Was ist Faschismus und wie schlagen wir?

Mit dem Aufkommen der AfD in Deutschland, der Regierung Salvinis in Italien, Bolsonaros in Brasilien und Orbans in Ungarn stellen sich aktuell viele die Frage was ist Faschismus ist. David Albrich geht der Frage nach was Faschismus bedeutet und warum er sich als Revolution darstellt.

Faschismus ist verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Der tiefe Schatten des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts verfolgt uns bis heute: 60 bis 70 Millionen Kriegstote und die Ermordung von elf Millionen Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Zwangsarbeitern, Behinderten, politischen Gegnern. Heute wissen wir: wir, die wir uns heute in der sozialistischen Tradition sehen, hätten diesen Wahnsinn verhindern können.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki lieferte mit seiner grundlegenden Analyse des klassischen Faschismus der Zwischenkriegszeit eine der größten Errungenschaften des Marxismus – und eine praktische Anleitung, wie der Faschismus hätte geschlagen werden können. Er argumentierte Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre, als unterschiedliche faschistische Kräfte im Zuge der Weltwirtschaftskrise Anspruch auf die Macht erhoben, dass vom Faschismus eine besondere Gefahr für die Arbeiterklasse und die Unterdrückten ausgeht, selbst wenn man ihn mit anderen Formen totalitärer Herrschaft vergleicht.

Seine Erkenntnisse sind für Antifaschisten heute unerlässlich: Noch vor dem Einmarsch der deutschen Armee in Polen und der „Wannseekonferenz“, auf der die Führer des NS-Regimes und die SS die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden beschlossen und koordinierten, sah Trotzki im Dezember 1938 voraus: „Man kann sich leicht vorstellen, was die Juden schon zu Beginn eines zukünftigen Weltkriegs erwartet. Aber auch ohne Krieg bedeutet die weitere Entwicklung der Weltreaktion fast mit Zwangsläufigkeit die physische Vernichtung des Judentums.“

Im Wesentlichen erkannte Trotzki, dass der Faschismus nicht das unmittelbare Instrument der großen Banken und Konzerne zur Rettung des Kapitalismus war, wie es das unanfechtbare Dogma des Stalinismus besagte. Deren Theoretiker Georgi Dimitroff drückte 1935 diese krude Lehre in seinem Bericht an den VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale so aus (eine Rede, die bis heute unter Linken äußerst populär ist): „Der Faschismus ist die Macht des Finanzkapitals selbst.“

In dieser Darstellung fungierte der Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler, als bloße Marionette des Großkapitals. Im Gegensatz dazu machte Trotzki in seiner Studie eine Reihe voneinander abhängiger, widersprüchlicher (dialektischer) Momente aus und beschrieb den Faschismus als konterrevolutionäre Massenbewegung des verzweifelten Kleinbürgertums.

Extreme Konterrevolution

Faschismus zielt auf die dauerhafte Zerschlagung aller Arbeiterorganisationen ab, sowohl der revolutionären als auch der konservativen. Dies geht weit über Repression und Terror oder die Liquidierung der militantesten Schichten der Arbeiterklasse hinaus, wie in „bloßen“ Polizei- oder Militärdiktaturen. Faschismus verkörpert die extremste Form der Konterrevolution.

Trotzki

1932 schrieb Trotzki in Was nun?: „Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. […] Dazu ist die physische Ausrottung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören und die Ergebnisse eines dreiviertel Jahrhundert Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu vernichten.“

Trotzki appellierte vergeblich an die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). „Die faschistischen Herrschaften schrecken uns nicht. Sie werden rascher abwirtschaften als jede andere Regierung“, fasste der KPD-Abgeordnete Hermann Remmele die katastrophale Haltung der Kommunisten in einer Reichstagsrede zusammen. Die kommunistischen Führer lagen dem fatalen Irrtum auf, dass sich der Faschismus an der Macht – als eine bloße weitere Form autokratischer Herrschaft – von alleine entlarven würde, ehe man selbst zum Zug kam (und unterließen es unter anderem deshalb, mit der SPD-Führung eine gemeinsame Einheitsfront zu bilden).

Innerhalb von nur vier Monaten nach der Machtübernahme am 30. Jänner 1933 verboten und verfolgten die Nazis mit ihrem Terror nicht nur die KPD, sondern auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Die im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) vereinten freien Gewerkschaften wurden samt den christlichen Gewerkschaften von den Nazis übernommen und hörten auf, als unabhängige Organisationen zu existieren. Die Nationalsozialisten erledigten erfolgreich, wovor Trotzki unablässig warnte: „bis aufs Fundament alle Einrichtungen der proletarischen Demokratie zu zerstören“.

