In den meisten Ländern Europas befindet sich die Sozialdemokratie derzeit in einem selbstverschuldeten rasanten Niedergang. Nach dem jüngsten „Putsch“ des rechten Parteiflügels gegen den bisherigen Parteichef Pedro Sánchez dürfte nun auch die „PASOKisierung“ der PSOE, also der spanischen Sozialdemokratie, ihren Lauf nehmen. In einem Lande erlebt die traditionelle Sozialdemokratie derzeit allerdings eine Renaissance und einen Massenzustrom von Arbeitern und Jugendlichen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Rede ist von der britischen Labour Party, die seit dem Aufstieg Jeremy Corbyns zum Parteichef hunderttausende neuer Mitglieder gewonnen hat und nun zur mitgliederstärksten politischen Partei Westeuropas geworden ist.
Vor wenigen Tagen wurde das Ergebnis der Urwahl des Parteivorsitzenden verkündet. Nach Abschluss der Auszählung aller von Mitgliedern und Unterstützern der Partei abgegebenen Stimmen kam Corbyn dabei auf 313.209 Stimmen oder einen Stimmanteil von 61,8 Prozent. Damit wurde seine Position gegenüber der Urwahl vor Jahresfrist gestärkt. Der von den Mainstream-Medien, bürgerlichen Kreisen, dem rechten Parteiflügel und der Mehrheit der Parlamentsfraktion unterstützte Gegenkandidat Owen Smith musste sich mit 193.229 Stimmen oder 38,2% geschlagen geben.
Dieses klare Wahlergebnis bildet den vorläufigen Schlusspunkt eines „heißen Sommers“ und „Bürgerkriegs“ in der Partei. Denn gleich nach dem Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der EU (Brexit) am 23. Juni 2016 hatte die rechtssozialdemokratische, bürgerliche Mehrheit der Parlamentsfraktion Corbyn per Misstrauensvotum zu stürzen versucht. Sie warfen ihm vor, in der Brexit-Kampagne nicht energisch genug für den Verbleib des Landes geworben zu haben. Tatsächlich hatte Corbyn zwar mit Rücksicht auf die „Einheit“ der Partei für den Verbleib geworben, aber gleichzeitig aus seiner linken Kritik an der Politik der EU keinen Hehl gemacht. Doch der Schuss gegen Corbyn ging nach hinten los. Denn eine beispiellose spontane Basisbewegung sprang ihm in dieser Situation bei und stärkte ihm den Rücken.
Wie andere Sozialdemokratien war auch die Labour Party spätestens seit den 1990er Jahren politisch und ideologisch stark nach rechts gerutscht. Sichtbarster Ausdruck war der Aufstieg des neoliberalen „Modernisierers“ und Kriegstreibers Tony Blair zum Partei- und Regierungschef bis 2007. Seine Anhänger, von den Kritikern als „Blairites“ bezeichnet, übernahmen systematisch den Parteiapparat und die Mehrheit der Mandate in Unterhaus, Regional- und Kommunalparlamenten. Kritische Basismitglieder resignierten, viele traten aus. Die Mehrheit der Gewerkschaftsapparate, die nach wie vor starken innerparteilichen Einfluss haben, duldete diesen Prozess und „heulte mit den Wölfen“. Ganz wenige altlinke Parlamentsabgeordnete wie Jeremy Corbyn, die immer wieder gegen die Kriegs- und Sparpolitik der „eigenen“ Regierung rebellierten, galten als unbedeutende „Außenseiter“ im Parteiapparat und Politbetrieb.
