Die Konsequenzen des Kapitalismus – Kapitalismusanalyse aus den USA TEIL II

Widerstand und Reaktion – Soziale Veränderungen (Social Change)

Chomsky/Waterstone sehen die weltweit entstehenden sozialen Bewegungen in den Bereichen Kapital und Arbeit sowie Umwelt und Frieden als Widerstand gegen die von ihnen beschriebenen Konsequenzen kapitalistischer Strukturen und damit verbundener Politikformen. Am Beispiel historischer sozialer Bewegungen, wie der Bewegung gegen die Sklaverei, der Frauenbewegung und der LGBTQ (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender)Bewegung zeigen sie deren Bedeutung und Erfolge im Kampf für mehr Gerechtigkeit und Menschenwürde auf. Sie analysieren auch Verlauf und Ergebnisse neuerer Bewegungen wie Occupy Wall Street, Black Lives Matter, die Proteste gegen Trumps Amtseinführung und richten den Blick auf die Reaktion der Eliten und der staatlichen Institutionen, die mit Repression und Diversion gegen die sich entwickelnden sozialen Bewegungen vorgehen. Teilerfolge und Rückschläge kennzeichneten die Erfahrungen der historischen Widerstandsbewegungen. Angesichts der Risiken einer neuen Systemkonfrontation und der damit verbundenen Gefahr für den Weltfrieden und für die globale Kooperation gegen die ökologischen Katastrophen halten die Autoren die bestehenden Widerstandsbewegungen nicht für genügend mächtig und wirksam. Sie setzen auch für die USA auf eine zunehmende gewerkschaftliche und politische Organisierung der Arbeiterschaft.

Waterstone/Chomsky betonen, dass sozialer Wandel einen Raum für oppositionelle Kritik voraussetzt. Die zweite Bedingung sei ein herrschendes Bewusstsein in Frage zu stellen, welches 1) Imperialismus und Militarismus legitimiert; 2) die Gefahren der Umweltkatastrophe herabsetzt oder leugnet; 3) Neoliberalismus und Globalisierung als Voraussetzungen für eine glückliche Zukunft der Menschheit erdichtet (378). Entscheidend für einen wirklichen Social Change werde nicht Gegenmacht sein, sondern Gegenhegemonie im Sinne von Mehrheitszustimmung für Politikkonzepte und Lebensformen, denen grundlegend andere Definitionen von happiness, satisfaction und Lebensqualität zu Grunde liegen (391f.). Allerdings könne es einige Jahrzehnte dauern, das gegenwärtige Bewusstsein zu ändern (394).1 Zwar seien nach einer Generation neoliberaler Politik weltweit der Zorn und die Verachtung gegenüber neoliberalen Institutionen gewachsen und dementsprechend hätten sich die Bedingungen für eine Umkehr verbessert. Umfragen ließen eine zunehmende Attraktivität „der ein oder anderen Form des Sozialismus“ erkennen (394). Andererseits hätten „die Herren der Menschheit“ die Möglichkeit mit Macht und Prävention entgegenzuwirken (397). Dem Neoliberalismus gälten Gewerkschaften als vorrangiger Feind (398). Mit dem Kampf für Arbeiterrechte unterminierten sie eine optimale Ressourcennutzung, bedrohten die Freiheit der Marktakteure und die Rechte der Unternehmer (399). Allerdings seien die Gewerkschaften nicht der einzige Feind der Unternehmerfreiheit. Alle sozialen Programme werden aus neoliberaler Sicht als gleichermaßen gefährlich angesehen. Die beiden großen Parteien in den USA hätten sich während der neoliberalen Phase nach rechts orientiert (405). Die Demokratische Partei habe sich seit Anfang der 1970er Jahre zu den Interessen der Arbeiterklasse auf Distanz begeben und das Feld den Republikanern überlassen (405). Diese wiederum versuchten Wähler aus der Arbeiterschaft fern von deren eigentlichen Klassenthemen mit Angstparolen (Begrenzung der Zuwanderung), Betonung weißer Dominanz, Nationalismus (Make America great again), religiösem Fundamentalismus (gegen liberale Abtreibungsgesetze) und Unterstützung der Waffenlobby zu gewinnen (405ff.).

Demgegenüber setzen die Autoren darauf, dass die Bedingungen der Lohnarbeit wieder stärker in das Bewusstsein der Betroffenen rücken und dass diese das Lohnarbeitsverhältnis aus einer menschenrechtlichen Perspektive als Unterwerfung unter totalitäre Direktion im Unternehmen wahrnehmen und daher für ihre Selbstbestimmung durch Übernahme der Unternehmen in kollektives Eigentum eintreten (mit einem Management, das sie selbst wählen und abwählen können). Diese Idee sei im 19. Jahrhundert weit verbreitet worden nicht nur von Karl Marx und den Linken, sondern auch von den klassischen Liberalen (419). Selbstbestimmung und „exzessive Demokratie“ seien auch für die Kontrolle anderer Institutionen und Gemeinschaften anwendbar und nähmen Traditionen des Anarchismus, des nichtbolschewistischen Marxismus und des gegenwärtigen politischen Aktivismus auf, mit denen die Menschen in Genossenschaften und den Produzenten gehörenden Unternehmen/Betrieben die Kontrolle über ihr Leben und ihre Zukunft zurückgewinnen könnten. Hiermit lassen die Autoren ihre Sympathie für eine Zukunft in syndikalistischer Arbeiterselbstverwaltung erkennen. Sie entwickeln darüber hinaus kein Programm für eine Gesellschaft der Zukunft. Es kommt ihnen darauf an, eine Welt „jenseits des Kapitalismus“, in der bestehenden Ordnung vorzubereiten. Ohne eine Aufklärung, die die Menschen aus den Zwängen des gegenwärtigen „Common Sense“ als auch des „kapitalistischen Realismus“ befreit, werde sich der Weg dahin nicht öffnen.