Unabhängige Massenbewegung

Zur Bewerkstelligung dieser historischen Aufgabe war mehr nötig als die üblichen Instrumente autoritärer Herrschaft, also die Polizei, Armee, Geheimdienste… Hitler brauchte dazu eine eingeschweißte paramilitärische Truppe von Fanatikern, welche die Macht auf der Straße gegen die Linke erobern und sämtliche vom Staat unabhängigen Organisationen zerschlagen konnte. 1930, als die Nazis den Durchbruch bei den Wahlen schafften, zählte die Sturmabteilung (SA), der paramilitärische Flügel der NSDAP, bereits 100.000 Mann. Sie wuchs bis 1933 auf 400.000, während die Mitgliedszahlen der Nazipartei von unter 100.000 im Jahr 1928 auf 850.000 im Jahr 1933 explodierten.

Die „Volksgemeinschaft“ – das völkische Ideal einer harmonischen, konfliktfreien Gemeinschaft, in der das „nationale“ Kapital und die Arbeit unter einem charismatischen Führer versöhnt wären und in der die kleinen und mittleren Betriebe nach der tiefen Wirtschaftskrise wieder den Ton angeben würden – diente den Nazis als ideologisches Bindemittel, das die Bewegung zusammenschweißen sollte. Dieses reaktionäre Utopia (das im Übrigen nie wirklich durchgesetzt werden konnte), erforderte, dass jene Kräfte, die diese Fiktion gefährden, ausgelöscht werden: Organisationen, die „Klassenkampf“ betreiben; liberale demokratische Institutionen, die dies dulden; und Kräfte, welche die Nazis als „Fremdkörper“ betrachteten – Jüdinnen und Juden, „Asoziale“, Homosexuelle…

Trotzki argumentierte, dass sich der Kern dieser Bewegung aus dem verzweifelten Kleinbürgertum rekrutierte, das auch dessen Dynamik bestimmen würde: kleine Ladenbesitzer, Handwerker, von Großbetrieben, unabhängige Techniker, höhere Angestellte, untere und mittlere Offiziere…, die zwischen den beiden Hauptklassen, insbesondere der organisierten Arbeiterklasse und dem Großkapital stehen. In Zeiten schwerer Krisen droht diesen Schichten, zwischen Bourgeoisie und Proletariat aufgerieben zu werden, und sie werden von Panik ergriffen.

Trotzki fragte in Portrait des Nationalsozialismus (1933), was zu tun wäre, damit es dem Kleinbürgertum wieder besser gehe: „Vor allem die niederdrücken, die unten sind. Kraftlos vor den großen Wirtschaftsmächten hofft das Kleinbürgertum, durch die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen seine gesellschaftliche Würde wiederherzustellen.“ Der Aufbau einer solchen unabhängigen reaktionären Massenbewegung gibt dem Faschismus eine relative Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse.

Revolutionäre Verkleidung

Um eine kleinbürgerliche Bewegung zusammenzuhalten, griffen die Nazis nicht nur „marxistische“ Organisationen an, sondern bedienten sich auch einer pseudo-antikapitalistischen Rhetorik und riefen zu einer „nationalen Revolution“ gegen das Großkapital und das „reaktionäre“ politische Establishment auf. Ihre Sprache war dabei stets selektiv, niemals stellten die Nazis das kapitalistische System grundsätzlich infrage.

Ihr antisemitisches Weltbild unterschied zwischen gesunden deutschen Unternehmen und Banken (dem „schaffenden Kapital“), die dem nationalen Interesse dienen, und spekulativen, jüdischen Eigentümern und Geldbesitzern (dem „raffenden Kapital“), die das Volk „ausbeuten“.

Der britische Marxist Alex Callinicos fasste diese Widersprüchlichkeit in Ausloten der Abgründe – Marxismus und der Holocaust folgendermaßen zusammen: „Der Nationalsozialismus als entwickelte Form des Faschismus ist Konterrevolution im Gewand der Revolution.“ Eine derartige Rhetorik musste den Herrschenden in Zusammenhang mit einer unkontrollierbaren, unabhängigen Massenbewegung, die außerhalb der staatlichen Strukturen entstand, einen gewaltigen Schrecken einjagen – ganz unabhängig davon, welche Unterstützung Hitler vor der Machtübernahme von einzelnen Kapitalisten erhielt.

Tatsächlich fürchteten die Machthaber Deutschlands, dass sich die SA nicht nur gegen die Arbeiterbewegung und jüdische Unternehmen richten könnte, sondern umfassender gegen die herrschende Klasse selbst, und dass heftige Kämpfe mit der Arbeiterklasse Rebellionen von unten entfachen könnten, wie schon beim Kapp-Putsch 1920, einer versuchten Machtübernahme konterrevolutionärer Freikorps.

