Biden-Plan: Welche Rolle spielt die US-amerikanische Linke?

Joe Biden galt nie als links. Seit er 1972 zum US-Senator gewählt wurde, stimmte Joe Biden für die Deregulierung der Banken, die Ausweitungen von Polizei und Gefängnissen sowie die Kürzung des Arbeitslosengeldes (Vox). Doch schon 100 Tage nach seinem Amtsantritt sprechen Beobachterinnen und Beobachter von einem “US-Amerikanischen Paradigmenwechsel” und vergleichen Bidens Politik mit dem New Deal von Franklin Delano Roosevelt (FDR). Was steckt dahinter?

Im Mittelpunkt der Diskussion stehen Bidens drei „Build Back Better“-Konjunktur- und Investitionspakete, mit einem Umfang von mehr als sechs Billionen Dollar in den nächsten acht Jahren.

  1. Der American Rescue Plan trat am 11.03.21 in Kraft. Das 2,3 Billionen-Rettungspaket enthält Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, Direktzahlungen an die Mehrheit der US-Bürgerinnen und – Bürger, Sonderzahlungen zur Aufstockung der Arbeitslosenversicherung sowie Steuererleichterungen für Familien mit Kindern.
  2. Der American Jobs Plan wird aktuell im Senat verhandelt. Der Plan sieht Investitionen in historischer Größe (ca. 1,7 Billionen Dollar) in grüne und soziale Infrastrukturen vor. Mit der großen Summe sollen Straßen und Brücken repariert, Ausgaben für den öffentlichen Nahverkehr verdoppelt, öffentliche Gesundheitsvorsorge durch Medicaid erweitert, grüne Energien und Technologien gefördert, Breitbandinternet in ländliche Regionen gebracht, bezahlbarer Wohnraum geschaffen sowie weitere Infrastrukturprojekte unterstützt werden. Hervorzuheben sind die neue Definition von Infrastruktur, die auch die “human infrastructure” wie Kinder- und Altenpflege beinhaltet, sowie das Ziel, bis 2035 die USA mit 100 Prozent erneuerbaren Energien zu versorgen. Bemerkenswert ist auch, dass mindestens 40 Prozent aller Gelder in unterprivilegierte und abgehängte Kommunen fließen sollen.
  3. Im American Families Plan schlägt Joe Biden große Reformen in der Familien- und Bildungspolitik vor. Unter anderem will er das kostenlose staatliche Schulsystem um zwei Jahre Vorschule und zwei Jahre Community College erweitern, einen 15 Dollar-Mindestlohn für Kinderpflegerinnen und Kinderpfleger festlegen, Familien mit 3.000 Euro pro Kind im Jahr unterstützen und ein Krankengeld sowie bezahlte Elternzeit von zwölf Wochen einführen.

Finanziert werden sollen die drei Pläne durch unterschiedliche Steuern über die nächsten 15 Jahre.

  1. Durch eine globale Mindeststeuer von 15 Prozent sollen Steueroasen ausgetrocknet und Steuerschlupflöcher geschlossen werden. Multinationale Konzerne sollen in den USA mindestens 21 Prozent Steuern zahlen.
  2. Trumps Steuersenkungen sollen teilweise rückgängig gemacht werden: Menschen mit einem Einkommen über 400.000 Dollar zahlen wieder 39,6 statt 37 Prozent Einkommenssteuer und Unternehmen werden mit 28 statt 21 Prozent besteuert. Biden erhöht jedoch nicht auf das Vor-Trump-Niveau von 35 Prozent.
  3. Eine progressive Kapitalertragsteuer für Menschen mit einem Einkommen über einer Million Dollar wird eingeführt. Sie zahlen nun 43,4 anstatt 23,8 Prozent.
  4. Die Verfolgung von Steuerhinterziehung wird ausgebaut.

Die drei Biden Pläne können nur in ihrem zivilgesellschaftlichen und politischen Kontext verstanden werden. Wie kam es dazu?

Druck von der Straße…

US Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler beschreiben das letzte Jahrzehnt als einen “Wendepunkt für sozialen Wandel” (NYT). Es war die Dekade mit der höchsten Protestbeteiligung in der US-amerikanischen Geschichte . Umfragen zufolge nahmen 26 Millionen Menschen an den Black Lives Matter-Protesten teil, fünf Millionen am Women’s March 2017, und Hunderttausende mehr für Klimagerechtigkeit, indigene Landrechte, einen 15 Dollar-Mindestlohn, Medicare for All, einen Green New Deal und anderen progressiven Bewegungen.

