Eine Partei als Volkstribun

Klassenpolitik ist in der Linken wieder in aller Munde. Doch was darunter verstanden wird, ist umstritten. Fünf Thesen von Lisa Hofmann und Michael Ferschke

1. Die Linke muss ihre Analyse der Arbeiterklasse erneuern. Das Bild von weißen Männern im Blaumann war schon immer ein Klischee.

Der neoliberale Umbau der Gesellschaft hat dazu geführt, dass sich die Menschen zunehmend als vereinzelte Individuen wahrnehmen, die für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind. Durch den Rückgang von Klassenkämpfen seit Mitte der 1970er Jahre wurde die Arbeiterklasse in vielen Teilen der entwickelten Industrienationen nicht mehr als Kollektiv erfahrbar und als politischer Akteur zunehmend unsichtbar. Das hat dazu geführt, dass Teile der Linken in den Abgesang auf die Arbeiterklasse eingestimmt haben und sie nicht mehr als zentralen Bezugspunkt für sozialistische Politik betrachten. Gleichzeitig sind heute in der Bundesrepublik so viele Menschen wie nie zuvor lohnabhängig beschäftigt.

Das Problem ist, dass häufig ein falsches Bild vorherrscht, wer die Arbeiterklasse überhaupt ist. Das Proletariat ist kein soziales Milieu, sondern besteht aus all den Menschen, die gezwungen sind ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Das Bild einer Arbeiterklasse bestehend aus weißen Männern im Blaumann war schon immer ein Klischee. Schon zu Marx Zeiten war das Proletariat zu großen Teilen weiblich und migrantisch. Das gilt heute umso mehr. Hinzu kommt, dass im modernen Kapitalismus die Bedeutung der Reproduktionsarbeit und des Dienstleistungssektors zugenommen haben. In den sogenannten Care-Berufen arbeiten mittlerweile mehr Menschen als in der Automobilindustrie. Der Kapitalismus führt zum Aufstieg neuer Wirtschaftssektoren und zu einer ständigen Neuorganisation der Produktionsabläufe. Dadurch ist auch die Arbeiterklasse einem stetigen Wandel ausgesetzt. Wer beim Thema Klassenpolitik ein homogenes Industrieproletariat vor Augen hat, kommt daher zwangsläufig zu falschen Schlüssen.

2. Klassenpolitik bedeutet nicht, ökonomische Kämpfe vor Kämpfe gegen Unterdrückung zu stellen.

Didier Eribon wird oft fälschlicherweise unterstellt, er meine, die Linke habe über ihr vermeintliches Faible für Geschlechterfragen, Ökologie und Antirassismus die Arbeiterklasse aus den Augen verloren. Als Lehre daraus, solle sich die Linke viel stärker auf soziale Fragen konzentrieren, um so die Arbeiterklasse zu gewinnen. In diesem Geiste machen die beiden Bundestagsabgeordneten der LINKEN, Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke in ihrem Essay »Ohne Rot-Rot gelingt kein Rosa-Rot-Grün« einen scharfen Widerspruch auf zwischen Brot und Butter Themen der Arbeiterklasse und Kämpfen gegen Unterdrückung.

Rassismus, Sexismus und andere Unterdrückungsformen sind jedoch eine direkte Folge der Klassengesellschaft, in der wir leben. Der Kampf dagegen ist genauso Teil des Klassenkampfs, wie der Kampf um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen. Für Lenin bedeutete Klassenpolitik daher, soziale Fragen mit politischen zu verbinden. Er wandte sich gegen das Nur-Gewerkschaftertum und warb für eine Partei als Volkstribun der Unterdrückten: Sozialistisch sei das Bewusstsein der Arbeiter erst, wenn sie sich mit den unterdrückten jüdischen Studenten solidarisieren.

Wie Lenins Anspruch in der heutigen Situation umgesetzt werden kann, haben Kerstin Wolter und Alexandra Wischnewski in ihrem Debattenbeitrag »Vorwärts: Wir brauchen eine Politik für morgen« treffend formuliert. Sie argumentieren, dass es darum gehen muss die Arbeiterklasse zu vereinen, also Spaltungen entlang von Ethnie und Geschlecht zu bekämpfen. Da die moderne Arbeiterklasse, gerade in den prekären Bereichen stark weiblich und migrantisch geprägt ist, sei der Kampf gegen Unterdrückung zentral, um die Arbeiterklasse zu erreichen – und Klassenpolitik nicht auf »weiße Männer« zu beschränken.