Systemischer Charakter der Konsequenzen

Die Autoren folgen schon mit ihrem Buchtitel („Konsequenzen des Kapitalismus“) der Kernthese Mark Fishers2, der zufolge der kapitalistische Realismus skandalisierende Kritik an einzelnen „Fehlern“, „Entgleisungen“ in Wirtschaft und Gesellschaft, spielend integrieren könne, sofern sie in moralischer Empörung verharrt. Alle sozialen Bewegungen träfen auf die aktuelle Ausprägung des gesunden Menschenverstandes in der neoliberalen Globalisierung, den „kapitalistischen Realismus“, den Chomsky/Waterstone mit Fisher‘s Worten zusammenfassen, es sei „einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“. Ziel der Autoren ist es, die sozialen Bewegungen, die gegen unterschiedliche Auswirkungen des Kapitalismus vorgehen, zusammenzuführen und zu stärken. Dazu konfrontieren sie ihre zahlreichen Beispiele für Konsequenzen des Kapitalismus und deren verzerrte Widerspiegelungen im fabrizierten „gesunden Menschenverstand“ (Common Sense) mit einer Marx-Rezeption Waterstones. Damit Unzufriedenheit in breiten Widerstand umschlagen könne, sollen die systemischen „Inkonsistenzen“ des Kapitalismus mit sich selbst und seinen Existenzgrundlagen herausgearbeitet werden.

So beleuchtet Waterstone die drei Problemfelder a) Militarismus, Kolonialismus und Imperialismus, b) Umweltzerstörung und c) Neoliberalismus, Globalisierung und Finanzialisierung sowie die Aktionsfelder sozialer Bewegungen im Kontext von Marx‘ „allgemeiner Formel des Kapitals, wie es in der Zirkulation erscheint“ (81ff., 379ff.), und macht sie damit als systemische Konsequenzen „des Kapitalismus“ erkennbar.

Wie Marx sieht Waterstone im Kolonialismus ein Element der ursprünglichen Akkumulation (83ff.), der „Trennung der Produzenten von ihren Produktionsbedingungen“, die er mit David Harvey als „Akkumulation durch Enteignung“ bezeichnet (84). Das Kapital brauche für seine freie Entfaltung (Akkumulation) den Militarismus nach außen, um sich Zugriff auf Ressourcen, Arbeitskraft und billige Abfallentsorgung zu sichern. Es brauche den Militarismus nach Innen und Außen, gegen alle, die sich der ungestörten Kapitalakkumulation und Marktausweitung entgegenstellen (98f.).

Erderwärmung und Umweltkatastrophen seien Folge der Konkurrenz der Einzelkapitale, die diese zu unablässiger Akkumulation und zur Produktion um der Produktion willen zwinge, die Konsequenzen externalisiere und der Gesellschaft und zukünftigen Generationen aufbürde (99). Die neoliberale Globalisierung und Finanzialisierung müssten die notwendigen Akkumulationssphären für das Kapital bereitstellen, weil die Wirtschaftsweise systemisch Kapitalüberakkumulation bzw. Unterkonsumtion der breiten Masse der Bevölkerung hervorrufe (99f.). Aufgabe des Staates im Kapitalismus sei es, die allgemeinen Kapitalverwertungsbedingungen sicherzustellen und „den Kapitalismus vor den Kapitalisten zu schützen“, um „systemische Katastrophen“ zu verhindern, die sonst Konsequenz gegeneinander konkurrierender Einzelkapitale wären, die jedes für sich ausschließlich im eigenen Interesse handelten (97).

Egal, ob soziale Bewegungen sich wie die Gewerkschaften mit dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, der Mehrwertproduktion auseinandersetzten oder mit „Nebenwidersprüchen“: Es gehe um unterschiedliche Aspekte und Konsequenzen der Kapitalakkumulation und -zirkulation (378ff.). Aus diesem Blickwinkel erscheint der syndikalistische Lösungsansatz Chomsky/Waterstones von überschaubarer Reichweite, der im Kern die Übernahme der Unternehmen in Arbeiterselbstverwaltung beinhaltet.

Die Vorlesungen der Autoren können als informativer Beitrag zu diesem (Auf-)
Klärungsprozess aus der Sicht US-amerikanischer marxistisch orientierter Intellektueller gelten. Eine zum Nachdenken anregende Lektüre ist gesichert.

Dies ist der zweite Teil des Artikels zu Konsequenzen des Kapitalismus

1 Da in der gegenwärtigen neuen Systemkonfrontation und der bedrohlichen Klimakatastrophe die Zeit für eine antikapitalistische Revolution drängt, wirkt der Hinweis der Autoren desillusionierend, dass es einige Jahrzehnte für die Änderung des „Common Sense“ (als Voraussetzung dafür) brauchen werde. Andererseits erscheint trotz zunehmender Anteile von Nichtwählern die „fabrication von consent“ in den entwickelten Industrieländern zu funktionieren und ein alternativer Klimasozialismus nicht in Sicht. Im Gegenteil die Zivilgesellschaften in den entwickelten Industrieländern des Westens setzen einen neuen kalten Krieg vor die globale Kooperation gegen die Klimakatastrophe. Von der Einnahme hegemonialer Positionen scheinen die von Chomsky/Waterstone beschriebenen aktivistischen Kräfte jedenfalls noch weit entfernt zu sein. Vgl. zu den von Gramsci beschriebenen Phasen des Ringens um hegemoniale Macht: Frank Deppe: Politisches Denken zwischen den Weltkriegen. Hamburg 2003. S. 251.

2 Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift. Hamburg 2013 (2009).

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