Linksfraktion

Der Lobby auf der Spur – Wie Sexarbeiter*innen und ihre Verbündeten diskreditiert werden

Der Streit um das „Nordische Modell“ wird unerbittlicher, schärfer und unsolidarischer. Wer sich für mehr Rechte und die soziale Absicherung von Prostituierten einsetzt oder wer als Sexarbeiter*in für die eigenen Rechte aktiv ist, wird mittlerweile schnell als Bordell-Lobbyist*in abgetan.

So auch am Internationalem Hurentag in Berlin. Der Internationale Hurentag am 2. Juni erinnert an eine Protestaktion französischer Sexarbeiter*innen: 1975 besetzten Sexarbeiter*innen eine Kirche in Lyon, um Aufmerksamkeit für sich und ihre Kämpfe zu bekommen. Genau diese Sichtbarkeit fehlte ihnen zu der Zeit, denn sie wurden kriminalisiert, und die Arbeit fand ungeschützt im Verborgenen statt, wodurch die Gewalt gegen Sexarbeiter*innen stieg.

Auch heute nutzen Sexarbeiter*innen diesen Tag, um für ihre Rechte und Sichtbarkeit einzutreten. Die deutsche Bezeichnung als „Hurentag“ ist eine selbstbewusste Aneignung des lange diffamierend und als Schimpfwort eingesetzten Begriffs „Hure“.

In diesem Jahr fanden zum 2. Juni zahlreiche Aktionen von Sexarbeiter*innen und Mitstreiter*innen statt. In Berlin planten die Sexarbeiter*innen der Gruppe SWAG (Sex Worker Action Group) eine Kundgebung. Ihnen kamen jedoch Akteur*innen zuvor, die an dem Tag für ein Sexkauf-Verbot streiten wollten. Die Sexarbeiter*innen meldeten eine Gegenkundgebung an. Woraufhin die Gruppe, die ein Sexkauf-Verbot fordert, auf Instagram verbreitete, „die Lobby“ komme: „Polizei ist informiert und sorgt dafür, dass die Lobby uns nicht bedrängen kann.“

Der Begriff der „Lobby“ hat derzeit Konjunktur. Antifeminist*innen und Konservative warnen vor der „Gender-Lobby“, die durch Gendersternchen und Co. die deutsche Sprache abschaffen würde, die „Homo-Lobby“ bedrohe die Familie, die „Trans-Lobby“ wolle allen ihr Geschlecht nehmen und erhalte dabei Unterstützung durch die „Pharma-Lobby“. Die „Sex-Lobby“ sei geldgeil und wolle unbegrenzte Verdienstmöglichkeiten.

Der Lobby-Begriff und polemische Zuspitzungen sind ein erfolgversprechender Kniff. Der Kampf gegen eine mächtige Lobby schickt sich doch deutlich mehr, als gegen Frauen, queere und trans Menschen sowie Sexarbeiter*innen zu hetzen. Vermutlich ließe sich Folgendes nicht so gut verkaufen: „Frauen und Queers kämpfen für eine Sichtbarkeit in der Sprache, Homosexuelle fordern gleiche Rechte, trans Personen fordern die selbstbestimmte Wahl ihres Namens und Geschlechts und die vereinfachte Kostenübernahme von Hormontherapien. Sexarbeiter*innen fordern soziale Rechte und Geld für ihre Arbeit – und wir tun alles, damit diese Menschen die geforderten Rechte nicht bekommen.“

Das Bedrohungsszenario wäre verschwunden und die rechte und konservative Kritik weniger anschlussfähig an linke und liberale Kreise. Doch wenn die unmoralische „Lobby“ aufgerufen wird, hören hie und da sogar antikapitalistische LINKE Streiter*innen für Frauenrechte hin und wollen sich in die „Anti-Lobby-Kämpfe“ einreihen.

