Proteste nach Terroranschlag

Eine (weitere) Explosion in Ankara – ein ganzes Land auf dem Pulverfass

Ich sitze mit einem Freund in der U-Bahn in Istanbul und er erzählt mir von den letzten Tagen. Das Semester hat gerade begonnen, er studiert Kunstgeschichte. Er sagt, dass es bisher noch in keiner Stunde um Kunst ging. Alle DozentInnen reden nur über die aktuelle Lage der Türkei. Interessant, sage ich, und was besprecht ihr da so? Heute hatte der Dozent gefragt, was diese Woche los war. Da mein Freund neben seinem Studium für eine bekannte linke Nachrichtenagentur in der Türkei arbeitet, weiß er bestens Bescheid und führt aus: die Kommission zur Verfassungsüberarbeitung wurde aufgelöst, da die CHP die Kommission verlassen hat. Nun will Erdogan eine Volksbefragung durchführen, um doch noch das Präsidialsystem dingfest zu machen. Dann natürlich der Angriff des türkischen Militärs auf die YPG, die Volksverteidigungskräfte in Rojava. Schon seit einiger Zeit ist eine „Sicherheitszone“ in Nord-Syrien geplant, die unter Kontrolle der Türkei stehen und de facto die Autonomie der PYD auflösen sollte. Nachdem die USA sich vor kurzem nun eher gegen die AKP Regierung und etwas mehr auf der kurdischen KämpferInnen gestellt hatte, kam es zur rechten Zeit, dass Angela Merkel sich ebenfalls für eine solche Zone aussprach. Während Assad oder Erdogan also unbehelligt im Nahen Osten Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung fliegen, wird es auf einmal kritisch, sobald russische Kampfjets am Himmel erscheinen.

Wenn mein Freund morgen wieder nach den Ereignissen der Woche gefragt wird, kommt noch ein neues hinzu, dessen Ausmaße wirklich ungewiss sind. Am Mittwoch Abend erschütterte eine Explosion die Hauptstadt Ankara. Im Regierungsviertel detonierte eine Autobombe neben einem Militärkonvoi. Zum aktuellen Zeitpunkt haben mindestens 24 Menschen ihr Leben verloren, 45 weitere sind verletzt. Erdogan und Davutoglu riefen sofort eine Sondersitzung ein. Zum gleiche Zeitpunkt wie die Krankenwagen vor Ort traf auch die Nachrichtensperre ein, die es verbietet über den Vorfall zu berichten. Besonders auffällig ist dabei immer, dass die Internetgeschwindigkeit gedrosselt wird und Seiten wie facebook oder Twitter nur sehr langsam geladen werden.

Bisher gab es noch keinen Bekenner zu dem Anschlag und auch noch keine Anschuldigungen von Seiten der Regierung. Doch wen es trifft, oder wer es gewesen sein könnte, ist aus der aktuellen Lage leicht zu mutmaßen. Seit letztem Sommer greift das Militär die Zivilbevölkerung im kurdischen Teil des Landes an. Kurdische Organisationen wie die PKK wehren sich seitdem dagegen und haben vor einigen Wochen bekannt gegeben, dass ab März der Kampf in die großen Städte getragen werden wird. Ist das nun der Anfang? In den letzten Monaten ereigneten sich furchtbare Massaker in den kurdischen Städten wie Diyarbakir, Nusaybin und zuletzt in Cizre, wo mehrere Menschen tagelang in einem einstürzenden Haus gefangen waren und letztendlich unter Feuerbeschuss der türkischen Armee starben. Diese Aktionen werden dann von diesen Sondereinheiten PÖH/JÖH der Polizei in den jeweiligen Social Media Accounts gefeiert. Das besondere ist, dass für diese sogenannten „Säuberungen“ im Osten eigentlich nicht die Soldaten der Armee eingesetzt werden, da die AKP nach wie vor befürchtet, dass das Militär in alter kemalistischer Manier sich gegen die islamistische Regierung wendet und einen Putsch vorbereiten könnte. Die nun eingesetzten Sondereinheiten unterstehen jedoch direkt dem Präsidenten und gelten als besonders zuverlässig.
Warum aber erreichen uns sofort tagesschau-Eilmeldung, wenn ein paar Soldaten in Ankara sterben, aber wenn kurdische ZivilistInnen sterben schweigt die internationale Presse? Zum einen liegt es wohl daran, dass es so gut wie keine Pressearbeit mehr gibt in Kurdistan. JournalistInnen werden rund um die Uhr von der Polizei schikaniert, verhaftet, durchsucht und regelrecht gedemütigt, zum Beispiel wenn junge weibliche Journalistinnen sich nackt ausziehen müssen. Der nächste Grund ist, dass ein Anschlag in einer westlichen Stadt wie Ankara eben das Zentrum der Türkei, den Regierungssitz und das Herz des türkischen Nationalismus’ trifft. Schon in den letzten Tagen sprach die türkische Regierung immer wieder davon, nun doch in Syrien einzumarschieren und im schlimmsten Fall hat sie nun einen Grund gefunden. Erdogan und seine AKP sind Hexenmeister wenn es darum geht, Anschläge auf wen auch immer für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Als am 10. Oktober über 100 Linke in Ankara starben, die für Frieden demonstrieren wollten, nutze die AKP dies für ihren Wahlkampf und war sogar so dreist zu behaupten, der Anschlag sei vermutlich von der HDP selbst organisiert gewesen. Nach dem Anschlag von Istanbul vor einigen Wochen und dem drastischen Rückgang der ausländischen Touristen, die vor allem aus Deutschland und Russland in die Türkei kamen, sollen die Ausreisebedingungen für türkische StaatsbürgerInnen verschärft werden, damit sie gezwungenermaßen Urlaub im eigenen Land machen. Wenn dieser Anschlag nun für den offiziellen Kriegseintritt in Syrien genutzt wird, würde wieder ein AKP Wunsch in Erfüllung gehen und der deutsche Imperialismus, der seit Beginn der Flüchtlingskrise den türkischen Speichel leckt, würde weiter hin allen Schandtaten zustimmen. Erdogan weiß um Merkels Abhängigkeit und braucht auch kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Vor kurzem erst tönte er, wenn das Geld für den Refugee Deal nicht rechtzeitig und in angemessener Höhe bezahlt werde, dann würde eben die Flüchtlingen mit Bussen über die Grenzen schaffen lassen.

