10 Jahre Arabischer Frühling in Ägypten – einmal Revolution und zurück

Vor zehn Jahren fegten Revolutionen Langzeit-Diktatoren wie den ägyptischen Hosni Mubarak und den tunesischen Ben Ali aus dem Amt. Als ich im September 2012 nach Ägypten reiste, spürte ich, wie die Erfahrungen der Revolution den Menschen neue Hoffnung und Energie gaben. Das drückten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Frauenrechtsaktivistinnen, Menschenrechtsaktivistinnen sowie Straßenverkäufer und andere Arbeiterinnen und Arbeiter aus, mit denen wir ins Gespräch kamen.

Der ägyptische Aktivist Hossam El-Hamalawy beschreibt die Tage der ägyptischen Revolution gegenüber marx21: „Jahrelang träumten die Menschen vom Sturz Mubaraks (…). Jetzt übernahmen Millionen von Menschen die Kontrolle über ihr Leben und ihre Stadtviertel. Sie verbarrikadierten die Straßen und vertrieben die Polizeikräfte (…). Der sogenannte ‚Freitag des Zorns‘ am 28. Januar war einer der glorreichsten Tage in der Geschichte Ägyptens.“

Vorläufige Niederlage der Revolution

Die Forderungen der Revolutionäre sind bis heute jedoch nicht eingelöst. Der Militärputsch und die Machtübernahme durch den ehemaligen Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi 2013 markierten eine vorläufige Niederlage der Revolution. Die konterrevolutionären Kräfte um das Militär und al-Sisis unterstützende Eliten konnten ihre Macht ausbauen und das Regime stabilisieren. Daran wirkt auch die deutsche Bundesregierung mit: Bereits unter Hosni Mubarak war Ägypten ein wichtiger Partner der deutschen Bundesregierung in der Migrationsabwehr und dem Kampf gegen den „internationalen Terrorismus“ – im Namen der „Stabilität“ wurde militärische und polizeiliche Aufbauhilfe geleistet. Mit dem Sisi-Regime wird dieser Kurs ungebrochen weitergeführt.

Beispiellose Repression

Inzwischen befinden sich vermutlich mehr als 60.000 politische Gefangene in Haft. Folter ist weitverbreitet, Hunderte Menschen sind „verschwunden“. Unhaltbare Zustände in den Gefängnissen haben sich mit der COVID-19-Pandemie weiter zugespitzt. Human Rights Watch spricht von 14 an COVID-19 verstorbenen Gefangenen.

Auch international vernetzte Organisationen sind Ziel staatlicher Willkür. Ende 2020 wurden die Wissenschaftler Gasser Abdel-Razek, Mohamed Basheer und Karim Ennarah von der Egyptian Initiative for Personal Rights verhaftet. Nach knapp drei Wochen wurden sie wieder freigelassen. Zuvor hatten sie sich mit Vertretern europäischer Botschaften, darunter auch der deutschen, zu einem Briefing zur Menschenrechtslage in Ägypten getroffen. Im Februar 2016 wurde der italienische Student Giulio Regeni mit schweren Folterspuren an einer Straße am Stadtrand von Kairo aufgefunden. Das sind zwei der prominenteren Beispiele, die nicht nur in der deutschen Medienlandschaft für Aufruhr sorgten und Regierungssprecher europaweit in Erklärungsnot brachten. Doch die Schicksale von Regeni, Abdel-Razek, Basheer und Ennarah teilen unzählige Ägypterinnen und Ägypter, deren Namen unbekannt bleiben werden.

Auf Basis zunehmender Cyberüberwachung werden regelmäßig Hafturteile wegen Verletzung der „öffentlichen Moral“ ausgesprochen. Davon betreffen sind vor allem Frauen und Mitglieder der LGTBQ-Community. Es kommt regelmäßig zu sexualisierter Gewalt, Misshandlungen und Folter auf Polizeirevieren. Zivile Sicherheitskräfte unterwandern regelmäßig von ihnen als unmoralisch deklarierte Communitys. Nachdem auf einem Konzert der libanesischen Band Mashrou’ Leila Regenbogenflaggen geschwenkt wurden gab es eine der größten Razzien. Die Sicherheitskräfte nahmen 75 Menschen fest. Die NGO Bedayaa dokumentierte für 2019 mehr als 90 Festnahmen.

Gemeinsam mit anderen Abgeordneten des Bundestags und des Europäischen Parlaments habe ich in einem Solidaritätsaufruf auf das Schicksal von sechs Sozialistinnen und Sozialisten aufmerksam gemacht, die sich in ägyptischen Gefängnissen befinden, und fordere ihre Freilassung sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen.

