Arbeitsamt trotz Abschluss

Vor zehn Jahren wurde ständig über die „Generation Praktikum“ diskutiert. Heute spricht kein Mensch mehr darüber. Doch hat sich die Lage wirklich so sehr verändert, fragt sich Dorian Tigges.

Jule S. (26) hat gerade ihr Studium in Sozialwissenschaften an der HU Berlin abgeschlossen. Wegen der hohen Miete für ihre WG in Charlottenburg musste sie während des Studiums in einer nahe gelegenen Bar jobben. Neben ihrem Studium hatte sie daher ziemlich wenig Zeit am Wochenende auszugehen oder mal entspannt ein Buch zu lesen. Sie würde das gerne ändern.
Aber daraus wird vorerst nichts: nach einigen erfolglosen Bewerbungen als Human Ressources Managerin, Pressesprecherin und Leiterin einer Jugendhilfeeinrichtung ist sie ziemlich gedrückt. Sogar als Parlamentsstenographin im beschaulichen Kiel hatte sie sich beworben. Ist aber alles nichts geworden. In den Bewerbungsgesprächen sagte man ihr, sie habe zu wenig Erfahrung. Woher soll sie die auch haben? Sie sei nach dem Studium zu wenig spezialisiert und auch ihr Englisch sei zu schlecht. Wie auch, beides hat ihre Studienordnung nicht vorgesehen und viel Zeit ließ ihr das arbeitsintensive Studium nicht?

Wenn die Miete steigt, wird es eng

Sie wollte schon aufgeben und sich als Volontärin bei einem größeren Verlag der Stadt bewerben, als sie doch noch eine Zusage bekommt: als Ehrenamtskoordinatorin. Immerhin ein fester Job, auch wenn die Bezahlung nicht allzu gut ist, und sie an den Wochenenden auch arbeiten muss. Eine eigene Wohnung ist finanziell nicht drin. Doch so lange sie sich in ihrer WG wohlfühlt, ist das erstmal kein Problem.
Sie freut sich untergekommen zu sein und muss weiter schauen was noch kommt. Doch wenn die Miete weiter steigt, wird es richtig eng für ihre WG. Die Ungewissheit bleibt. Braucht sie bald einen neuen Job in Berlin oder muss sie dafür in eine andere Stadt ziehen?

Derya S. (28) hat auch mit Problemen zu kämpfen. Mit ihrem Masterabschluss in BWL von der RWTH Aachen fällt es ihr schwer einen richtigen Job zu finden. Zwar gibt es hunderte von Stellenanzeigen auf dem Markt, aber erst nach der zwanzigsten Bewerbung bekam sie überhaupt eine Rückmeldung. Einladungen zu Bewerbungsgesprächen lassen dennoch fürs erste auf sich warten. Sie fragt sich woran das liegen könnte: waren ihre Noten schlecht? Schließlich hat sie ja nur einen Notendurchschnitt von 2,4. Liegt es an ihrem nicht-deutschen Namen oder daran, dass sie eine Frau ist? Schließlich sind die Ansprechpartner bei den Firmen, bei denen sie sich bisher beworben hat, durchweg Männer. Sie weiß es nicht. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ihr die mehrjährige Berufspraxis fehlt..

Zu migrantisch oder zu weiblich?

Wie Jule und Derya geht es vielen BerufseinsteigerInnen. Unbezahlte Praktika haben heute zwar ihre Bedeutung verloren, das heißt aber nicht, dass es für AbsolventInnen heute einfacher wäre als vor zehn Jahren. Vielmehr sind die Jobs, die nach dem Studium zu bekommen sind, besonders für GeisteswissenschaftlerInnen, oft befristet und schlecht bezahlt. Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft erhielt 2012 fast jeder zehnte Akademiker einen Bruttolohn von ca. 9,30€. Rund die Hälfte aller AbsolventInnen erhält direkt nach dem Studium nur einen befristeten Arbeitsvertrag – bei den Geisteswissenschaften sind es sogar drei Viertel. Zudem wird von AbsolventInnen in der Regel eine hohe Flexibilität gefordert. Flexibilität, das heißt zum Beispiel arbeiten am Wochenende, kaum Kündigungsschutz, ständige Erreichbarkeit und vieles mehr. Eine Familie zu gründen, ein zeitaufwendiges Hobby oder politisches Engagement aufrechtzuerhalten, ist unter diesen Bedingungen kaum möglich.

Unsicherheit bereitet Schmerzen

Die Jobperspektiven nach dem Studium sind mit Blick auf die Bezahlung, auch durch Einführung des Mindestlohns, besser geworden. Doch berufliche Unsicherheit oder Flexibilität haben zugenommen. Das hat auch Folgen für die Gesundheit. Jeder zehnte Berufstätige unter 30 Jahren leidet laut Studien der Krankenkassen DAK, TK und AOK unter Schmerzen ohne organische Ursachen, meist begleitet von Burn-out und Depressionen.

Derya hat es inzwischen aufgegeben einen festen Job zu suchen. Sie hätte vielleicht einen bekommen können, aber dafür aus Aachen wegziehen müssen. Doch dann müsste sie eine Fernbeziehung mit ihrer Freundin führen. Das kommt für sie nicht in Frage. Jetzt hält sie sich mit Nebenjobs über Wasser, hofft aber dennoch weiter auf einen Job in der Nähe.

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4 Antworten

  1. Wie wäre es wenn ihr auch mal über Leute ohne Studienabschluß schreibt!
    Ich habe schon viele Tausend Bewerbungen geschrieben zu 90 % bekommt man keine Reaktionen von den Firmen und Behörden usw. Wenn man welche bekommt sind das meist nichts sagende meist auch noch zu tiefst beleidigende absagen, besonders wenn sie aus dem Öffentlichen Dienst kommen.

    Sozialwissenschaftler und Human Ressources Managerin == Menschenverachtender geht ja auch kaum!
    Das sind doch genau die Leute die die Neoliberale Ideeologie erst umsetzbar gemacht haben!
    Darüber gibt auch bücher die geschireben wurden! Außer dem empfehle ich mal Mausfeld!

    Wer sich dennoch dafür entscheidet der muss eben damit leben wie er von seines gleichen behandelt wird!
    https://arbeitsunrecht.de/

  2. „Derya hat es inzwischen aufgegeben einen festen Job zu suchen. Sie hätte vielleicht einen bekommen können, aber dafür aus Aachen wegziehen müssen.“

    Tja selbst schuld, Derya.
    Heute muss man flexibel sein.

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