Die Aufgabe einer sozialistischen Partei ist es, die Klasse zu einen und mit antikapitalistischer Zuspitzung und Zusammenführung von Kämpfen die vorwärtstreibende Kraft zu sein. Dafür gibt es zahlreiche konkrete Anknüpfungspunkte: So kämpfen die Beschäftigten im Krankenhaus oder in der Kita bei Streiks nicht nur um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern auch um eine Aufwertung weiblich geprägter Berufe und damit gegen Geschlechterungleichheit. Es muss der Linken darum gehen, solche Verbindungen zu ziehen, anstatt Kämpfe gegeneinander zu stellen.

3. Falsch verstandener Linkspopulismus birgt Gefahren und führt weg von emanzipatorischer Klassenpolitik.

Was wir brauchen ist eine positive Vision von links, welche der tief sitzenden Ablehnung neoliberaler Politik etwas entgegensetzt und die Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung gegenüber den herrschenden Eliten so artikuliert, dass sie die Menschen mitreißt und zum Widerstand ermutigt.

Das bedeutet jedoch nicht, die eigenen Inhalte zu relativieren. Dass die Gefahr eines solchen, falsch verstandenen Linkspopulismus real ist, zeigte nicht zuletzt das Agieren von Sahra Wagenknecht in der Flüchtlingsfrage, beispielsweise mit der Aussage „Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht verwirkt“. Dabei wurde mit dem „Gastrecht“ unhinterfragt ein Kampfbegriff der Rechten übernommen, dessen implizierte Ungleichstellung vor dem Gesetz weder das BGB noch die Genfer Flüchtlingskonvention hergibt. Wenn die Linke ihre Positionen aufweicht, weil sie glaubt einer vermeintlichen gesellschaftlichen Stimmung nachrennen zu müssen, ist dies das Gegenteil von linker Klassenpolitik.

Die bekanntesten Vertreter der Debatte über einen linken Populismus sind die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe und ihr 2014 verstorbener Mann, der Philosoph Ernesto Laclau. Ihre Theorie gründet auf einer Kritik an einer Auslegung des Marxismus, wonach die Ökonomie stets die Gesellschaft determiniert. Doch sie gehen noch weiter und stellen grundsätzlich die Existenz von Klassen infrage: Jede Art von Identität sei nur temporär und könne nie vollständig fixiert werden. Nach dieser Logik sind der Kampf gegen ökonomische Ausbeutung und jener gegen politische Unterdrückung nicht miteinander verbunden. Die Linke müsse sich daher von der »alten« Klassenpolitik verabschieden und stattdessen klassenübergreifende Bündnisse eingehen. Die Arbeiterklasse spiele keine zentrale Rolle mehr und Klassenkampf sei nur einer von vielen gesellschaftlichen Widersprüchen.

In der Praxis führt so eine Orientierung jedoch zu einer Aufweichung klassenpolitischer Forderungen der Linken, um die Anschlussfähigkeit an weitere Bevölkerungsschichten zu erhöhen, selbst wenn diese zum Teil gegensätzliche Interessen zur Arbeiterklasse haben. Eine solche Herangehensweise ist nicht geeignet, eine Bewegung mit klaren Zielen aufzubauen, die in der Lage ist, massenhaft Menschen zu mobilisieren und soziale Rechte zu erkämpfen. Das Ganze mündet in Unbestimmtheit und der Verschleierung von Klassenwidersprüchen.

4. Der größte Fehler, den DIE LINKE begehen kann, ist das Opfern ihrer programmatischen Grundsätze für die Beteiligung an einer Regierung.