Die Konstruktion eines übermächtigen Feindes ist elementarer Bestandteil von Verschwörungsmythen. In antifeministischen Erzählungen wird der Feminismus, beziehungsweise werden Feminist*innen, für bestimmte – vermeintlich negative – gesellschaftliche Entwicklungen verantwortlich gemacht. Es wird ihnen autoritäres Verhalten und Herrschaftssucht vorgeworfen.

Wenn Sexarbeiter*innen und ihre Mitstreiter*innen als „Lobby“ bezeichnet werden, werden sie als eine große, mächtige Gruppe konstruiert, die tatsächlich direkten Einfluss auf die Politik ausüben könne. Sexarbeiter*innen, die in der Öffentlichkeit sprechen, werden zu Anführer*innen einer gut vernetzten Branche mit unendlichen finanziellen Mitteln erhoben. Und Abgeordnete, die diese Kämpfe unterstützen, werden zu korrupten Politiker*innen, die von Bordellbetreiber*innen geschmiert sind.

Das verkennt völlig die gesellschaftliche Realität. Sexarbeiter*innen werden in unserer Gesellschaft stigmatisiert. Die allermeisten Arbeitsverhältnisse im Bereich der erotischen und sexuellen Dienstleistungen sind prekär und sozial schlecht oder gar nicht abgesichert. Wenn ihnen das Eintreten für die eigenen Rechte vorgehalten wird, wird ihnen die Positionierung als politische Subjekte genommen und die marginalisierte Position, aus der sie sprechen, abgesprochen. Wenn man Vernetzungen, die für Sexarbeiter*innen eine gelebte Praxis der Solidarität, der Selbstvertretung und des Arbeitskampfes sind, als profitorientierte Zusammenschlüsse diffamiert, dann nimmt man ihre Stärke und Selbstbestimmung.

Am 2. Juni verkündeten die Organisator*innen der Kundgebung die Gründung einer Gewerkschaft für Sexarbeiter*innen, angedockt an die FAU Berlin (Frei Arbeiter*innen Union). In Redebeiträgen forderten Sexarbeiter*innen soziale Rechte, gesellschaftliche Anerkennung und faire Bezahlung.

Die Pro-Sexkauf-Verbot-Akteur*innen standen wenige Meter weiter in einem Grüppchen zusammen und hielten Plakate mit frauenverachtenden Zitaten, die von Freiern stammen sollen, in die Höhe. Diese Zitate beschrieben unter anderem nichtkonsensualen Sex mit Minderjährigen und andere gewaltvolle Situationen. Besonders für Menschen, die sexistische Diskriminierung, sexualisierte Belästigung und Gewalt erleben beziehugnsweise erlebt haben – also die Mehrheit aller Frauen und trans Personen –, können solche gewaltverherrlichenden Aussagen erneut schmerzhaft sein und verletzen. Die Situation von Betroffenen von Gewalt schien den Schildträger*innen in dem Moment ziemlich egal zu sein, da sie erneute Verletzung und Trigger für die gezielte Provokation in Kauf nahmen. Vermutlich würden die Protestierenden das Zeigen dieser Plakate damit begründen, dass sie doch nur sichtbar machen, wie abwertend Männer über Frauen/Sexarbeiter*innen sprechen und denken. Ob diese Reproduktion von patriarchaler Gewalt ein sinnvolles politisches Mittel darstellt, ist zu bezweifeln – aber unabhängig davon ist es höchst makaber, dieses Mittel an einem Tag zu verwenden, an dem Sexarbeiter*innen für mehr Rechte, Sicherheit und Solidarität kämpfen. Der von Sexarbeiter*innen erkämpfte Protesttag wurde von dieser Gruppe für ihre Agenda genutzt – mehr Entsolidarisierung ist kaum möglich.

Als emanzipatorische Feministinnen, sollte es aber unser Anspruch sein, uns mit denjenigen zu verbinden, die für ein Ende von Ausgrenzung und Stigmatisierung und für soziale Rechte und Freiheit kämpfen.

Verbünden wir uns mit Marginalisierten und geben ihnen Raum! Dies ist zumindest mein Anspruch als Feministin und LINKE.

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