzung in der Bewegung aufgebaut wurde, aber auch die Bewegungsakteurinnen sind von der gesellschaftlichen Polarisierung nicht ausgenommen. Um sich deutlich gegen die neoliberale Politik der Vorgängerregierung von Macri zu positionieren, könnten unter Umständen feministische Forderungen – etwa jene nach völliger Legalisierung – abgeschwächt oder stärker sozialen Maßnahmen Priorität eingeräumt werden.

Diese für die feministische Bewegung insgesamt typische Spannung ist eine der entscheidenden Herausforderungen für 2020: wie kann der politischen Radikalität der feministischen Forderungen Ausdruck verliehen werden, wenn sie im Dialog mit einem Hegemonieprojekt stehen, das in seiner Aufbauphase eventuell sozialer Inklusion vor sogenannter Identitätspolitik den Vorrang gibt? Der gesamte Prozess des feministischen Querschnitts unterliegt dem jährlichen Haushaltsgesetz, über das noch nicht abgestimmt wurde, weil die Verhandlungen über Staatsschulden und ihre Fälligkeiten noch nicht abgeschlossen ist. Dies wird die gesamte öffentliche Politik bestimmen und auch die Reaktionen und Aktionen der feministischen Bewegung beeinflussen.

Ein Artikel von Florencia Puente und Alex Wischnewski, Buenos Aires


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