Natürlich ist dieser Anschlag von Ankara keine verteidigenswerte Strategie, aber er steht in keinem Verhältnis zu den täglichen Massakern, die in Kurdistan begangen werden. In der Türkei herrscht Krieg und die einzige Reaktion die darauf folgt sind Repressionen gegen diejenigen, die sagen, was ist. Auch wenn die Forderung nach Aufhebung des PKK Verbots umso wichtiger ist, so ist sie doch seit der Merkel-Erdogan Freundschaft in weite Ferne gerückt. Es scheint so, als ob jeder Schritt näher zur Diktatur den Eindruck der Stabilität des türkischen Partners verstärkt. Deshalb ist die richtige Forderung nach wie vor der sofortige Stopp des Refugee Deals mit der Türkei und offenen Grenzen für alle Geflüchteten. Keine Waffenlieferungen mehr in die Türkei zur Unterstützung der AKP, Streichung alle linken türkischen und kurdischen Organisationen von Terrorlisten und Stopp jeglicher Repressionen gegen Solidaritätsarbeit mit ihnen. In der Türkei selbst müssen alle Verhandlungen mit der AKP sofort beendet werden, die HDP sollte ebenfalls die Verfassungskommission verlassen und sich darauf konzentrieren, dass ihr WählerInnen und Mitglieder mit Bomben angegriffen und vom Staat ins Gefängnis geworfen werden. Was nach dem Anschlag von Paris als Ausnahmezustand galt, ist in der Türkei an der Tagesordnung. Extrem viele willkürlich Polizeikontrollen finden auf den Straßen statt, keine Demonstration kann mehr stattfinden und die Polizei hetzt deren TeilnehmerInnen mit Tränengas und Gummigeschossen durch die Straßen. Die Linke in der Türkei muss eine starke Front gegen die Regierung, gegen den Krieg in Syrien und gegen sämtliche Angriffe der AKP auf die Bevölkerung bilden, die gerade jetzt nicht zurück weicht!

Ansonsten werden vielleicht in der nächste Woche im Kurs meines Freundes der Kriegseintritt der Türkei in Syrien diskutiert und übernächste Woche ist es dann verboten, sich überhaupt noch kritisch dazu zu äußern…

Ein Artikel von Svenja Spunck

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2 Antworten

  1. Zeugenaussage des Darlehensangebotes

    Ich bin Frau Carina Baur ich war an der Forschung des Gelddarlehens seitdem
    mehrere Monate. Aber glücklicherweise sah ich Zeugenaussagen gemacht von
    viele Personen auf Frau Visentin Paola so habe ich es kontaktiert
    um mein Darlehen eines Betrages von 70.000€ zu erhalten, um meine Schulden zu regulieren und
    mein Projekt zu verwirklichen. Es ist mit Frau Visentin Paola mein lächelt an
    neuer es ist planiert von einfachem und sehr verständnisvollem Herzen. Hier sind
    elektronische Post: visentinpaola96@gmail.com

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