Dass ausgerechnet dieser Corbyn, der seit 1983 den Londoner Wahlkreis Islington North im Unterhaus vertritt, im Sommer 2015 an die Spitze der Partei katapultiert wurde, war in den Augen von Freund und Feind eine Sensation und Revolution. Ausgangspunkt war die Führungskrise der Partei nach einer erneuten Niederlage in der Parlamentswahl im Frühjahr 2015. Die Parteiführung machte aus der Not eine Tugend und setzte eine Urwahl des neuen Parteichefs an. Um das ganze „populärer“ und „attraktiver“ zu machen, konnten auch sich auch Sympathisanten für einen Betrag von drei Pfund in die Wählerliste eintragen. Die „Blairites“ waren sich ihrer Sache so sicher, dass einige ihrer Parlamentarier per Unterschrift sogar dem als „chancenlos“ gelten Zählkandidaten Jeremy Corbyn über die vorgeschriebene Hürde und damit auf den Stimmzettel verhalfen. Das sah demokratisch aus. Auch Corbyn selbst nahm es sportlich und erwartete bestenfalls ein Achtungsergebnis, keinesfalls jedoch den Sieg.
Doch von Tag zu Tag verzeichnete er einen immer stärkeren Zulauf. Bei seiner Sommertour durch das Land kamen hunderte, manchmal auch tausende zu seinen Versammlungen. Sie spürten, dass er im Gegensatz zu seinen Mitbewerbern die Sprache „normaler“ Menschen sprach und nicht das geschliffene Politiker-Neusprech abgehobener Berufspolitiker. Als Kapitalismuskritiker und Kriegsgegner sprach er vielen aus der Seele. Eine vergleichbare Massenbegeisterung für eine linke Alternative hatte es in Großbritannien jahrzehntelang nicht mehr gegeben.
Dies ist kein Zufall, zumal sich die Lebensbedingungen der Massen über die Jahre deutlich verschlechtert haben. Neben Griechenland und Portugal ist Großbritannien das Land, in dem die Reallöhne am meisten gesunken sind. Einzelne Regionen mit hoher Erwerbslosigkeit, die am stärksten unter dem industriellen Kahlschlag gelitten haben, verzeichnen ein Pro-Kopf-Sozialprodukt unter dem von Tschechien oder Polen. Vor allem in solchen Regionen nehmen armutsbedingte Krankheiten zu, Tuberkulose ist weiter verbreitet als in Algerien oder im Irak. Das Vertrauen in den Kapitalismus, das ganze System und seine Repräsentanten, Konzerne, Banken und Medien ist auf einem Tiefststand angelangt.
Über eine lange Zeit hatte es keine überzeugende politischen Alternative als Ausdruck für diese Stimmung gegeben. Versuche diverser linker Klein- und Kleinstparteien, als Wahlalternative der Labour Party das Wasser abzugraben, blieben erfolglos. In England und Wales hat Labour vor allem in traditionellen Industrieregionen und Ballungsgebieten immer noch Hochburgen und als sicher geltende Wahlkreise. In der einstigen Labour-Hochburg Schottland jedoch gab sich die bürgerlich-nationalistische Scottish National Party (SNP) in den vergangenen Jahren sozialdemokratischer und systemkritischer als die verkrustete schottische Labour Party und konnte damit der traditionellen Arbeiterpartei bei der Parlamentswahl 2015 nahezu alle Wahlkreise abjagen.
Außerhalb von Schottland hat Corbyns Aufstieg jedoch schlagartig die Attraktivität von Labour gesteigert. In den zurückliegenden Sommermonaten sind mehrere hunderttausend neu in die Partei eingetreten, die meisten von ihnen sind Anhänger Corbyns. Zu seiner Unterstützung gründete sich auch die Organisation „Momentum“ (Impuls), die bei der Organisierung der Verteidigung gegen die Angriffe des rechten Parteiflügels eine entscheidende Rolle spielte und landesweit schon viele Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen organisiert hat.