Genau diese Gegenbewegung erfasste Frankreich 1934-36, als die Werktätigen mit Massenmobilisierungen auf den Sturz der Linksregierung unter Édouard Daladiers durch rechtsradikale, paramilitärische „Ligen“ reagierten. Oder 1936 die Revolte spanischer Arbeiterinnen und Arbeiternach dem Putsch von General Franco gegen die spanische Volksfrontregierung.

Trotzki argumentierte bereits 1926 mit der Erfahrung des italienischen Faschismus: „Doch die Bourgeoisie liebt die ‚plebejische‘ Lösung ihrer Aufgaben nicht […] Die Erschütterungen, die das mit sich bringt, sind für sie, obwohl sie im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft liegen, mit Gefahren verbunden. Daher der Gegensatz zwischen dem Faschismus und den herkömmlichen bürgerlichen Parteien … Die Großbourgeoisie liebt den Faschismus ebenso wenig wie ein Mensch mit kranken Kiefern das Zahnziehen.“

Reichspräsident Hindenburg soll noch vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gesagt haben: „Den mache ich höchstens zum Postminister; da kann er mich auf der Briefmarke lecken, aber von hinten.“ Hindenburg zierte damals die Briefmarken.

Alles auf die braune Karte zu setzen, war für die herrschende Klasse mit enormen Risiken verbunden. Das schiere Ausmaß der wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Krise Deutschlands und die Tatsache, dass es mit der Nazi-Bewegung Ende 1932 bereits wieder bergab ging, zwang sie letztlich, Hitler die Macht auszuhändigen.

Aufhaltsamer Aufstieg

Um diese Widersprüchlichkeiten zu beherrschen, setzten die Nazis auf eine Doppelstrategie: sie kombinierten den Aufbau einer Kampforganisation, einer paramilitärischen Straßenbewegung, die imstande sein sollte, das politische System der Weimarer Republik über den Haufen zu werfen und zu gegebenem Zeitpunkt Terror zu verbreiten, mit einer Wahlbewegung, die ihnen Respektabilität verschaffen, Zweifel der Herrschenden zerstreuen und die politischen Gegner einschläfern sollte.

Nach dem gescheiterten organisierten Putschversuch 1923, dem sogenannten „Marsch auf die Feldherrnhalle“ in München, bei dem die Polizei auf die Nazi-Bewegung schießen ließ, orientierte Hitler die NSDAP auf den Aufbau einer legalen Wahlbewegung um. 1930 sagte er im Zuge des „Ulmer Reichswehrprozesses“ rückblickend: „Ich habe damals schärfste Erlasse herausgegeben, die die absolute Waffenlosigkeit der Sturmabteilungen anordneten“, aber „natürlich wird die politische Bewegung, die die Macht im Staate mit legalen Mitteln erobern will, an die Spitze ihres Programms den Wehrgedanken stellen. […] Dann muss es zur nationalsozialistischen Erhebung kommen, und wir werden den Staat so gestalten, wie wir ihn haben wollen.“

Hitlers taktische Manöver, etwa eine gemeinsame Kampagne gegen den „Young-Plan“ (der die Reparationszahlungen Deutschlands neu ordnen sollte) mit der größten konservativen Partei, der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), stießen dabei durchaus auf Widerstand in der Partei, vor allem unter jenen, die keinerlei Kompromisse eingehen wollten.

Die höchste Spannung zwischen der Suche nach Respektabilität, dem Verstecken der wahren Absichten, und der Notwendigkeit, die Unabhängigkeit und den konterrevolutionären Radikalismus zu bewahren, erzeugte permanent Konflikte innerhalb der Nazi-Bewegung. Trotzkis brillante Analyse hätte es einer vereinten antifaschistischen Bewegung – einer Einheitsfront von SPD und KPD (ihrer Anhänger, Mitglieder und der Parteispitzen) – erlaubt, ebenjene Schwachstellen auszumachen, in diese Kerben zu schlagen und Hitler aufzuhalten.

Leider waren die politischen Hürden zwischen den beiden größten Arbeiterorganisationen der Welt damals scheinbar unüberbrückbar: Die KPD bezeichnete die SPD als „gemäßigten Flügel des Faschismus“, und die Sozialdemokraten sahen ihrerseits in den Kommunisten und den Nazis die gleich große Gefahr. Wir dürfen diese Fehler nicht wiederholen.

Der Artikel erschien in der neuen Ausgabe der Linkswende


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