… in die Parlamente

Diese Protestbewegungen bringen in den USA eine neue Generation von linken Politikerinnen und Politiker hervor. Die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) begann ihr politisches Engagement bei einem Protest für indigene Landrechte und auch ihre Kongresskolleginnen, bekannt als „The Squad“ (Rashida Tlaib, Ilhan Omar und Ayanna Pressley), haben einen aktivistischen Hintergrund. Sie kommen zum Beispiel aus der Black Lives Matter- oder MeToo-Bewegung (NYT). Sogar die Occupy Wall Street-Bewegung von 2011, die von vielen als Misserfolg angesehen wird, wird von Politikern wie Bernie Sanders und Elizabeth Warren als eine Inspiration für ihre Präsidentschaftskandidatur angeführt (NPR). Mit Wahlkampfslogans wie „Political Revolution“ und „Big Structural Change“ dominierte der linke Flügel der demokratischen Partei die Diskussionen bei den Vorwahldebatten. Diese politische Bewegung, die auch vor dem Wort Sozialismus nicht mehr zurückschreckte, konnte Biden nicht mehr ignorieren.

Sanders sitzt mit am Tisch

Als Biden die demokratische Nominierung im Sommer 2020 gewann, lud er Sanders ein, eine „Unity Task Force“ zu bilden. Die beiden Politiker gründeten sechs Panels zu den Themen Wirtschaft, Klima, Strafjustiz, Bildung, Gesundheitswesen und Einwanderung. Jedes Panel wurde zur Hälfte von Biden und zur Hälfte von Sanders besetzt. Sanders nominierte linke Kongressabgeordnete wie AOC und Pramila Jayapal, aber auch Experten und Aktivisten wie die Modern Monetary Theory Wirschaftswissenschaftlerin Stephanie Kelton, die Gewerkschaftsorganisatorin Sara Nelson, die Anführerin der Sunrise Movement Varshini Prakash und andere Fürsprecher für Justiz-, Bildung- und Einwanderungsreformen. AOC fasste ihre politische Strategie im Task Force in einem Tweet zusammen. „Inside pressure. Outside organizing.“ (Twitter)

Eine entscheidende Rolle

Die Empfehlungen vom Task Force spielen eindeutig in Biden’s Politik eine entscheidende Rolle. Nahezu jedes Ziel, Programm und jede Reform der American Jobs und Families Pläne kann in den 110 Seiten des Unity Task Force Berichts gefunden werden. Dazu gehören das Ziel von 100% erneuerbaren Energie bis 2035, die massiven Investitionen in grüne Infrastruktur, die 40% gezielte Unterstützung für abgehängte Kommunen, das Minimum 12-wöchige Elternzeit und Krankengeld, und die zwei zusätzlichen Jahre kostenlose Vorschule und College, um nur einige zu nennen.

„Die Größe ist enttäuschend“

Allerdings enthalten diese Vorschläge nicht die Höhe der Ausgaben oder Unterstützung für Familien, die sich Sanders und seine Kollegen erhofft hatten. In einem Interview mit CNN nannte Sanders den American Jobs Plan „einen ernsthaften Vorschlag, um ein ernsthaftes Problem anzugehen“, fügte aber hinzu, er hätte mehr gegen Klimawandel und für Familien und Studierende getan. Ocasio-Cortez sagte in einem Interview mit NPR, dass „die Prioritäten richtig sind… aber die Größe des Plans ist enttäuschend.“ Als Gegenentwurf verweisen Mitglieder der progressiven Fraktion auf ihren eigenen Vorschlag, den THRIVE Act, der ähnliche Prioritäten wie die Biden Pläne setzten, aber die fünffache Summe veranschlagen: 10 Billionen Dollar über 10 Jahre. Ein großer Teil des Geldes soll dabei in die „menschliche Infrastruktur“ und in unbezahlte Pflege- und Familienarbeit fließen.

Der schwierige Weg nach vorne

Auch ohne alle Forderungen der Progressiven zu erfüllen, sehen sich der American Jobs und Families Pläne dem harten Widerstand der Republikaner gegenüber. Der führende Republikaner im Senat, Mitch McConnell, versprach, „jeden Schritt des Weges zu bekämpfen“ (CNBC). Obwohl Biden seine Pläne mit seiner hauchdünnen Mehrheit auch ohne die Unterstützung der Republikaner durch den Kongress bringen könnte, hofft er, dass ein parteiübergreifender Kompromiss es zukünftigen Republikanern schwieriger machen wird, seine Pläne zu demontieren. Denn selbst wenn die Pläne vom Kongress beschlossen werden, erfordern die meisten Programme, wie kostenlose Vorschulen und Colleges, immer noch die Kooperation der Bundesstaaten. Genau wie republikanisch kontrollierte Bundesstaaten Obamacare blockierten, könnten die Staaten sich einfach weigern, die von Biden angebotenen Bundesmittel anzunehmen.