Den wesentlichen Grund für den Niedergang des Klassenbewusstseins in der französischen Arbeiterschaft sieht Eribon – und das geht in der Debatte oft unter – nicht in einer Hinwendung der Linken zu Themen jenseits der sozialen Frage, sondern in ihrem Verrat der Klasseninteressen in Regierungsverantwortung. Die Sozialistische Partei hat genau wie die SPD in Deutschland längst eine neoliberale Wende vollzogen, und auch die Kommunistische Partei Frankreichs hat sich durch ihre Beteiligung an der Regierung unter François Mitterand für viele diskreditiert, indem sie deren späteren scharfen neoliberalen Kurs lange mittrug.

Diese Dynamik durch eine vermeintliche Politik des »kleineren Übels«, zeigt sich in allen Regierungsbeteiligungen von linken Partei in Europa der letzten Jahrzehnte – von der Kommunistischen Partei in Frankreich über die Rifondazione Comunista in Italien bis hin zu Syriza in Griechenland. Trotz anders lautender  Rhetorik stützten sie überall die Kürzungspolitik der herrschenden Klasse und machten sich zum Mitverwalter der kapitalistischen Misere. Das Resultat war ein dramatischer Verlust an politischer Glaubwürdigkeit und zugleich auch der Fähigkeit, Widerstand zu organisieren – der Tod für jede linke Klassenpolitik.

Angesichts der Hegemoniekrise der Herrschenden und des Aufstiegs der Rechten, wäre der größte Fehler, den DIE LINKE begehen kann, sich selbst zum Verwalter des neoliberalen Status quo zu machen und eine Regierung mit SPD und Grünen einzugehen. Beide sind nicht für einen grundlegenden Politikwechsel zu haben. Mit einer Regierungsbeteiligung würde DIE LINKE die Rechten weiter stärken und zugleich ihren eigenständigen politischen Gebrauchswert verlieren. Statt auf ein mögliches Linksbündnis zu hoffen, muss DIE LINKE sich dafür einsetzen, gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen.

5. Kämpferische Klassenpolitik gelingt nicht durch Stellvertretertum im Parlament, sondern durch Aufbau und Organisation von Widerstand.

Das Kernproblem der LINKEN ist nicht ein falsches Programm, sondern strategische Hilflosigkeit in der Durchsetzung der eigenen Forderungen. Das hat nämlich bisher weder in Regierungsverantwortung noch mittels dem Proklamieren des Programms in der Opposition funktioniert. Hinter den Forderungen der LINKEN müssen reale gesellschaftliche Kräfte gruppiert werden.

Katja Kipping und Bernd Riexinger haben es in ihrem Papier »Revolution für Gerechtigkeit und Demokratie« treffend formuliert: »Die Partei DIE LINKE sieht sich so nicht als Stellvertreterpartei, sondern als Organisation, die den Menschen in ihren Kämpfen und Auseinandersetzungen für soziale, demokratische, ökologische Rechte und Forderungen nützlich ist.« Wenn die Partei diesen Anspruch einlösen will, muss sie dort handlungsfähig werden, wo sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, wo Bewegung entsteht und darf sich nicht im parlamentarischen Alltag verzetteln. Die LINKE muss sich öffnen für Aktive aus antirassistischen oder antineoliberalen Protestinitiativen und insbesondere für kämpferische BetriebsaktivistInnen. Emanzipatorische Klassenpolitik muss sich also auch in der Binnenstruktur der Partei widerspiegeln.

Die Partei muss zu einem Vernetzungs- und Lernraum werden für diejenigen, die für eine andere Gesellschaft jenseits des Kapitalismus eintreten wollen. Oder wie es die Sozialistin Rosa Luxemburg einst formulierte: »Die moderne proletarische Klasse führt ihren Kampf nicht nach irgendeinem fertigen Schema. Mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen.«  DIE LINKE muss Menschen dazu ermutigen, selbst aktiv zu werden in einem »Lagerwahlkampf von unten gegen oben«, der aus mehr besteht als alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen, nämlich selbst für die gemeinsamen Klasseninteressen und für eine bessere Welt einzutreten.

Lisa Hofmann ist Mitglied im Landesvorstand der hessischen LINKEN und Redakteurin von marx21. Michael Ferschke ist aktiv bei der LINKEN Friedrichshain-Kreuzberg und Unterstützer des Netzwerks marx21.

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