Heute wäre der Schriftsteller, Dramatiker, Maler und Filmemacher Peter Weiss 100 Jahre alt geworden. Sein bekanntestes Werk ist der Jahrhundertroman „Die Ästhethik des Widerstands“, der die abgrundtiefe Trauer, Wut und Verzweiflung über die Geschichte der sozialen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts zeigt.
Eine alte Weisheit unter Autorinnen und Autoren lautet, dass der erste Satz eines Romans heilig ist. Er muss stimmen, er muss treffen, er muss Lust auf den nächsten machen und mitunter gibt er gar noch Aufschluss über den Charakter des kommenden. Auch in der Ästhetik des Widerstands findet sich ein guter, ein besonderer erster Satz: „Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstenen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochaufgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.“
Pergamon und die Götter der Geschichte
Selbst eine wohlwollende Leserschaft sowie Liebhaberinnen und Liebhaber langer Wortschleifen empfinden so einen Satz als einen herausfordernden Brocken. In dieser Diktion wird die Erzählung weiter laufen. Nach ein paar Seiten erfährt man etwas über Ort und Zeit. Erst viele Textblöcke später weiß man mehr zu den Akteuren. Wir befinden uns im September 1937 in Berlin. Ein namenloser Ich-Erzähler, der Arbeitersohn Hans Coppi und der Gymnasiast Horst Heilmann betrachten den berühmten Pergamonaltar. Schicht um Schicht erschließen sich die drei Antifaschisten jede Einzelheit des gewaltigen Frieses. Unablässig rekonstruieren sie dessen Entstehungsgeschichte und entmystifizieren die steinerne Verkleidung. Im kalten Marmor erspüren sie die geschundenen, gallischen Sklavinnen und Sklaven, die zur Entstehungszeit des Altars unter Peitschenhieben den Stein aus den Berghängen schlugen. Die erschöpften Energien übertrugen sie in die Gedanken der steinernen Formen. In diesen erkennen Heilmann, Coppi und der Ich-Erzähler den alten Kampf zwischen Herrschaft und Knechtschaft wieder, der sich als visionärer Vorbote ihres eigenen Ganges durch die faschistische Hölle Europas offenbart. Der Sieg der olympischen Götter über die aufbegehrenden Giganten verdichtet sich für die Protagonisten zum Sinnbild des Klassenkampfes.
Pergamonaltar
Als der erste Band der Ästhetik des Widerstands 1975 erschien, wusste man in Westdeutschland kaum um die Namen, der im Kunstwerk vertieften Betrachter. Hans Coppi und Horst Heilmann gehörten der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ an. Die Gruppe versteckte Regimegegner aus SPD, KPD und Gewerkschaften, verteilte unter Lebensgefahr Flugblätter und rief zum Aufstand auf. Heilmann und Coppi, sowie zahlreiche weitere Mitglieder der Gruppe wurden im Herbst 1942 verhaftet und kurz vor Weihnachten, von den Nazis in Berlin-Plötzensee per Guillotine enthauptet. In Westdeutschland galten sie lange Zeit als Landesverräter, weil sie Informationen an die Sowjetunion weiter gaben. Erst 2009 wurden sie rehabilitiert, als der Deutsche Bundestag die wegen „Kriegsverrates“ gestellten Urteile der NS-Justiz aufhob.
Tastendes Suchen in der Geschichte
Es gibt zahlreiche historische Figuren denen Peter Weiss im Roman ein literarisches Denkmal gesetzt hat. In aller Widersprüchlichkeit bleibt deren gemeinsamer Fluchtpunkt die Befreiung in der langen Geschichte der Klassenkämpfe. Herbert Wehner, Bertolt Brecht, Charlotte Bischoff, Max Hodann – sie alle begegnen uns in der Erzählung, die um den Werdegang des namenlosen, antifaschistischen Ich-Erzählers zwischen den Jahren 1937 und 1945 kreist. Zunächst flieht dieser aus Deutschland, kämpft anschließend im spanischen Bürgerkrieg mit der internationalen Brigade und organisiert sich schließlich im schwedischen Exil.
Der größte Teil der Erzählzeit wird dabei auf die Reflexion und Darstellung von gesellschaftstheoretischer, kunsthistorischer und mythologischer Geschichte verwendet. In den über 100 besprochenen Kunstwerken im Roman, die mitunter Jahrtausende in ihrer Entstehung von den Handelnden getrennt sind, finden die Protagonisten ihre eigenen Kämpfe erzählt und schöpfen daraus Widerstandsfähigkeit. Unter den Verhältnissen der faschistischen Barbarei suchen sie in der Kunst nach den Wundmalen der Gebeugten, nach den Spuren ihres unentwegten Aufbegehrens und ihren unabgegoltenen Hoffnungen. Dieses tastende Suchen in der Geschichte, die schon immer von siegenden Herrschern geschrieben wurde, wird zum emphatischen Lernmittel ihres eigenen Ringens um Selbstbefreiung.
Kunst gegen den Strich behandeln
Es ist ein vielschichtiges Modell der Aneignung von Kunst und Geschichte, welches Peter Weiss im Roman exemplarisch exerziert. Die ästhetische Arbeit der Unterdrückten am Bild ist in der Ästhetik eine zutiefst sinnliche Erfahrung. Bereits hier beginnt Widerstand – als Widerständigkeit der sinnlichen Konkretion gegen die Vereinnahmungen der brutalen Wirklichkeit.