Auf dem Sinai geht die ägyptische Armee seit Jahren im Namen eines „Kriegs gegen den Terror“ brutal gegen vermeintlich Aufständische vor. Videos belegen, wie das ägyptische Militär unbewaffnete Männer hinrichtet. In der Stadt Rafah sprengt die Regierung Häuser entlang der Grenze zum Gazastreifen, um das Palästinensergebiet effektiver abzuriegeln. Über 1.000 Familien wurden obdachlos. Die Menschen vor Ort sehen sich einem „Krieg gegen Zivilisten“ ausgeliefert.

Die Bundesregierung – Partner in Crime

Dessen ungeachtet stärkt die Bundesregierung dem Sisi-Regime den Rücken – militärisch, wirtschaftlich und mit dem Bundesverdienstkreuz. Dieses erhielt im November 2020 der Repräsentant der ägyptischen Militärdiktatur und ehemalige ägyptische Botschafter in Berlin, Badr Abdelatty, für seine „Bemühungen“.

Deutschland ist – nach China – Ägyptens zweitgrößter wirtschaftlicher Partner. Von besonderer Bedeutung ist für die deutsche Exportorientierte Wirtschaft der Suezkanal. Nach dem Militärputsch 2013 erhielt die ägyptische Militärdiktatur milliardenschwere Unterstützung aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Kuwait. Riesige Investitionen im Energiesektor und in Bauprojekte standen in Aussicht. Deutsche Unternehmen hofften, sich daran beteiligen zu können. Die Bundesregierung spielte hier Vermittlerin: 2015 bahnte der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) auf einer internationalen Investorenkonferenz für Siemens mit der ägyptischen Militärdiktatur einen der größten Aufträge in der Geschichte des Unternehmens an. Bei weiteren Staatsbesuchen wurde der Deal finalisiert.

Die deutsche Rüstungsindustrie verdient jährlich Millionen mit Waffen und Rüstungsgütern, die in die Militärdiktatur exportiert werden – von der Bundesregierung „nach eindringlicher Prüfung“ genehmigt. Bei den Einzelausfuhrgenehmigungen, also sämtlichen Rüstungsexporten inklusive der Kriegswaffen, lag Ägypten im Jahr 2020 mit 751,5 Millionen Euro auf dem ersten Platz aller Empfängerländer. Die Bundesregierung ließ sich weder durch den brutalen Krieg im Jemen, den al-Sisi im Rahmen der saudisch geführten Koalition unterstützt, von ihrem Kurs abbringen. Noch beunruhigt sie der Bürgerkrieg im benachbarten Libyen, in den das ägyptische Militär bereits intervenierte.

Letztes Jahr wurde das letzte von insgesamt vier U-Booten von Thyssen Krupp Marine Systems an Ägypten ausgeliefert. Im November packte die Bundesregierung noch zehn Marineboote für die ägyptische Küstenwache obendrauf. Diese sollten ursprünglich nach Saudi-Arabien gehen. Aufgrund dessen Beteiligung am Jemen-Krieg verhängte die Bundesregierung allerdings einen vorübergehenden Rüstungsexportstopp nach Saudi-Arabien. Nun gab sie grünes Licht für den Export nach Ägypten. Der derzeitige ägyptische Botschafter in Berlin, Khaled Galal Abdelhamid, versteht das als „Vertrauensbeweis“.

Um Ägypten als „Vorposten einer europäischen Sicherheitspolitik“ aufzubauen, ratifizierte der Bundestag 2017 das bilaterale „Abkommen über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich“. Es folgt der zentralen Logik der Migrationsabwehr durch Stärkung der Sicherheitsdienste: So wird beispielsweise zur „Bekämpfung der Schleuserkriminalität“ die grenzpolizeiliche Zusammenarbeit gestärkt, indem etwa die Bundespolizei einen Verbindungsoffizier in Kairo stationiert und Workshops zur Dokumentensicherheit durchführt. Das BKA arbeitet mit dem berüchtigten Staatssicherheitsdienst (NSS) zusammen und bildet ägyptische Beamte aus.

Im September und Oktober 2020 gingen Sicherheitskräfte brutal gegen informelle Siedlungen in armen Gegenden vor und zerstörten zahlreiche Häuser. Auch die massiven sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise und der Austeritätsmaßnahmen nähren den Unmut. Obwohl der Staat jede unliebsame Meinungsäußerung und Widerstand gewaltvoll unterbindet, fanden landesweite Proteste statt.

Der Aktivist Hossam setzt auf diejenigen, die den Widerstand fortsetzen und weiter für soziale Gerechtigkeit kämpfen: Das Ausmaß der Niederlagen in der ersten Welle der Revolution war blutig und zwang Aktivistinnen und Aktivisten, sich im Untergrund zu organisieren. (…) Sie sind dabei, Netzwerke, die zerstört wurden, wieder aufzubauen. (…) Es wird Zeit brauchen, bis es zur Wiederbelebung der Aufstände kommt, aber Revolutionen sind unausweichlich![AM1] 

Damit „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit” Realität für alle Ägypterinnen und Ägypter werden können, muss die deutsche Bundesregierung ihre Unterstützung für al-Sisi beenden.

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