Biden der Optimist

Bidens Strategie ist es, den Republikanern ein Angebot zu machen, das sie nicht ablehnen können, da sie im Laufe der Zeit von ihren Wählerinnen und Wählern dazu gedrängt werden es zu akzeptieren. Wie bei Obamacare gaben die meisten Republikaner nach zehn Jahren gerichtlicher Auseinandersetzungen den Kampf gegen die Medicaid-Erweiterungen auf, weil die zusätzliche Gesundheitsversorgung jetzt ihren Wählerinnen und Wählern zugutekommt (Atlantic). Es wird die Aufgabe der lokalen Gemeinden, Aktivistinnen, Aktivisten und der Zivilgesellschaft, die Republikaner in ihren Bundesstaaten zu zwingen, Bidens Pläne umzusetzen. Je mehr die republikanischen Wählerinnen und Wähler die Vorteile der Pläne erkennen, desto unbeliebter wird die republikanische Blockadehaltung.

Es gab nicht nur einen New Deal

Es gibt große Gemeinsamkeiten der Probleme und Konflikte, denen sich Bidens Plänen und FDRs New Deal gegenübersehen. Nach den 1920er Jahren, einem Jahrzehnt bis dahin beispielloser Proteste und Arbeiterstreiks, wurde FDR mit dem Versprechen gewählt, er werde „die bestehenden Wirtschaftsordnung in den Dienst des Volkes stellen„. Sein First New Deal im Jahr 1933 führte wichtige Reformen im US-Finanzwesen und in der Landwirtschaft durch, schuf aber nicht den Sozialstaat, von dem die Amerikaner bis heute profitieren. Trotz mehrerer erfolgreicher Klagen von Konservativen vor dem Supreme Court gewann der First New Deal die Unterstützung der Republikaner im Kongress und machte FDR weithin populär. Ermutigt vom Fortschritt aber enttäuscht über den begrenzten Umfang, erhöhten Aktivistinnen und Aktivisten den Druck. Im Jahr 1934 streikten über 1,5 Millionen Arbeiter, um bessere Löhne und die Errichtung eines Sozialstaats zu fordern. Erst dann verabschiedete FDR 1935 den Second New Deal, der Social Security, wesentliche Gewerkschaftsrechte (Wagner Act) und massive Arbeitsbeschaffungsprogramme (WPA) beinhaltete. Dies ist der New Deal, an den wir uns heute in den Geschichtsbüchern erinnern.

Bidens Pläne sind kein New Deal. Noch nicht.

Sicherlich sind die Biden-Pläne Investitionen in historischer Größe „im Dienste des Volkes“, aber sie reichen bei weitem nicht an den Umfang von Sanders „politischer Revolution“ heran, um Einkommensungleichheit und Klimawandel anzugehen. In den Verhandlungen mit den Republikanern im Senat kürzte Biden schon die Infrastruktur-Ausgaben um ein Drittel. Wenn die Republikaner sich weiterhin durchsetzen, werden Bidens Pläne niemals mit einem New Deal vergleichbar sein. Aber Biden ist erst seit einem halben Jahr Präsident.

„Gehen Sie raus und sorgen Sie dafür, dass ich es mache“

Die Geschichte besagt, dass sich FDR während der massiven Streiks im Jahr 1934 mit Gewerkschafts- und Bürgerrechtsorganisatorinnen zusammensetzte, um deren Forderungen zu diskutieren. Nachdem er zugehört hatte, schloss er das Treffen mit den Worten: „Okay, Sie haben mich überzeugt. Jetzt gehen Sie raus und sorgen Sie dafür, dass ich es mache.“ Hinter Bidens Politik scheint ein ähnliches Kalkül zu stecken. Er hat sich mit dem Sanders-Lager der Demokratischen Partei getroffen, zugehört und ihre Prioritäten als seine eigenen übernommen. Er scheint davon überzeugt zu sein. Jetzt muss die Linke aber hinausgehen und dafür sorgen, dass er es auch macht.

Neil Doughty kommt aus Texas, USA und arbeitet im Bundestagsbüro des Linken-Abgeordneten Alexander Ulrich. Er ist aktiv im Sunrise Movement.

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