Die Entwicklung des links-progressiven Potentials in Deutschland seit 2015

In Deutschland gibt es ein langfristig und nach 2015 beschleunigt wachsendes links-progressives Potential und eine inzwischen existenziell gefährdete Partei DIE LINKE, und beide können bisher nicht zueinander finden. Die Resultate der Bundestagswahl 2021, das Beinahe-Scheitern der LINKEN und die Bildung einer Ampel-Koalition spitzen dieses strategische Dilemma weiter zu. Was ist das Problem? Gibt es eine Lösung und welche Perspektiven eröffnen sich? In fünf aufeinander bezogenen Beiträgen bearbeitet unser Autor Fiete Saß das Thema. Fiete ist stellvertretender Sprecher der Kölner LINKEN.

Teil 1 war der Frage gewidmet „Was ist links-progressiv?“. Fiete zeigte auf, dass es weniger eine Frage der subjektiven Bewusstheit als eine Folge ungleichzeitiger ökonomischer und sozialer Entwicklung im Umbruch des kapitalistischen Weltsystems ist, dass sich zur Rechten wie zur Linken progressive und zurückbleibende Klassensegmente herausbilden, die sich ganz unterschiedlich politisch positionieren.

Wer bei Grünen, Linken und in der Zivilgesellschaft unterwegs ist, kennt sie, die progressiven Babyboomer, die über 55-jährigen Botschafter*innen aus den progressiven späten 60er bis frühen 80er Jahren. Lange Jahre prägten sie eine überschaubare links-progressive Szene und waren bei besonderen Anlässen noch immer zu Zehntausenden mobilisierbar.

Doch seit etwa 2015 hat zunehmend eine neue Generation die Bühne betreten und sich in den insgesamt intensiveren gesellschaftlichen Konflikten bemerkbar gemacht, so dass wir heute von einem erneuerten und verbreiterten links-progressiven Potential sprechen können. Teil 2 dieser Reihe will diesen gesellschaftlichen Prozess nachzeichnen und damit eine Grundlage schaffen, um dann in Teil 3 die Perspektiven des links-progressiven Potentials an den Wahlurnen zu diskutieren. In Teil 4 der Reihe geht es schließlich um die inhaltlichen Konturen der links-progressive Alternative, um die mögliche links-progressive Entwicklung der Parte DIE LINKE und die Perspektiven, die sich dabei für das links-progressive Potential insgesamt ergeben.

2015 – Auf einmal steht das Anthropozän vor der Tür

Die Jahre um 2015 markieren in mancher Hinsicht einen Wendepunkt in der politischen Dynamik des kapitalistischen Weltsystems. Bereits die globale Finanzkrise 2008/2009 hatte das Ansehen der Finanzwirtschaft stark reduziert und den Neoliberalismus beschädigt. Nun wurde der aus dem Ruder gelaufene Stoffwechsel zwischen der Menschheit und ihrer natürlichen Umwelt auf dem Planeten, vor allem der Klimawandel, zu einem international dominanten Thema. Dazu kamen unabweisbare Fakten auf den Tisch, die mit den bisher vorherrschenden Ansichten nicht vereinbar waren:

  • Ende 2015 wurde das Ziel, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, auf der Pariser Klimakonferenz zur internationalen Leitlinie. Ungeachtet der Tatsache, dass praktisch alle Staaten bisher hinter den entsprechenden Anforderungen zurückbleiben, markiert dies eine Gezeitenwende in den Köpfen. Nach über 200 Jahren ungebremster industrie-kapitalistischer Ausbeutung der Natur ist eine allgemein anerkannte Grenze identifiziert, hinter der es für die Menschheit ungemütlich zu werden verspricht.
  • Smog, der durch Waldbrände in Indonesien verursacht war, forderte 2015 in Südostasien etwa 100.000 Menschenleben. Von der veröffentlichten Meinung im Westen wenig beachtet, begann das Zeitalter der großen menschengemachten Naturkatastrophen (Spiegel 2016).
  • Der Ende 2015 aufgekommene VW-Dieselabgas-Skandal markierte den moralischen Ruin des weltweit größten Automobilherstellers. Angesichts der zunehmenden Umweltanforderungen hatte das Management den Ausweg in Lug und Betrug gesucht. Im weiteren Verlauf kam ans Licht, dass auch zahlreiche weitere Automobilhersteller ähnlich verfuhren. Obwohl die Unternehmen die Strafzahlungen und Entschädigungen bisher mühelos beglichen, ist die Leitbildrolle jener einst führenden Branche der fossilen industriellen Massenproduktion auf der Strecke geblieben. Bezogen auf Deutschland, war dies auch der Bankrott des alten hierarchischen Managementstils, der bei VW bis dahin überdauert hatte.
  • Seither haben Klimaextreme und Naturkatastrophen – Waldbrände, Dürren, Überschwemmungen – weltweit weiter stark zugenommen und die Corona-Pandemie hält die Menschheit seit zwei Jahren in Atem, so dass auch vielen hartnäckigen Zweifler*innen klar wurde, dass es so nicht weiter gehen kann.

Die neuen Polarisierungen und Konflikte entwickelten sich in den folgenden Jahren in verschiedenen Ländern unterschiedlich. In den USA kündigte 2015 Donald Trump seine dann bei der Wahl 2016 erfolgreiche Kandidatur zum US-Präsidenten an, mit der er sich genau gegen jene unverzichtbar wissenschaftlich begründete neue Weltsicht stellte. Das und seine antiwissenschaftliche Attitüde in der Corona-Pandemie machte ihn weltweit zum Helden aller wissenschaftsfeindlichen Reaktionäre. Die Wahl von Trump 2016 und sein Wirken als Präsident wurden in Europa weithin als Schock erlebt, der häufig progressive Energien mobilisierte. Selbst Angela Merkel ließ sich zu der Bemerkung hinreißen, dass auf die USA kein Verlass mehr sei.

In Deutschland kam es zu einem Aufschwung der progressiven außerparlamentarischen Bewegungen, einer Intensivierung gewerkschaftlicher Kämpfe, einem nicht erfolglosen Abwehrkampf gegen den zugleich erstarkenden Rechtsextremismus und auch zu neuen Orientierungen bei den herrschenden Eliten. Diese Entwicklung, die hier skizzenhaft nachgezeichnet werden soll, ermöglichte die Öffnung zur Ampelkoalition, die nun ihrerseits neue Spielräume für progressive Initiativen eröffnet.

