Die Parole der Einheitsfront gegen den Faschismus hielt nicht ewig!

Befreiung vom Dank

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat eine Rede gehalten zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, pünktlich am 8. Mai 2020. Von der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 1985 wird heute noch gesprochen – als einem Meilenstein im Selbstverständnis deutscher Geschichte.

Im Vergleich dazu hat Steinmeier eine geschäftsmäßige Rede zur aktuellen Politik gehalten, an die sich eigentlich bereits jetzt niemand mehr erinnert. Gleichwohl ist es aufschlussreich, genauer auf den Text zu schauen, um zu rekapitulieren, was er tatsächlich gesagt und was er nicht gesagt hat. Das erklärt viel über den Geisteszustand und die Ambitionen der heutigen politischen Klasse in Deutschland.

Insgesamt hat Steinmeier das Wort „Befreiung“ neunmal benutzt. Am Anfang der Rede steht der Satz: „Der 8. Mai war das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, das Ende von Bombennächten und Todesmärschen, das Ende beispielloser deutscher Verbrechen und des Zivilisationsbruches der Schoah.“ Damit hat er scheinbar erst einmal alles aufgezählt, was zum derzeitigen Katechismus offizieller deutscher Geschichtsanrufung gehört. Aber wie hat er das gesagt? Steinmeier stellt die Naziherrschaft und ihre Ergebnisse gleichrangig nebeneinander. Zur Entstehung der Naziherrschaft sagt er nichts. Weizsäcker hatte ausdrücklich betont: „Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

Bei Steinmeier wird nur von „nationalsozialistischer Gewaltherrschaft“ geredet, ohne sie als Ursache des Krieges klar zu benennen. Und dann steht sie auf einer Ebene mit den „Bombennächten“, unter denen die deutsche Zivilbevölkerung litt, und den „Todesmärschen“, zu denen die verbliebenen KZ-Häftlinge auf Befehl der SS befohlen wurden. Ursachen und Folgen, Opfer und Täter sind ebenso anonymisiert wie vermischt. Das verstärkt Steinmeier noch, wenn er den Deutschen ihre Opferrolle zuweist: „Hunger, Flucht, Gewalt, Vertreibung“ – nun gänzlich losgelöst von den Ursachen, die aus dem 30. Januar 1933 kommen, und den vorn genannten „beispiellosen deutschen Verbrechen und des Zivilisationsbruches“. Und: Reduziert sich der Zivilisationsbruch eigentlich auf die Schoah, oder gilt er ebenso für die Ermordung von Millionen slawischer Menschen, Russen, Polen, Weißrussen und anderen? Was ist mit den 1,4 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Deutschen bereits 1941/42 absichtsvoll verhungern ließen? Nach dem auch damals geltenden Kriegsvölkerrecht hätten sie Anspruch auf lebenserhaltende Unterbringung und Ernährung gehabt.

„Die Befreiung war 1945 von außen gekommen“, sagt Bundespräsident Steinmeier. Durch die Hintertür? Heimlich des Nachts? Oder kam der Krieg, gewalttätig, wie die Deutschen ihn begonnen hatten, als Antwort der Welt nach Deutschland zurück? Gab es auch Befreier? Waren da vielleicht die Russen dabei? Steinmeier nennt Krieg und NS-Diktatur eine „Katastrophe“. Kam die über die Deutschen wie die Corona-Pandemie? Völlig unverschuldet? Oder gab es 1933 Millionen Wähler der NSDAP und dann unzählige Zujubler, Mitglieder der Nazi-Partei, Freiwillige, die sich zur SS meldeten, Blockwarte, die ihre Nachbarn bespitzelten, und unzählige uniformierte Mörder und Hiwis, die in den SS-Einsatzgruppen und in den KZs ihr Ausrottungshandwerk betrieben?

Der Redner Steinmeier meint des Weiteren: Dieses Land sei tief „verstrickt in sein eigenes Unheil, in seine Schuld“ gewesen. Wie ist man eigentlich in sein Unheil „verstrickt“? Unschuldig, wie Dornröschen, weil der dreizehnte goldene Teller fehlte und ein Fluch über das Kind verhängt wurde? Oder hatten die Deutschen mehrheitlich ihr Unheil selbst gewählt und Schuld auf sich geladen, weil sie bis zur Schlacht von Stalingrad glaubten, die Welt oder zumindest Europa erobern und beherrschen zu können? Was des Soldaten Weib alles für schöne Dinge aus den besetzten Ländern erhielt, bevor die Todesnachricht aus dem Osten kam, darüber hatte schon Bertolt Brecht geschrieben.

Dann vollzieht Steinmeier eine Wende: von der Befreiung, die über uns kam, zur „inneren Befreiung“, zu der „Aufarbeitung und Aufklärung“ gehörten. Jetzt haben wir unsere Geschichte „aufgearbeitet“ – wie eine alte Jacke, die beim Schneider war? – und unsere „innere Befreiung“ vollbracht. Und so kam es „zu jenem glücklichsten Moment der Befreiung: der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung“. Hier lernt der staunende Leser: Friedliche Revolution ist ab sofort ein Eigenname und wird groß geschrieben! Abgesehen davon: Die deutsche Vereinigung ist die eigentliche Befreiung, die von 1945 war nur ein Vorspiel für diese. Aber haben nicht auch dabei die Russen irgendeine Rolle gespielt?

Die schlussendliche Aussage Steinmeiers ist: Am 8. Mai 1945 waren wir „allein“, heute sind wir es nicht mehr. Das stimmt insofern nicht, dass Deutschland, als es zur Welteroberung antrat, mit Italien, Japan, Ungarn, Rumänien, Kroatien, Finnland, Bulgarien und Spanien verbündet war. Schweden und die Schweiz übten wohlwollende Neutralität, bis sich nach Stalingrad das Blatt wendete. Die gemeinte Frage ist, wer sind die Verbündeten, relativ schwache, weit entfernte oder großmächtige? Am Ende macht Steinmeier aus „Nie wieder!“ ein: „Nie wieder allein!“

Das aber ist ein alter Bekannter. Ursula von der Leyen, damals noch für das Kriegswesen zuständige Bundesministerin, hatte gesagt, im Grundsatz gelte: „Immer im Bündnis mit unseren Partnern. Es wird nie einen deutschen Alleingang geben.“ Das wurde 2014 gesagt und bezog sich auf die Rolle Deutschlands bei der Herauslösung der Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands und ihre Überführung in den Machtbereich des Westens, Deutschland inklusive. Eine solche Neuordnung Europas ist ein weitreichender historischer Vorgang. Da sollte – nun gestützt auf EU und USA/NATO – etwas erreicht werden, woran Deutschland in zwei Weltkriegen gescheitert war.

Dass Steinmeier Russland am 8. Mai 2020 mit keinem Wort erwähnte, obwohl es in Gestalt der Sowjetunion die Hauptlast bei der Zerschlagung des deutschen Faschismus trug und es ihre Rote Armee war, die das rote Banner auf dem Reichstag in Berlin hisste, ist insofern kein Zufall. Es ist die ideologische Begleitmusik zur heutigen Neuordnung Europas. Und Dank an die Russen brauchen wir nicht mehr, wo wir uns doch selber für die „innere Befreiung“ danken.

Dieser Beitrag von Erhard Crome ist eine Übernahme aus der soeben erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden. Allerdings haben auch nicht-kommerzielle Projekte Kosten. Daher helfen Soli-Abos zum Bezug als PDF (hier klicken) oder in einem eBook-Format (hier klicken) dem Redaktionsteam bei der Lösung dieser Frage.

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