Dass sich Corbyn auch nach seinem haushohen Sieg in der Vorstandswahl nicht ausruhen und auf die Loyalität der „Blairites“ verlassen kann, zeigen die letzten Tage und Wochen. So hat der Parteiapparat in den vergangenen Wochen etliche kritische linke Mitglieder suspendiert und ihnen Delegiertenmandate entzogen. Es bleibt abzuwarten, ob Momentum jetzt straffe Strukturen aufbaut und den Einfluss und Würgegriff der „Blairites“ in den Parteigliederungen systematisch bekämpft. Der jüngste, am Wochenende zu Ende gegangene Labour Parteitag zeigt jedenfalls, dass die „Blairites“ gut organisiert sind und den Kampf um die Partei und ihre Gremien noch nicht aufgegeben haben. Sie sind bemüht, Corbyn mit Beschlüssen nach ihrer Façon einzumauern und ihm die Hände zu binden. So drückte die Parteitagsregie einen Beschluss durch, der den gewählten Labour-Vertretern in den kommunalen Parlamenten untersagt, gegen die von der konservativen Regierung erzwungenen Ausgabenkürzungen zu stimmen. Wer dies dennoch tut, riskiert den Parteiausschluss. Corbyns explizite Anti-Austeritätspolitik wird mit diesen Beschluss untergraben.
Eine entscheidende Frage wird nun auch die demokratische Nominierung der Parlamentskandidaten durch die örtliche Parteigliederung. Es geht um nicht mehr als das selbstverständliche Recht der Parteibasis, gewählte Wahlkreisabgeordnete für die nächste Wahl nicht wieder aufzustellen, wenn sie ihr Vertrauen nicht mehr genießen. Bisher gab es in der Satzung hierfür sehr hohe Hürden und damit einen Automatismus, nach dem bisher gewählte Abgeordnete selbstverständlich wieder als Kandidaten für die nächste Wahl antraten. Dies stärkte meistens geschniegelte Karrieristen, die seit den 1990er Jahren vom Parteiapparat gezielt der Parteibasis in sicheren Wahlkreisen vorgesetzt wurden.
Der Aufschrei der Empörung von Big Business, Blairites, bürgerlichen Kreisen und Mainstream-Medien gegen Corbyn ist wohl begründet. Bisher war das Zwei-Parteien-System relativ „intakt“ und galt Labour für die herrschende Klasse immer als eine sichere, verlässliche Reservetruppe, sobald die Konservativen abgewirtschaftet hatten und sich Wechselstimmung im Land breit machte. Corbyns radikales, linkes Reformprogramm und sein Ruf nach partiellen Wiederverstaatlichungen etwa der Eisenbahnen passen dem Establishment nicht in den Kram. Die Herrschenden wollen auch nicht dulden, dass er Kriege, die NATO und Trident-Atomwaffen ablehnt und die Rüstungsausgaben kürzen will. So haben manche Militärs bereits laut über einen Putsch gegen eine Regierung Corbyn nachgedacht.
Der rasante Aufstieg Jeremy Corbyns zeigt, dass die Zeit nicht nur in Großbritannien reif ist für eine radikale Veränderung. Ähnlich ist auch der starke Zulauf für Bernie Sanders in den USA erster Ausdruck einer beginnenden Radikalisierung nach links.
Die Erfahrung mit der griechischen Syriza-Regierung zeigt jedoch auch die Grenzen des Reformismus im 21. Jahrhundert auf. Noch vor zwei Jahren war Alexis Tsipras gefeierter Star beim Bundesparteitag der LINKEN und stellten sich viele Delegierten für ein Selfie neben ihn. Die Euphorie und Illusion ist der Ernüchterung und Enttäuschung gewichen. Wer es mit einem radikalen Reformprogramm im Interesse der Masse der Bevölkerung ernst meint, muss auch zum Bruch mit der herrschenden Klasse bereit sein. „Corbyn verteidigen, für den Sozialismus kämpfen“, haben sich britische Marxisten daher auf die Fahnen geschrieben.
Ein Gastbeitrag von Hans-Gerd Öfinger, Mitglied der Linken und des Funken.