Außerparlamentarische Bewegungen im Aufwind

Seit etwa 2015 beobachten wir einen gewaltigen Aufschwung außerparlamentarischer Bewegungen in Deutschland – durch Corona teils in den virtuellen Raum verwiesen, aber ungebrochen – mit Ausstrahlung in weite Teile der Gesellschaft. Sie sollen hier in aller Kürze vergegenwärtigt werden, denn sie sind ein entscheidender politischer Hintergrund jener (links-)progressiven Potentiale, um die es in dieser Beitragsserie geht und für die in Teil 3 folgenden, darauf aufbauenden empirischen Betrachtungen, die die Auswirkungen an den Wahlurnen nachmessen.

  • Das verstärkte Ankommen von Geflüchteten aus Syrien und anderen Ländern 2015/16 löste in Deutschland eine unglaubliche Welle der Hilfsbereitschaft aus, zu Recht als Willkommenskultur bezeichnet, zu der Millionen Menschen in unzähligen lokalen Initiativen einen Beitrag leisteten.
  • Ab 2015 werden Vereine wie Sea-Eye, German Doctors, Mission Lifeline, SIS Mediterranee, United4Rescue und Sea-Watch gegründet, die trotz behördlichen Schikanen und Kriminalisierungsversuchen bis heute Rettungsschiffe im Mittelmeer betreiben, finanziert von Spendengeldern. Auch die großen Kirchen, die Arbeiterwohlfahrt und die „Aktion Deutschland hilft“ beteiligen sich bis heute an der Finanzierung.
  • Am 10. Oktober 2015 demonstrierten in Berlin 250.000 Menschen gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Ein knappes Jahr später demonstrierten am 17. September 2016 erneut 320.000 Menschen in ganz Deutschland gegen die Abkommen.
  • Der Volksentscheid Fahrrad übergibt am 14. Juni 2016 an den Berliner Senat 105.425 Unterschriften für ein Volksbegehren. Die Aktion wird zum Vorbild für inzwischen über 50 Radentscheide mit bisher fast einer Million Unterschriften in Deutschland, darunter den „Aufbruch Fahrrad“ in NRW mit über 200.000 Unterschriften in 2018/2019.
  • Am 27. November 2016 fand in Frankfurt/M. mit 200 Teilnehmenden die erste Kundgebung von „Pulse of Europe“ statt, eine proeuropäische Bewegung, die in den folgenden Monaten bis zur Europawahl schnell anwuchs und in zahlreichen europäischen, aber überwiegend in deutschen Städten sonntägliche Kundgebungen durchführte, mit je 20.000 Teilnehmenden am 12. und 19. 2017, und 44.000 bzw. 48.000 Teilnehmenden am 26. März 2017 und am 2. April 2017.
  • Am 22. April 2017 demonstrierten in Köln 50.000 Menschen gegen den AfD-Parteitag, darunter die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.
  • Im Oktober 2017 wurde der Hashtag #metoo gestartet, der unterdrückerische Praktiken gegen Frauen zum öffentlichen Thema machte und die Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern vielerorts veränderte. Die widerwillige, aber doch nicht vermeidbare Kündigung des übergriffigen Bild-Zeitungschefs Reichelt durch den stockkonservativen Springer-Verlag Ende 2021 demonstrierte die anhaltende gesellschaftliche Wirksamkeit von #metoo.
  • Am 5. November erzielte das Bürgerbegehren „Raus aus der Steinkohle“ eine Mehrheit von 60 Prozent der Münchner*innen für die Stilllegung eines Kohlekraftwerks in der Stadt.
  • Am Equal Pay Day am 7. März 2018 wurden über 1.000 Aktionen durchgeführt. Am 8. März 2018 fanden zahlreiche dezentrale Aktionen zum Internationalen Frauentag statt.
  • Im Juni 2018 wurde die Seebrücke gegründet. 12.000 Menschen demonstrierten am 7. Juli 2018 in Berlin, und die Organisation ist seither in ganz Europa mit Aktionen präsent. 700 Kommunen, davon 250 in Deutschland, haben sich bisher zu sicheren Häfen für Geflüchtete erklärt.
  • Am 4. September 2018 setzen 65.000 Teilnehmer*innen des #wirsindmehr-Konzerts in Chemnitz mit seiner bekannten rechtslastigen Szene ein Zeichen gegen Rassismus.
  • Die Auseinandersetzung um die Rodung des Hambacher Forstes erreichte am ersten Oktoberwochenende 2018 einen Höhepunkt, als die Landesregierung die Baumhäuser räumen ließ. 50.000 Menschen kamen zur Kundgebung am Hambacher Wald für einen schnellen Kohleausstieg, worauf das OVG Münster einen vorläufigen Rodungsstopp verfügte.
  • Ebenfalls in 2018 organisierte das Unteilbar-Bündnis für „Solidarität statt Ausgrenzung“ eine Großdemonstration in Berlin mit 240.000 Menschen. Sahra Wagenknecht, zu dem Zeitpunkt Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, und die von ihr im gleichen Jahr gestartete aufstehen-Initiative (Oehlke 2018), zu der sich in kurzer Zeit über 100.000 Menschen angemeldet hatten, distanzierten sich demonstrativ von dieser Aktion. Das war der Moment, in dem DIE LINKE den Anschluss an die gesellschaftliche Bewegungsdynamik verlor. Und dies, obwohl sich seit Jahren zahlreiche Mitglieder und Gliederungen der Partei als aktive Unterstützer*innen und Organisator*innen in den Bewegungen engagieren.
  • Am 23. März 2019 demonstrierten in Europa 170.000 Menschen, die meisten davon in Deutschland, gegen die von der EU geplanten Uploadfilter. Die jährlichen Kongresse des Chaos Computer Clubs in Hamburg sind seit 2015 stets ausverkauft, mit zuletzt 17.000 Teilnehmenden (2019).
  • Ostern 2019 beteiligten sich „mehrere 10.000 Menschen“ (Netzwerk Friedenskooperative 2019) in 100 Städten an den Ostermärschen der Friedenbewegung für nukleare Abrüstung. Die Zahl der Aktionen und Teilnehmenden der Ostermärsche war seit 2013 kontinuierlich gestiegen.
  • Am 19. Mai 2019, kurz vor der Europawahl, gab es in Deutschland mehrere Demonstrationen unter dem Motto „Ein Europa für alle“, an denen 140.000 Menschen teilnahmen.
  • Ebenfalls kurz vor der EU-Wahl erschien das Video „Die Zerstörung der CDU“ des YouTubers Rezo. Es wurde vor der Wahl über zehn Millionen Mal aufgerufen (inzwischen fast 20 Millionen Aufrufe).
  • Am 14. Juni 2019 wurden in Berlin 77.001 Unterschriften für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen“ übergeben.
  • Am 29. Juli 2019 in Berlin und am 8. Juli 2019 in Köln erreichten die jährliche CSD-Paraden mit 1.000.000 Menschen in Berlin und 1.200.000 Menschen in Köln Rekordbeteiligungen. In Dutzenden von Städten fanden weitere CSD-Veranstaltungen statt. 2020 und 2021 wurden die Paraden unter Corona-Bedingungen in wesentlich kleinerem Rahmen durchgeführt.
  • 2019 war auch das Jahr von Fridays for Future. Im August 2018 hatte Greta Thunberg mit einem wöchentlichen Schulstreik begonnen, der sich rasch in vielen Ländern ausbreitete, und 13 Monate später nahmen am 3. Globalen Klimastreik bereits vier Millionen Menschen teil, davon 1,4 Millionen allein in Deutschland.
  • Ab Anfang 2020 wurden die Massenaktionen durch die Pandemie stark beeinträchtigt. Trotzdem war die Teilnahme an den Aktionen zum Internationalen Frauentag hoch (Berlin 10.000, Köln 5.000 Teilnehmende).
  • In Nürnberg wurden 2020 mehr als 20.000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren für ein 365-Euro-Ticket bei den Nürnberger Verkehrsbetrieben gesammelt. Daraufhin machte sich die rot-schwarze Koalition im Rathaus das Ziel des 365-Euro-Tickets zu eigen, um eine Niederlage in einem Bürgerbegehren zu vermeiden.
  • Zwischen Ende Mai und Ende Juli 2020 nahmen in Deutschland 200.000 Menschen an von der US-amerikanischen Black-Lives-Matter-Bewegung inspirierten Aktionen gegen Rassismus teil.
  • Der Ostermarsch 2021 fand unter Corona Auflagen in 100 Städten statt mit Forderungen nach der Senkung der Rüstungsausgaben, dem Beitritt zum UN-Atomwaffenverbot und dem Stopp von Rüstungsexporten.
  • Am 25. Juni 2021 wurden in Berlin aus der zweiten Sammelphase für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen“ 349.658 Unterschriften übergeben.
  • In Köln wurden 2021 über 24.000 Unterschriften gesammelt für ein Bürgerbegehren, um den örtlichen Energieversorger bis 2030 nachhaltig zu machen. Es kommt zur „Mediation“ und statt eines Bürgerentscheids sollen nun die Ziele des Bürgerbegehrens in deutlich verwässerter Form, aber mit dem Segen der schwarz-grünen Rathausmehrheit umgesetzt werden.
  • Am Hiroshima-Tag am 6. August 2021 faden in 80 Städten Veranstaltungen zum Gedenken an den ersten Atombombenabwurf am 6. August 1945 auf Hiroshima statt.
  • Am 5. September 2021 nahmen in Berlin trotz Corona-Auflagen und Bahnstreik 30.000 Menschen an einer Demo des #Unteilbar-Bündnisses teil.
  • Am 8. Globalen Streik von Fridays for Future nahmen am 24. September 2021 in Deutschland 620.000 Menschen teil.
  • Am 26. September 2021 stimmen in Berlin 59,6 Prozent für den Volksentscheid „Deutsche Wohnen enteignen“.
  • 2021 wurden gegen die Rodung des Dannenröder Forstes 225.000 Unterschriften gesammelt.