Doch die sinnliche Aneignung von Literatur, Musik und bildender Kunst macht noch anderes erfahrbar. Kunst entsteht in einer konkreten gesellschaftlichen Realität, die durch Klassenwidersprüche geprägt ist. Die im Roman besprochenen Kunstwerke wirken, weil sie keine autonomen Gebilde sind, sondern in ihrer Kompositionsweise verschiedene, mitunter gegensätzliche Positionen und Stile miteinander verflechten. Beginnend unter historisch spezifischen Produktionsverhältnissen, den ästhetischen Verhältnissen und der zeitgenössischen Wirkung, den Bildungsvoraussetzungen der Rezipientinnen und Rezipienten, der Nachgeschichte eines Werkes bis zur Gegenwart, verarbeitet Kunst gesellschaftliche Widersprüche. Wolfgang Fritz Haug nannte dies „verdichtete Gegensätze“. Genauso wie sich in ihr Herrschaftsinteressen offenbaren, finden sich die Momente des Aufstands.
Das Subjekt der Aneignung dieser Widersprüchlichkeit ist die unterdrückte, die kämpfende Klasse selbst. Ihr fällt die Rolle zu die historischen Widersprüche der Vergangenheit in der Gegenwart zu begreifen und als Aufgabe für die Zukunft zu denken. Insofern gibt es bei Peter Weiss kein kulturelles Dokument der Unterdrückung, dass nicht zugleich eines der Befreiung sein kann. Der Kommunist Heilmann bringt es im Roman auf den Punkt: „Wollen wir uns der Kunst, der Literatur annehmen, so müssen wir sie gegen den Strich behandeln, das heißt, wir müssen alle Vorrechte, die damit verbunden sind, ausschalten und unsere eigenen Ansprüche in sie hineinlegen. Um zu uns selbst zu kommen, sagte Heilmann, haben wir uns nicht nur die Kultur, sondern auch die gesamte Forschung neu zu schaffen, indem wir sie in Beziehung stellen, zu dem, was uns betrifft.“
Und dennoch hoffen
Umgeben von der faschistischen Bedrohung, eingeschlossen und in die Ohnmacht gedrängt, mobilisiert jedes sprachliche Ringen, jede Erschließung neuer historischer und kultureller Sinnzusammenhänge die Ausdauer, Zuversicht und den Lebensmut der Akteure im Roman. Jenes überschüssige Denken, das über die Grenzen des gegebenen hinausgeht, bildete im Emanzipationskampf der Erniedrigten und Geknechteten immer eine Quelle der Kraft. Im geschichtlichen Kontinuum der Kämpfe sehen sich die Handelnden damit verbunden, mit allen Menschen, die im großen und kleinen, gegen die Strukturen von gesellschaftlicher Erniedrigung, Abstumpfung und Entfremdung aufbegehrt haben. Eine Gesellschaft der lebendigen Humanität bleibt ihr Fernziel, die als Hoffnung bleibt, eben weil sie fehlt.
In den letzten Zeilen des Romans, viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter sind bereits gefallen, befindet sich der Ich-Erzähler abermals gedanklich vor dem Pergamon Altar. Herakles, der einzige Sterbliche der auf Seiten der Giganten kämpfte, fehlt im Kunstwerk. Nur die Tatze seines Löwenfells macht seinen Platz im Fries vorstellbar. Es ist gerade jene Leerstelle, die ihn zum Sinnbild der historischen Chance auf revolutionäre Veränderung macht: „[…] und es würde kein kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müssten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten“. Brüchig, vielleicht auch spottanfällig, wirkt diese Utopie am Ende platziert. Der Platz zur Befreiung aus den Ketten muss eben erst noch von der Arbeiterklasse besetzt werden.
Momente des solidarischen Aufbegehrens
Mit metaphorischer Sprachgewalt atmet die Ästhetik des Widerstands die abgrundtiefe Trauer, Wut und Verzweiflung über die Geschichte der sozialen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts. Und zugleich erzählt sie von den Momenten des solidarischen Aufbegehrens der Unterdrückten in den letzten Jahrtausenden und der Hoffnung auf die große Erhebung der Klasse aus ihrer Ohnmacht. Die von Weiss thematisierte Marginalisierung linker Erinnerung hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt, sogar verdichtet, und selbst sein Roman ist ihr zum Opfer gefallen. Ein Vergessen mit Ansage. Als Präsident der Akademie der Künste meinte Heiner Müller 1991, Peter Weiss´ Werk werde „Leser und Zuschauer verlieren, weil es nach einer Zukunft greift, deren nächste Erscheinung noch keine Gestalt hat“. Doch in einer Zeit, in welcher der Faschismus erneut erstarkt, die Fluchtbewegungen der Gegenwart die Klassengewalt der Vergangenheit spürbar machen und die internationale Linke um ihre Strategie ringt, wäre die Wiederentdeckung seines Jahrhundertromans ein wichtiger Beitrag zur eigenen Handlungsfähigkeit.
Zum 100. Geburtstag des Autors Peter Weiss präsentieren die Rosa-Luxemburg-Stiftung und das Peter-Weiss-Haus in Rostock die Aktualität der Weiss’schen Widerstandsästhetik: Eine Stafettenlesung des gesamten Buches „Die Ästhetik des Widerstands“ vom 11. bis 13. November 2016 in Rostock. Mehr Infos unter: peterweiss100.de
Ein Beitrag von Robert Plettermann, der zuerst in Marx21 veröffentlicht wurde.
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