Die hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit angeführten großen Massenaktionen sind nur der sichtbarste Teil einer vielfältigen progressiven Mobilisierung, die 2019, vor der Pandemie, ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Zahllose kleinere Aktionen erfolgten zeitlich und räumlich zwischen ihnen und auch die Pandemie konnte die Dynamik, die sich insbesondere bei den Jüngeren in den virtuellen Raum verlagerte, nur wenig bremsen. Die große Zahl der Teilnehmenden erinnert an Aktionen der Antiatomkraft- und Friedensbewegung der 1970er und 80er Jahre, die aber an thematischer Bandbreite von den heutigen Aktionen übertroffen werden. Zugleich vernetzen sich die einzelnen Zweige dieser außerparlamentarischen „Mosaik-Linke“ (Urban) zunehmend. So gelang es der Fridays-for-Future-Bewegung, massenhaft Unterstützung unter Wissenschaftler*innen zu gewinnen und Kooperationen mit Gewerkschaften zu entwickeln.

Aufschwung gewerkschaftlicher Kämpfe seit 2015

2015 war auch in der Arbeitskampfstatistik in Deutschland ein besonderes Jahr (siehe Abb. 1). „Extreme Konflikteskalation“ titelte das Institut der deutschen Wirtschaft bereits zur Jahresmitte und stellte die bis dahin stärkste Streikaktivität seit 1993 fest (Lesch/IW 2016). Und so verlief auch der Rest des Jahres: „Allein 1,5 der zwei Millionen Streiktage entfielen auf den Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst sowie den Streik bei der Post. (…) Hinzu kam zu Beginn des (…) Jahres eine breite Warnstreikwelle in der Metall- und Elektroindustrie“(WSI Pressedienst 3.3.2016).

Abb. 1, Quelle: WSI Report Nr. 66 / April 2021  Copyright CC BY 4.0

Auch die folgenden Jahre 2016 und 2018 erwiesen sich als überdurchschnittlich arbeitskampfintensiv (Abb. 2).

Abb. 2, Quelle: WSI Report Nr. 66 / April 2021  Copyright CC BY 4.0

2020 dämpfte die Corona-Pandemie und der durch sie ausgelöste Wirtschaftseinbruch das schon im Jahr zuvor abgeflachte Arbeitskampfgeschehen stark. Mitten in diese Phase fiel der Tarifkampf im öffentlichen Nahverkehr. ver.di und Fridays for Future politisierten den Tarifkampf mit einer gemeinsamen Kampagne, die den Kampf der Beschäftigten mit der Verkehrswende verknüpften und setzten so ein Zeichen für eine neue Qualität der Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Klimabewegung (Autor*innenkollektiv 2021).

Mit dem vorübergehenden Abflauen der Pandemie und der kräftigen Erholung der Wirtschaft setzten 2021 intensivere Tarifkämpfe ein. In den ersten Monaten des Jahres kam es zum Streik in den Call-Centern der Deutschen Bank, und rund eine Million Metaller*innen beteiligten sich an Warnstreiks. Im August und September streikte die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL). Ab Oktober gab es Streiks an der Charité und bei Vivantes in Berlin sowie bei dem privaten Krankenhauskonzernen Asklepios und bei Eurowings. Im November folgten umfangreiche Warnstreiks im öffentlichen Dienst der Bundesländer, bei Kitas, Kliniken, bei der AWO und an Unis und Bildungseinrichtungen. Mehrfach kam es 2021 zu Streiks bei Amazon. Neben den Tarifeinkommen waren in vielen Streiks die Aufwertung von Care-Arbeit und die Arbeitszeiten umkämpft (Bispinck 2020).

Die intensiven Tarifkonflikte, die ja vielfach auch ohne (Warn-)Streik gelöst wurden, führten zu Reallohnsteigerungen und einem Anstieg des Anteils der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen auf 71 Prozent im Jahr 2021, nach 69 Prozent 2015 (berechnet nach www-genesis.destatis.de). Auch der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit in einer Volkswirtschaft misst, ging für die Haushaltseinkommen seit 2016 leicht zurück (WSI 2021).

Eine nachhaltige Stärkung der Gewerkschaften konnte trotz dieser realen Erfolge bislang nicht erzielt werden. Der Anteil der Beschäftigten mit Tarifvertrag (Tarifbindung) ist weiter rückläufig und lag 2020 bei 51 Prozent (Böckler-Impuls 16/2021). Die Mitgliedszahlen der DGB-Gewerkschaften, die zu Beginn des Jahrhunderts noch knapp 7,8 Millionen betrugen, gingen trotz der verstärkten Arbeitskämpfe von 2015 bis 2020 um 250.000 auf 5,85 Millionen zurück (DGB-Mitgliederstatistik). Mit Ausnahme von GEW und GdP, deren Mitgliedszahlen stiegen, und der IG Metall, die zeitweise zulegen konnte und seit 2015 nur etwa 1 Prozent der Mitglieder verlor, ging bei den sieben übrigen DGB-Gewerkschaften die Mitgliederzahl seit über zehn Jahren stetig zurück.

Mobilisierung von rechts und erfolgreicher Widerstand von links

Sehr viele Aktionen der progressiven Kräfte richteten sich gegen Auftritte der AfD und anderer rechtsextremer Kräfte. Auch die politische Rechte hat sich, von der Berichterstattung des Springer-Verlags massiv unterstützt, mittels der 2013 gegründeten AfD in die allgemeine Politisierung eingebracht. Mit dem verstärkten Ankommen von Geflüchteten hatte die 2015 mit der Abwahl des Gründers Lucke noch weiter nach rechts gerückte und bereits seit 2014 in drei Landtagen vertretene AfD ein Thema für ihre Hetzpropaganda gefunden.

Dagegen agierte die Linke nicht einheitlich. So übte Sahra Wagenknecht mit ihrer starken Medienpräsenz vor allem in Talkshows, auch in der rechtsliberalen Presse wie der Tageszeitung Welt starke Kritik an der Willkommenskultur und gab gemeinsam mit der AfD-Chefin Frauke Petry ein Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, das Ulrike Herrmann in der Tageszeitung (taz, 3. Oktober 2016) als „rechtes Konsensgespräch“ wertete.

Vielerorts gelang es dennoch, breite Bündnisse gegen rechts zu schließen, die über das demokratische Parteienspektrum hinaus auch weitere zivilgesellschaftliche Kräfte einbezogen, vom Sport über die Wissenschaft und Kultur bis zum Kölner Karneval. Häufig haben Musiker und andere Kulturschaffende zur Mobilisierung und zur Gestaltung der Kundgebungen beigetragen. Durch diese Mobilisierungen gelang es, die Rechtsextremisten in der breiten Bevölkerung erheblich zu isolieren: Gerade einmal 3 Prozent mochten 2021 die AfD „sehr“ und fünf Prozent „etwas“, 71 Prozent dagegen lehnten sie „sehr“ ab (Neu/Pokorny 2021). Nichtdestotrotz verfügt die AfD über Fraktionen in den Parlamenten und regionale Hochburgen, vor allem in den neuen Bundesländern, sowie eine sehr starke Internetpräsenz, von denen aus sie eine andauernde Gefahr für die Demokratie darstellt.

Neuorientierung bei Teilen der herrschenden Eliten

Der einflussreichste Unternehmensverband in Deutschland ist der BDI, ein Dachverband von 40 Industrieverbänden mit über 100.000 Mitgliedsunternehmen. Ein besonderes Gewicht haben dort die Exportindustrien mit ihren Verbänden ZVEI, VCI, VDA, BPI und VDMA, um nur einige der Schwergewichte zu nennen. In diesen Kreisen hatte sich bereits seit einigen Jahren eine Neuorientierung zur Klimapolitik wie zu den öffentlichen Investitionen abgezeichnet. In einer von den Vorsitzenden von BDI und DGB der Öffentlichkeit präsentierten gemeinsamen Studie des BDI-nahen Instituts der Wirtschaft (IW) und des DGB-nahen Institut für Makroökonomik (IMK) plädierten beide Institute 2019 für ein staatliches Investitionsprogramm über 450 Milliarden Euro in zehn Jahren, das den konstatierten Investitionsrückstand des Staates beheben soll (Bardt et al. 2019). Über die geforderten Investitionsschwerpunkte, die auch den Klimaschutz einschlossen, könnte man streiten, doch war die implizite Abkehr von der neoliberalen „Schuldenbremse“ kaum noch verhohlen.

Kurz darauf, am 11. Dezember 2019, legte die EU-Kommission ihren Plan für einen European Green New Deal vor, mit dem Ziel, die CO2-Emmissionen bis 2050 „netto“ auf Null und bis 2030 um 50 bis 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Eine der Maßnahmen ist das Ende des Verbrennungsmotors bis 2035. Die Mitgliedsstaaten sollen ihre Gesetze entsprechend bis 2023 anpassen.

Einen weiteren Eckpfeiler setzte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 zu den Beschwerden über das Klimagesetz der GroKo. Unter Bezugnahme auf die Pariser Klimaziele entschied das BVG, dass „nicht einer Generation zugestanden werden (darf), unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde“ (Bundesverfassungsgericht 2021). Dem Gesetzgeber wurde, abgeleitet aus seinen verfassungsrechtlichen Pflichten, eine schnellere Gangart bei der Reduzierung der CO2-Emissionen bis 2030 abverlangt.

2021 legte der BDI nun auf eigene Rechnung nach mit der Studie „Klimapfade für Deutschland“ (BDI-Studie 2021), die Mehrinvestitionen von 860 Milliarden fordert (verteilt auf zehn Jahre) für die „Umsetzung einer historisch einzigartigen Infrastrukturoffensive für einen massiven Ausbau von Strom-, Fernwärme-, CO2– und Wasserstoffnetzen, Lade- und Wasserstofftankstellen sowie Schienennetzen in Höhe von 240 Milliarden Euro bis 2030. Zweitens einer Revolution bei Planungen und Genehmigungen durch Vereinfachung, Verkürzung und Digitalisierung der Verfahren sowie durch zusätzliche Kapazitäten in Behörden und Gerichten.“ Denn: „Uns läuft die Zeit davon. Nach heutigem Fahrplan wird kein Sektor seine Klimaziele erreichen.“ Der BDI möchte „Vorbild bleiben, indem Klimaschutz made in Germany funktioniert.“ Andernfalls drohe „Gefahr für unseren Standort“ und „eine dauerhafte Schwächung der Industrie“ (Zitate BDI 2021).

Das lässt keine Zweifel: Die deutsche Industrie will den Anschluss nicht verpassen, keine Weltmarktanteile verlieren. Denn viele Industrieunternehmen in Deutschland sind für solare Technologien und die Verkehrswende ausgezeichnet aufgestellt. Und die Schuldenbremse? Wird dann eben nur noch selektiv angewendet, auf all die Anliegen der arbeitenden Klassen, die den Industrieverbänden lästig sind.

Dass dies keine Abkehr vom Klassenkampf von oben ist, machten die vier Spitzenverbände BDI, BDA, DIHK und ZDH mit einer gemeinsamen Erklärung („Für einen Aufbruch, der unser Land nachhaltig stark macht“) nach der Wahl noch einmal deutlich. Sie fordern eine „Agenda 2030“ mit steuerlichen Entlastungen, Deckelung der Sozialabgaben bei 40 Prozent, Verzicht auf „nicht finanzierbare Ausgabenprogramme“ und Flexibilisierung der Altersgrenze (BDA/BDI/DIHK/ZVH 2021).

Verwirrung um Covid-19

Die Auswirkung der Corona-Pandemie auf das politische Feld war und ist eine quer durch das Spektrum der Parteien reichende, nicht endende Verwirrung. Naturgemäß war in der Notlage die Exekutive am Zuge, war aber kaum vorbereitet und wusste nicht, was zu tun ist, so dass die Maßnahmen und Begründungen teils im Wochentakt wechselten. Die Opposition wusste es aber auch nicht besser, so dass sich bisher nur wenig originär linke Positionen zum Kampf gegen die Corona-Pandemie entwickelten – wie etwa die Forderung nach Freigabe der Impfstofflizenzen –, sondern mehr zum Umgang mit den sozialen und ökonomischen Folgen. Auch der Anfang 2021 gestartete Versuch der Zero-Covid-Initiative, an der erfolgreichen Strategie Chinas und anderer Länder anzuknüpfen, verlief im Sand.

Die anfänglich häufigen Versuche, die Pandemie zur Unterdrückung demokratischer Aktionen zu instrumentalisieren, wurden inzwischen weitgehend zurückgedrängt. Eine möglicherweise dauerhafte politische Polarisierung stellt die Militanz wissenschaftsfeindlicher Impfgegner dar, die zunehmend von rechts außen umworben werden.

Auch die aktuelle Debatte um eine Impfpflicht findet bisher keine Erdung im politischen Feld. Die Debatte geht quer durch alle Parteien und die Entscheidung im Bundestag soll freigegeben werden. Und ein mit knapper Mehrheit gefasster Beschluss des Parteivorstands der LINKEN macht aus der Impflicht noch keine linke Position.

Und dennoch hat die Pandemie das politische Feld nachhaltig verändert. Unter dem Druck der ausgelösten Wirtschaftskrise sahen sich die meisten Regierungen, und so auch die Bundesregierung, genötigt, massive Unterstützungsprogramme für notleidende Branchen und Beschäftigte zu starten. Zur Finanzierung mussten die Schranken des staatlichen Investitionsverbots („Schuldenbremse“) und des Stabilitätspaktes zur Seite geschoben werden, und es wurden sogar „Eurobonds“ aufgelegt, für die die Euro-Staaten gemeinsam haften. Solche Maßnahmen galten noch vor zwei Jahren als undenkbar und nun sind sie Realität und mit der „normativen Kraft des Faktischen“ (Habermas) versehen.

Vor der Bundestagswahl

Im Vorfeld der Bundestagswahl hatte sich so eine Situation entwickelt, deren Dynamik einerseits durch starke links-progressive Mobilisierungen von Bewegungen und in den Gewerkschaften, andererseits von einer aktiven Suche der Eliten nach gleichermaßen gangbaren und einträglichen Wegen aus der Klimakrise geprägt war, während die Rechtsextremisten zwar stark, aber weitgehend isoliert vom realpolitischen Geschäft blieben. Die Pandemie hatte Regierten und Regierenden die Erfordernisse tiefgreifender Veränderungen vor Augen geführt. Damit öffnete sich ein politischer Möglichkeitsraum, in dem nach der Wahl die Ampel-Koalition entstand. Zwei Parteien hatten diese Entwicklung allerdings verschlafen, und das waren die Wahlverlierer CDU und DIE LINKE.

Ein deutliches Signal des Wandels auf Regierungsebene erfolgte bereits Anfang Juni 2021, als die Bundesregierung sich auf Betreiben der SPD weigerte, in ihr Corona-Krisenpaket auch Kaufprämien für Verbrennerautos aufzunehmen, wie es zuvor die Autobranche und die zugehörigen Ministerpräsidenten Söder (CSU), Kretschmann (Grüne), Weil (SPD) sowie die CDU gefordert hatten.

Die CDU hatte Umwelt- und Klimafragen stets als Belastung der Wirtschaft verstanden und war deshalb komplett überfordert, in einer Klimawahl ein ernsthaftes Konzept zu präsentieren. Bis relativ kurz vor der Wahl war sie mit sich selbst beschäftigt und so entging ihr auch, dass die Wirtschaft schon längst an ihr vorbeigezogen war. Laschets unpassendes Lachen im Flutgebiet an der Ahr und sein Statement: „Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“ legten diese Inkompetenz schonungslos offen.

Bei der LINKEN war es, auf eine andere Weise, ähnlich. Die Beziehungen zu den außerparlamentarischen Bewegungen und progressiven Kreisen waren bereits seit 2018 auf Betreiben des Wagenknecht-Flügels gestört, was Wagenknecht mit ihrer 2021er Kampagne gegen die „Lifestyle-Linke“ nochmals vertiefen konnte, mit Argumenten, die als unstimmig, oberflächlich und sachlich falsch inzwischen Punkt für Punkt widerlegt wurden (Wiethold 2021).

Obwohl das Wahlprogramm von vielen Umweltaktivisten wegen seiner Umwelt- und Klimaaussagen gelobt wurde, blieb es im Wahlkampf bedeutungslos. Die Partei konzentrierte sich auf eine Rolle als „gesamtgesellschaftlicher Betriebsrat“ (ein Wort von Peter Glotz, damals auf die SPD gemünzt), der die eigentlichen Gestaltungsaufgaben anderen überlässt und sich auf die Forderung nach sozialer Verträglichkeit beschränkt, darüber ihren sozial-ökologischen Zukunftsentwurf fast vergessend. Diese Strategie des Kleinsten gemeinsamen Nenners ist gescheitert und wenn die durchaus vorhandenen Versuche, sie grundlegend zu überwinden, nicht fruchten, hat DIE LINKE keine Zukunft.

Die SPD inszenierte derweilen erfolgreich ihre „Resozialdemokratisiserung“ mit den Forderungen von zwölf Euro Mindestlohn, Sicherung der Renten, Wohnungsbau. Zugleich bot sie sich als klassisch integrationistische Agentur an, um die ökologischen Forderungen nach der Klimawende, die damit verbundenen Hoffnungen der Industrie und die Schutzbedürfnisse der Beschäftigten integrierend zu managen. Dazu Scholz als neuer Kanzler 2022 im virtuellen Davos: „Wir werden das Klima von einem Kostenfaktor in einen Wettbewerbsvorteil verwandeln“ (Scholz 2022). Das und die Fehler der Anderen reichte, um die Nase vorne zu haben.

Die Ampel als Versuch einer Modernisierungskoalition

Dass eine Regierung ohne CDU/CSU möglich wurde, ist eine große Chance und das Ergebnis der Bewegungen und gewerkschaftlichen Kämpfe der zurückliegenden Jahre: „Druck von der Straße wirkt. Und wie!“ (FFF 2021).

Die Ampelkoalition präsentiert sich als klassenübergreifende Modernisierungskoalition. Sie stößt in den politischen Raum, der durch die demokratischen Bewegungen einerseits, die wachsenden Reformwünsche der Unternehmerverbände andererseits eröffnet wurde. Eine solche Konstellation tritt nur alle paar Jahrzehnte auf, und die Veränderungen der nächsten acht bis zehn Jahre werden die gesellschaftliche Entwicklung über einen langen Zeitraum beeinflussen. Ob aber die Parallelen zur sozialliberalen Koalition 1969–1982, wie sie die Selbstbeweihräucherung der Ampel inszeniert, sich als gerechtfertigt erweisen werden, darf einstweilen in Zweifel gezogen werden.

Wie jede klassenübergreifende Koalition ist die Ampel zutiefst widersprüchlich. Sie bleibt hinter den Pariser Klimazielen, den UN-Entwicklungszielen und den Erfordernissen sozialen Ausgleichs zurück. „Die Ampel-Regierung steht nicht nur für eine halbherzige, sondern für eine halbierte Transformation – sie ist keine gerechte Transformation. Ohne den Ausbau sozialer Rechte wird Klimaschutz scheitern.“ (Wissler/Henning-Wellsow 2022) Auch der Widerspruch zwischen Geschäften mit China und Russland und atlantischem Militarismus droht mit einer Außenministerin Baerbock in Richtung letzterem umzuschlagen.

Die Ampel hat aber auch Gutes vor, etwa den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, zwölf Euro Mindestlohn, Wohnungsbau oder die Abschaffung des §219a und wird damit in erhebliche Konflikte mit CDU, AfD und den rückwärtsgewandten Teilen der Gesellschaft geraten. In diesen Konflikten werden die progressiven Kräfte die Regierung stützen und vorwärts drängen müssen und sie dort kritisieren, wo sie zurückweicht.

„Gemessen an dem Versagen der Großen Koalition erleben wir Fortschritte. Gemessen an der Realität der Klimakrise reicht dieses Regierungsprogramm vorne und hinten nicht. (Argh!)“ (Fridays for Future 2021), so haben es die Fridays for Future treffend zusammengefasst, und dieses Fazit lässt sich genauso für die soziale Dimension des Koalitionsvertrags übernehmen.

Wird die Ampel scheitern? Jede Modernisierungskoalition gelangt an einen Wendepunkt, wo sich ihre inneren Widersprüche und die Widerstände konservativer Kräfte einerseits, die weiter drängenden Forderungen progressiver und linker Kräfte andererseits dramatisch zuspitzen.

Die Widersprüche der Ampel liegen klar zu Tage:

  • Die SPD wird mit der Erhöhung des Mindestlohns, die 8,6 Millionen Beschäftigten zu Gute kommen wird (Lübker 2021) und Punkte sammeln. Die Kluft zwischen Arm und Reich „kann kleiner werden, wenn es gelingt, dass deutlich mehr Menschen Tariflöhne erhalten und der höhere Mindestlohn kommt. Bei der Steuergerechtigkeit wird es dagegen leider nicht vorangehen, weil die FDP absolut keine Erhöhungen will – weder bei der Einkommenssteuer noch bei der Vermögenssteuer.“ (Hoffmann 2022)
  • Mit der Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld ist es nicht getan. Bei Hartz IV „reichen die aktuellen Sätze überhaupt nicht“ und „durch Sanktionen fallen die Menschen zum Teil unter das Existenzminimum“. (ibd.) Die unbestimmten Ankündigungen wecken Erwartungen, die absehbar unerfüllt bleiben werden.
  • Zu Themen wie Bildung und Gesundheit reicht der Ampelvertrag vorne und hinten nicht und ob es der Regierung gelingt, 400.000 Wohnungen im Jahr zu bauen, wird sich auch erst zeigen (2022 hat schon begonnen).
  • Die Ampel will bis 2030 die Gleichstellung der Frauen realisieren. Es ist aber nicht erkennbar, mit welchen Maßnahmen dieses ambitionierte Ziel erreicht werden soll.
  • Die Umsetzung der Energiewende mit der Bereitstellung von zwei Prozent der Landesfläche für die Windenergie wird enorme Widerstände vor Ort wecken. Hier droht massiver Widerstand aus Spießer-Deutschland und von rechts.
  • Die Verkehrswende ist auf eine Zeit ohne FDP (und CDU) in der Regierung vertagt.
  • Die Finanzierung der Klimawende und anderer Vorhaben ist nicht schlüssig geregelt. Da die FDP sowohl Steuererhöhungen als auch Neuverschuldung rigoros ablehnt, darf man auf die Auflösung des Rätsels gespannt sein.
  • In der Außenpolitik wird die Besonnenheit eines Rolf Mützenich (der wirklich letzte Enkel Willy Brandts in der SPD) mit der konfrontativen Haltung der Grünen gegen Russland und China auf Dauer schwer zu vereinen sein.
  • Welche Handlungsfähigkeit wird dieses Bündnis bei unerwarteten Krisen aufweisen? Bereits Wochen nach dem Koalitionsvertrag zeigen sich die Koalitionspartner unfähig zu einer gemeinsamen Position zur Impfpflicht, die allerdings in der gesamten Gesellschaft quer durch alle Lager umstritten ist. Und da geht es noch gar nicht um Geld!

Wir werden nun also hoffentlich erleben, dass der Ampel die eine oder andere progressive Reform gelingt. Wird das die Mobilisierungen von unten beruhigen? Ich vermute, das Gegenteil wird der Fall sein. Aus Sicht der arbeitenden Klassen ist der gesellschaftliche Reformbedarf erheblich größer, als das, was die Ampel sich vornimmt. Erfolge, wenn es sie geben wird, werden kein Grund sein, auf weitere Ansprüche zu verzichten – im Gegenteil.

Zu Recht wird von verschiedener Seite darauf verwiesen, dass ein grüner Kapitalismus nicht wirklich nachhaltig sein wird (Zeller 2020, Canoglu et al. 2019) und die Bewältigung der „Nachhaltigkeitsrevolution“ (Dörre 2021) eine massive Eindämmung der Kapitalverwertung erforderlich machen wird (Wallerstein 2004). Von dieser vorausliegenden Weggabelung wollen die Akteure der Ampel aber nichts wissen.

Mit den genannten Widersprüchen der Ampel sind den links-progressiven Kräften die Aufgaben vorgegeben: „Das, was noch fehlt, werden wir erkämpfen müssen!“ (Fridays for Future 2021). Jawohl, liebe Fridays, und ich füge hinzu: Außer „uns“ linken und links-progressiven Kräften einschließlich der Zivilgesellschaft wird das wohl auch niemand machen!

Im folgenden Teil 3 der Reihe wird es empirisch. Wie positionieren sich linke und progressive Kräfte an den Wahlurnen? Welche Probleme hat gerade das links-progressive Spektrum und welche Probleme hat die Partei DIE LINKE – zwei, die sich so schwertun, zueinander zu finden? Welches Potential hätte die links-progressive Partei? Die Wählerschaft von Grünen, LINKEN und den kleinen grün-linken Parteien bilden in den Top-20-Großstädten in Deutschland statistisch ein eng verbundenes, progressives Cluster, dessen Binnenstruktur und Relation zu anderen Parteien empirisch betrachtet wird. Dabei wird sich zeigen, dass DIE LINKE heute in den Großstädten zum linken Flügel dieses progressiven Clusters zählt und auch an den Wahlurnen ein links-progressives Potential im engeren Sinne begonnen hat sich zu bilden.

Fiete Saß ist stellvertretender Sprecher der Kölner LINKEN.

Literatur und Quellen

Autor*innenkollektiv climate.labour.turn, Mein Pronomen ist Busfahrerin,2021, https://www.rosalux.de/fileadmin/images/publikationen/sonstige_texte/Broschur_Busfahrerin_Juli21_Web.pdf

Bardt, Hubertus/ Dullien, Sebastian / Hüther, Michael / Rietzler, Katja, Für eine solide Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen, IMK Reprt 152, November 2019.

BCG / Prognos, Klimapfade für Deutschland (2021), https://image-src.bcg.com/Images/Klimapfade-fuer-Deutschland_tcm108-181356.pdf

BDA/BDI/DIHK/ZVH, Für einen Aufbruch, der unser Land nachhaltig stark macht, 9.9.2021 https://arbeitgeber.de/fuer-einen-aufbruch-der-unser-land-nachhaltig-stark-macht/

BDI Website 2021, https://bdi.eu/themenfelder/energie-und-klima/klimapfade/#/artikel/news/das-klimaneutrale-industrieland-gibt-es-nicht-zum-nulltarif/

Bundesverfassungsgericht, Urteil zu den Verfassungsbeschwerden gegen das Klimagesetz (2021) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html

Bispinck, Reinhard, Die Zehnerjahre in der Tarifpolitik: Eine Bilanz mit Ausblick (2020) https://www.wsi.de/de/blog-17857-18150.htm

Böckler Impuls 16/2021, „Tarifbindung muss Priorität haben“, https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-tarifbindung-muss-prioritat-haben-36229.htm

Böckler Impuls 18/2021 S. 3, Mehr Geld für Millionen, https://www.boeckler.de/data/impuls_2021_18_S3.pdf

Canoglu, Sergen (Hrsg.) u.a., Marxismus und Klimakrise, Berlin 2019

DGB, Mitgliederstatistik, https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen

Dörre, Klaus, Die Utopie des Sozialismus, Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin 2021

Grüne, Die, Grundsatzprogramm 1990, file:///C:/Users/49177/Downloads/20200125_Grundsatzprogramm.pdf

Fridays for Future, Analyse des Ampel-Koalitionsvertrages, 25.11.2021, https://fridaysforfuture.de/analyse-ampel-koalitionsvertrag/

Hoffman, Rainer, „Wir haben erkannt, dass wir weiblicher und jünger werden müssen“, Interview in der SZ vom 19.01.2022, S. 17

Koppold, Rupert, Die große Böllerei, Kontext: Wochenzeitung, Ausgabe 564, 21.02.2021, https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/514/die-grosse-boellerei-7283.html

Lesch, Hagen, Institut der Deutschen Wirtschaft 15.06.2016, https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/hagen-lesch-extreme-konflikteskalation.html

Lübker, Malte: Wer profitiert von 12 Euro Mindestlohn?
WSI Policy Brief 09/2021, Düsseldorf, https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008111

Netzwerk Friedenskooperative, Das war der Ostermarsch 2019, https://www.friedenskooperative.de/aktuelles/das-war-der-ostermarsch-2019

Viola Neu/Sabine Pokorny: Vermessung der Wählerschaft vor der Bundestagswahl 2021, Juli 2021, https://www.kas.de/de/monitor/detail/-/content/vermessung-der-waehlerschaft-vor-der-bundestagswahl-2021

Scholz, Olaf, zitiert in Davosagenda 2022, Übersetzung durch F.S., https://www.weforum.org/agenda/2022/01/davos-agenda-2022-highlights-key-takeaways/

Spiegel 2016, Vermutlich mehr als 100.000 Tote durch Smog-Krise in Südostasien, Spiegel 19.09.2016, https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/vermutlich-mehr-als-100-000-tote-durch-smog-krise-in-suedostasien-a-1112873.html

SPD / Grüne / FDP, Koalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP, 2021 https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf

Wallerstein, Immauel, Absturz oder Sinkflug des Adlers?: Der Niedergang der amerikanischen Macht, Hamburg 2004

Wissler, Janine und Henning-Wellsow, Susanne, Für eine LINKE Transformation. Sozial und klimagerecht,15.01.2022, https://www.die-linke.de/start/detail/fuer-eine-linke-transformation-sozial-und-klimagerecht/

WSI Pressedienst 03.03.2016, WSI Arbeitskampfbilanz 2015

WSI Verteilungsbericht 2021, https://www.wsi.de/de/verteilungsbericht-2021-30037-gini-koeffizient-30069.htm

Zeller, Christian, Revolution für das Klima: Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen, München 2020

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Eine Antwort

  1. Beim ersten Lesen sind mir drei Problemkreise spontan eingefallen, die bei vielen noch nicht richtig ins Bewußtsein gedrungen sind:
    1. Meines Erachtens bestehen mal wieder wie in den Jahrzehnten zuvor, große Illusionen über die Umsetzung politischer, gesellschaftlicher, sozialer Forderungen, die im Interesse der Mehrheit der Menschen in diesem Land sind.
    Damit meine ich die Versprechen, die von Seiten der SPD und der Grünen vor den Wahlen verlautbart wurden und dann nach der Wahl nicht umgesetzt werden. Dann kommen regelmäßig Sätze, wie „Wir wußten ja nicht, das die Kassen so leer sind“, „Jetzt ergeben sich andere Prioritäten“ und ähnliches.
    Zudem bin ich schon jetzt wieder von der SPD-Führung schwer enttäuscht, wenn ich in diesen Tagen vernehme, das die Rüstung in Deutschland (2%-Ziel) wesentlich stärker vorangetrieben werden soll und die übelsten Hetz-Parolen (z. T. im Gossenjargon) hervorgeholt werden. Gegen Putin und Russland sind ständige Provokationen, Beleidigungen, Erpressungen, Halbwahrheiten, Tatsachenverdrehungen, einseitige Betrachtungsweisen usw. von SPD-Politikern wie Klingbeil, Lambrecht etc. in trauter Gemeinsamkeit mit CDU/CSU (z.B.Röttgen), FDP, Grünen, mit fast allen Printmedien, TV, Rundfunk, von „Bild“ bis einstmals linksliberalen Blättern wie „Spiegel“ und „Zeit“ an der Tagesordnung. Einzig Rolf Mützenich erscheint mir in der SPD derzeit noch sachlicher Gedanken in diesem Zusammenhang fähig im Geiste Willi Brandts mit seiner Ostpolitik.
    Und genau der gleiche unsachliche Ton herrscht gegenüber China. Die hetzerische demagogische Berichterstattung zu den Olympischen Winterspielen , die die Sportberichterstattung überlagerte, war schlimm. Aber man war ja an der Seite der „freiheitlichen demokratischen friedliebenden“ USA, die schon immer die angeblich „positiven“ Werte mit ihrer Rassenpolitik gegen die Indianer, Afroamerikaner, Hispanics verkörperte; in Vietnam, Grenada, Irak, Syrien, Libyen, Chile, Afghanistan, Teil-Jugoslawien und anderen Teilen der Welt mit ihren blutigen Händen die „westlichen Werte“ mit Kriegen, Invasionen, Regieungsstürzen, verteidigte oder man denke an die Gefolterten in Guantanamo, die schon viele Jahre ohne Gerichtsprozeß festgehalten werden oder man denke an Assange, Snowden und viele andere.
    Das eine Partei wie die Grünen, die auch aus der Friedensbewegung entstanden, heute bedingungslos die Interessen von, NATO, USA und der Rüstungskonzerne durchsetzen, ich denke z. B. an die Verlautbarungen unserer Außenministerin auf der jetzigen SiKo in München, das läßt mich als frühere Grünen-Wählerin fassungslos zurück.

    2. Der Druck der „Straße“ von Bürgerinitiativen, Bewegungen, Verbänden, Vereinigungen u.a. auf die Regierungsparteien ist dringend notwendig, um auf die Durchsetzung der Versprechen, die vor den Wahlen gegeben wurden, auch zu erreichen.

    3. Den sachliche Zusammenhang zwischen der Klima- & Umweltbewegung mit der Friedensbewegung ist noch viel stärker zu verdeutlichen, ins Bewußtseinzu rücken.. Milliardenprofite durch Aufrüstung zur Führung von Kriegen in aller Welt, der Einsatz von (Nuklear)Raketen und Bomben, hat die mit Abstand verheerendsten Folgen für Umwelt und Klima (Das Geld fehlt dann auch bei Bildung, Umweltschutz und in der Sozialpolitik). Bei der SiKo in München am vergangenen Wochenende demonstrierten aber nur 1600 Menschen gegen die NATO und die Aufrüstung. Wo waren z.B. Fridays for Future, denn es ging ja um ihre Zukunft im Frieden. Bald sind die Ostermärsche der Friedensbewegung und damit eine neue Chance, für Frieden und Abrüstung zu demonstrieren.
    Felix Winter vom Kasseler Friedensforum brachte es mit den Worten auf den Punkt: „Die Märsche sind besonders wichtig im Moment, weil wir in der NATO diese unheimliche Aufrüstung haben – wir sollen unsere Rüstungsausgaben fast verdoppeln. Das ganze Geld, was da verpulvert wird, wird uns fehlen für eine nachhaltige Politik und eine ökologische Wende. Das kann man nicht zulassen.“

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